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Neuntes Kapitel - Die praktische Anwendung der Meditation - Teil 1

Neuntes Kapitel

Die praktische Anwendung der Meditation

«Es muss bemerkt werden, dass die Doktrin dieses Buches nicht allen Arten von Menschen Anleitungen gibt, sondern nur jenen, die ihre Sinne und Leidenschaften gut im Zaume halten, die im Gebet schon Fortschritte gemacht haben, und die von Gott für den inneren Weg berufen sind, auf dem ER sie ermutigt und leitet, und sie von Behinderungen auf diesem Weg zu vollkommener Kontemplation befreit».

Michael De Molinos: Der Geistige Führer.
 

(199)

Bis hierher waren unsere Erörterungen akademisch und vergleichend, logisch folgernd und andeutend. Es wurde der Weg, den viele gegangen sind, gezeigt und erklärt, und es wurde der Weg zur Erleuchtung betrachtet. Nun aber ist es notwendig, dass wir die praktische Arbeit, die wir selbst tun können, verstehen lernen, denn sonst ginge das ganze angestrebte Ziel unseres Studiums der Meditation verloren, und wir würden nur Verantwortung erhöhen, ohne einen wirklichen Fortschritt auf dem Wege selbst gemacht zu haben.

Hier erheben sich also zwei sachgemässe Fragen, die Aufmerksamkeit verdienen.

Erstens: Kann jemand, der den lebhaften Wunsch hat, diesen Weg zu gehen, durch die Technik der Meditation Nutzen ziehen und diese meistern?

Zweitens: Die Wissenden des Ostens erlangten dadurch Erleuchtung, dass sie sich von der Welt in die Abgeschlossenheit und Stille zurückzogen. Die Lebensbedingungen unserer abendländischen Zivilisation erlauben dies jedoch nicht. Besteht da eine Hoffnung auf Erfolg, auch wenn wir uns nicht in die Einsamkeit, in Wälder und Dschungel, oder in klösterliche Abgeschlossenheit zurückziehen?

Wir wollen jede dieser Fragen vornehmen und sie behandeln. Sie müssen behandelt und beantwortet werden, bevor wir darangehen können, die Meditationsarbeit zu umreissen und die Methode anzugeben, deren Befolgung empfohlen werden kann.

(200) In Beantwortung der ersten Frage bezüglich der allgemeinen Eignung der Aspiranten für dieses schwere und mühevolle Werk sollte man sich gleich von Anfang an vor Augen halten, dass gerade der innere Drang dazu als ein Ruf der Seele, den Pfad der Erkenntnis zu beschreiten, angesehen werden kann. Niemand sollte sich abhalten lassen, auch wenn er entdecken sollte, dass ihm in gewissen Hauptpunkten die notwendigen Eigenschaften fehlen. Die meisten von uns sind tüchtiger und weiser, und auch besser ausgerüstet, als wir annehmen. Wenn wir wollten, könnten wir alle sofort mit der Konzentration beginnen. Wir besitzen eine Menge Kenntnisse, mentale Kräfte und Fähigkeiten, die wir aus dem Reich des Unterbewussten noch niemals hervorgeholt und nutzbar gemacht haben. Jeder, der die Wirkung der Meditation auf den Anfänger beobachtet hat, wird diese Feststellung oft zur Bestürzung des Anfängers, der mit seinen Entdeckungen nichts anzufangen weiss bestätigen. Die Ergebnisse des ersten Schrittes zur Meditation, nämlich der Konzentration, sind oft erstaunlich. Die Menschen «entdecken» sich selbst; sie entdecken in sich verborgene Fähigkeiten und ein Begriffsvermögen, das sie bisher noch niemals benutzt hatten; sie entwickeln ein Wahrnehmungsvermögen sogar für die Erscheinungswelt das ihnen wunderbar erscheint; sie stellen plötzlich fest, dass es tatsächlich ein Denkvermögen gibt, das man sich zunutze machen kann, und der Unterschied zwischen dem Erkennenden und dem Werkzeug des Erkennens, wird immer klarer ersichtlich. Gleichzeitig aber macht sich auch ein Gefühl des Verlustes bemerkbar. Die alten träumerischen Zustände von Gottseligkeit und Friede, die ihnen mystisches Gebet und Meditation beschert hatten, verschwinden; zeitweilig haben sie daher ein Gefühl der Dürftigkeit, des Mangels und der Leere, (201) das oft äusserst bedrückend ist. Es entsteht aus der Tatsache, dass sich das Hauptaugenmerk von den sinnlich erfassbaren Dingen wie schön sie auch sein mögen abwendet. Die Dinge aber, die das Denkvermögen kennt und erfassen kann, werden noch nicht wahrgenommen, und der Empfindungsapparat beeindruckt das Bewusstsein noch nicht in der gewohnten Weise. Es ist eine Übergangsperiode und muss solange ertragen werden, bis die neue Welt auf den Aspiranten Eindruck zu machen beginnt. Das ist einer der Gründe, warum Ausdauer und Beharrlichkeit besonders in den frühen Stadien des Meditationsprozesses so wichtig sind.

Eine der ersten Wirkungen der Meditationsarbeit besteht gewöhnlich in einer höheren Leistungsfähigkeit im täglichen Leben, sei es nun zu Hause, im Beruf oder auf einem anderen Gebiete menschlicher Bestrebungen. Mentale Hingabe an die Pflichten des Lebens ist an sich eine Konzentrationsübung und zeitigt bemerkenswerte Ergebnisse. Ob nun ein Mensch durch Anwendung der Konzentration und Meditation schliesslich die Erleuchtung erlangt oder nicht, eines ist gewiss: er wird auf alle Fälle viel gewonnen und sein Leben sehr bereichert haben; seine Nützlichkeit und seine Kräfte werden ausserordentlich zunehmen und sein Einflussbereich wird sich erweitern.

Allein vom rein weltlichen Standpunkt aus ist es also nützlich, meditieren zu lernen. Wer will bestreiten, dass eine grössere Leistungsfähigkeit im Leben und im Dienst nicht ebensosehr ein Schritt auf dem Pfade geistigen Fortschritts ist wie eine Vision des Mystikers? Die geistigen Ergebnisse mentalen Fleisses in unserer westlichen Geschäftswelt können letzten Endes vielleicht ein ebenso wichtiger Beitrag zur Gesamtsumme (202) geistiger Bemühungen sein wie irgendwelche Auswirkungen aus der Welt organisierter religiöser Bestrebungen. Konfuzius lehrte vor vielen Jahrhunderten, dass die Leistungen der Zivilisation ihrem Wesen nach hochgeistig seien, denn sie sind Endergebnisse von IDEEN; und Hu Shih sagt in seinem interessanten Symposion WOHIN GEHST DU MENSCHHEIT ... «dass eine Zivilisation, die auf der Suche nach Wahrheit von der menschlichen Intelligenz und vom Scharfsinn den grösstmöglichen Gebrauch macht, um die Natur zu beherrschen und Materie zum Nutzen der Menschen umzuwandeln, um den menschlichen Geist von Unwissenheit, Aberglauben und der Knechtung durch die Naturkräfte zu befreien, um soziale und politische Einrichtungen zum Wohle einer grösstmöglichen Anzahl von Menschen zu reformieren, dass eine solche Zivilisation in hohem Masse idealistisch und geistig ist». 

Unsere Vorstellung darüber, was Geistigkeit bildet oder ausmacht, hat sich ständig erweitert. Wir haben gesehen, dass durch Verlangen, Gefühle und infolge der Reaktionen der emotionellen Natur viele Tausende von Menschen an jenem Punkt angelangt sind, wo sie sich getrieben fühlen, Verlangen in Aspiration, Gefühl in Empfindungsfähigkeit gegenüber geistigen Dingen, und Eigenliebe in Gottesliebe umzuwandeln. So kommt der Mystiker zustande.

Infolge der Anwendung des Denkvermögens im Geschäftsleben, bei der Berufsarbeit, in Kunst und Wissenschaft erlebten wir zwei erstaunliche Dinge: In den organisierten Grossunternehmen mit ihren selbstsüchtigen Interessen und materiellen Ideen hat sich ein Gruppenbewusstsein eingestellt; Gruppenbeziehungen und die Interessen der grossen Masse werden zum ersten Male (203) ernsthaft in Erwägung gezogen. Das sind nun rein geistige Ergebnisse; sie deuten auf wachsende Seelen-Bewusstheit hin und sind die schwachen Anzeichen der kommenden Bruderschaft der Seelen. Die angewandte Wissenschaft hat sich auf allen Gebieten jetzt so weit entwickelt, dass sie in das Reich der Energie und der reinen Metaphysik eingedrungen ist. Das Studium der Materie hat uns in das Reich der Mystik und des Transzendenten geführt. Wissenschaft und Religion reichen einander in der Welt des Unsichtbaren und Immateriellen die Hände.

Dies sind Schritte in der rechten Richtung. Sobald sich durch unsere abendländische Technik in der Geschäftswelt (eine gewaltige Konzentrationsschule) die mentalen Fähigkeiten bei den Völkern entwickelt haben, muss unweigerlich eine Umwandlung einsetzen, die der im Bereich der Begierdennatur gleicht, und diese hat sich auch schon öfters vollzogen. Das Denkvermögen kann dann auf die wahren und höheren Werte neu eingestellt und auf eine andere Richtung als die materiellen Lebens, konzentriert werden. Auf diese Weise wird der Wissende in Erscheinung treten.

Daher kann jeder, der nicht ausgesprochen emotionell veranlagt ist, gute Erziehung besitzt und den Willen zu unermüdlicher Arbeit aufbringt, das Studium der Meditation guten Mutes in Angriff nehmen. Er kann beginnen, sein Leben systematisch zu ordnen, so dass die ersten Schritte auf dem Pfad zur Erleuchtung gemacht werden können; diese Umstellung ist eine der schwierigsten Massnahmen. Man muss sich dabei natürlich vor Augen halten, dass aller Anfang schwer ist, denn es müssen die Gewohnheiten und Rhythmen vieler Jahre aufgegeben werden. Wenn aber einmal die ersten Schritte unternommen und gemeistert wurden, wird die Arbeit (204) leichter. Es ist ja auch weit schwieriger, lesen zu lernen, als ein schwieriges Buch zu verstehen.

Die alte Wissenschaft der Meditation die «königliche Strasse zur Vereinigung», wie sie genannt wurde könnte ebensogut die Wissenschaft der Koordinierung (der harmonischen Anpassung) genannt werden. Wir haben bereits durch den Entwicklungsprozess gelernt, die Emotional-Gefühls-Begierdennatur mit dem physischen Körper derart zu koordinieren (in Übereinstimmung zu bringen), dass sich die Zustände automatisch und oft unwiderstehlich einstellen; der physische Körper ist dann einfach ein Automat, ein Werkzeug des Verlangens - hoch oder niedrig - gut oder schlecht - wie der Fall eben liegt. Viele beginnen nun, das Denkvermögen mit diesen beiden in Übereinstimmung zu bringen, und wir sind jetzt im Begriff, diese Gesamtheit, die ein menschliches Wesen ausmacht - die mentale, emotionelle und physische Natur - vermittels unserer gegenwärtigen, weitverbreiteten Erziehungssysteme zu einer Einheit zu verschmelzen. Durch Konzentration und die Anfangsstufen der Meditationstätigkeit wird diese Koordinierung sehr beschleunigt; später folgt dann die Vereinigung des dreifachen niederen Menschen mit einem weiteren Faktor, mit der Seele. Dieser Faktor ist schon immer vorhanden gewesen, genau so wie die Menschen - wenn sie nicht gerade Idioten sind -, seit jeher ein Denkvermögen besitzen; aber dieser Faktor ruht noch, und zwar so lange, bis die richtige Zeit kommt und die notwendige Vorarbeit geleistet wurde. All dies ist nur eine Frage des Bewusstseins. Professor Max Müller sagt in seinem Buche: THEOSOPHIE ODER PSYCHOLOGISCHE RELIGION:

«Wir müssen uns vor Augen halten, dass das fundamentale Prinzip der Vedanta-Philosophie nicht "Du bist ER", sondern "Du bist DAS!" war; und es hiess nicht: Du WIRST SEIN, sondern du BIST. Dieses "du BIST" drückt etwas aus, das ist, das schon immer war und immer (205) sein wird, nicht aber etwas, das erst erreicht werden muss, oder einmal z.B. nach dem Tode kommen soll. ... Durch wahre Erkenntnis wird die individuelle Seele nicht erst Brahman sondern IST bereits Brahman, sobald sie erkannt hat, was sie wirklich ist und immer wahr».

Der Hl. Paulus betont dieselbe Wahrheit, wenn er von «Christus in mir, die Hoffnung auf Herrlichkeit» spricht. Diese innewohnende Realität wird durch das geschulte und konzentrierte Denkvermögen erkannt, und die DREI in EINEM und der EINE in DREIEN sind in der natürlichen Evolution des Lebens Gottes im Menschen erwiesene Tatsachen.

Es ist daher klar, dass die Antwort auf unsere erste Frage folgendermassen lautet:

Erstens: Wir anerkennen die Hypothese, dass es eine Seele gibt, und dass diese Seele von dem Menschen, der sein Denkvermögen schulen und beherrschen kann, erkannt werden kann.

Zweitens: Auf Grund dieser Hypothese beginnen wir die drei Aspekte der niederen Natur zu koordinieren, und den Denk-Emotional und physischen Körper zu einem planvoll organisierten und umfassenden Ganzen zu vereinen. Dies erreichen wir durch methodische Konzentration.

Drittens: In dem Masse, wie die Konzentration in der Meditation (der verlängerten Konzentration) aufgeht, beginnt der Einfluss des Willens der Seele sich auf das Denkvermögen auszuwirken. Ganz allmählich kommen Seele, Denkvermögen und Gehirn miteinander in eine enge Beziehung und Verbindung.

Zuerst beherrscht das Denkvermögen das Gehirn und die emotionelle Natur; dann beherrscht die Seele das Denkvermögen. Ersteres wird durch Konzentration, letzteres durch Meditation zustande gebracht.

Aus dieser Reihenfolge von Aktivitäten wird der interessierte Wahrheitssucher zur Überzeugung gelangen, dass hier wirkliche Arbeit geleistet werden muss, und dass die Haupteigenschaft, (206) die er braucht, AUSDAUER ist. Hier könnte noch bemerkt werden, dass bei der Koordinierung zwei Dinge helfen: Erstens, das Bestreben, die Herrschaft über das Denkvermögen zu erlangen, und zwar durch das Bemühen, ein konzentriertes Leben zu führen. Das für den Mystiker so bezeichnende Leben der Heiligung und Hingabe weicht dem Leben der Konzentration und Meditation, das den Wissenden kennzeichnet. Die Organisierung des Gedankenlebens zu jeder Zeit und überall, und zweitens die Ausübung der Konzentration regelmässig, täglich und wenn möglich zu einer bestimmten Zeit - tragen zu einer zielbewussten Geisteshaltung oder Denkweise bei, und diese beiden zusammen bedeuten Erfolg. Das Erstere erfordert einige Zeit, man kann damit aber sofort anfangen; mit dem zweiten Erfordernis (festgesetzte Konzentrationszeiten) kann man ebenfalls beginnen, doch hängt der Erfolg von zwei Dingen ab: Regelmässigkeit und Beharrlichkeit. Der Erfolg des planvollen Gedankenlebens beruht weitgehend auf Ausdauer, aber auch auf der Anwendung der Vorstellungskraft. Durch diese Imagination nehmen wir die Haltung des Zuschauers, des Beobachters ein. Wir stellen uns im Geiste vor, dass wir der EINE sind, der denkt (nicht fühlt), und wir lenken unsere Gedanken beharrlich und jederzeit in bestimmte, erwählte Bahnen, wobei wir selbst bestimmen, was wir denken wollen; wir verweigern jenen Gedanken den Zutritt, die wir auszuschliessen wünschen, und zwar nicht in der Weise, dass wir sie unterbinden, sondern durch ein starkes Interesse an etwas anderem. Wir erlauben unseren Gedanken nicht, die Welt nach Belieben zu durchstreifen, sich von unseren Gefühlen und Empfindungen oder durch die Gedankenströmungen der Umwelt zur Aktivität hinreissen zu lassen. Wir zwingen uns, allem unserem Tun volle Aufmerksamkeit zu schenken: sei es, dass wir ein (207) Buch lesen, dass wir unsere täglichen Pflichten im Büro oder im Heim, im gesellschaftlichen oder Berufsleben erfüllen, ein Gespräch mit einem Freund führen oder womit wir uns sonst gerade beschäftigen mögen. Sollte unsere Beschäftigung rein mechanisch sein, also ohne gedankliche Aufmerksamkeit ausgeübt werden können, dann können wir einem erwählten Gedanken nachgehen und diesen vernünftig und logisch weiterverfolgen, während unsere Hände oder Augen mit der zu erledigenden Arbeit beschäftigt sind.

Wahre Konzentration erwächst aus einem konzentrierten, gedankenbeherrschten Leben, und die erste Massnahme des Aspiranten besteht darin, sein tägliches Leben planvoll zu ordnen, seine Tätigkeiten zu regulieren und in seiner Lebensweise konzentriert und zielbewusst zu werden. Alles das ist denen möglich, die es mit den notwendigen Anstrengungen ernst nehmen, und die ihre Vorsätze beharrlich verfolgen. Dies ist das erste und grundlegende Erfordernis. Wenn wir unser Leben ordnen und neu gestalten können, beweisen wir unseren Eifer und die Stärke unseres Verlangens. Man kann daraus ersehen, dass für den zielbewussten Menschen eine Pflichtvernachlässigung nicht möglich ist. Er wird seine Pflichten der Familie und den Freunden, dem geschäftlichen Leben oder dem Beruf gegenüber vollkommener und wirksamer erfüllen, ja er wird sogar Zeit für zusätzliche Pflichten finden, die sein geistiges Streben mit sich bringt, denn er beginnt, das Unwesentliche aus seinem Leben auszuschalten. Er wird sich keiner Verpflichtung entziehen, denn das konzentrierte Denkvermögen wird ihn befähigen, mehr als bisher und in kürzerer Zeit zu leisten, und aus seinen Anstrengungen bessere Resultate zu erzielen. Menschen, die von ihren Gefühlen beherrscht werden, verschwenden viel Zeit und Energie und vollbringen weniger als der mental eingestellte Mensch. Die Ausübung der Meditation ist für jemanden, der in geschäftlichen Methoden geschult ist, und es zu einer leitenden Stellung (208) gebracht hat, bedeutend leichter als für einen nicht denkenden, mechanisch Arbeitenden oder für eine Frau, die nur ein gesellschaftliches Leben oder ein Familienleben führt. Die letztgenannten müssen erst lernen, ihre Tage planvoll einzuteilen und unwichtige Tätigkeiten beiseite zu lassen. Sie sind diejenigen, die immer so geschäftig sind, das und jenes zu tun, und für die es eine unüberwindliche Schwierigkeit bedeutet, täglich zwanzig Minuten für die Meditation oder eine Stunde für das Studium aufzubringen. Sie sind so sehr von sozialen Annehmlichkeiten, von der mechanischen Haushaltsführung und von einer Unmenge Lieblingsbeschäftigungen und inhaltslosen Gesprächen in Anspruch genommen, dass sie unmöglich einsehen können, dass die Angewohnheit der Konzentration sie in die Lage versetzen würde, mehr als bisher zu leisten, und es überdies noch besser zu machen. Der geschulte Chef, mit einem geschäftigen und voll ausgefüllten Leben scheint die für die Seele nötige Extrazeit viel leichter aufzubringen. Er findet immer noch für das eine oder andere Zeit. Er hat gelernt, sich zu konzentrieren, und oft sogar zu meditieren; alles, was er braucht, ist ein anderes Ziel der Aufmerksamkeit.

Die Antwort auf die zweite Frage über die Notwendigkeit, sich in die Einsamkeit zurückzuziehen, um die Seele zu erwecken, eröffnet ein oder zwei interessante Überlegungen. Wenn wir die heutige Situation betrachten, hat es den Anschein, als ob der moderne abendländische Aspirant entweder die Kultur der Seelen-Natur bis zu jenem Zeitpunkt zurückstellen müsste, wo er sich gemäss der alten Regel zurückziehen kann, oder dass er eine neue Methode entwickeln und einen neuen Standpunkt einnehmen muss. Wenige von uns sind so gestellt, dass sie ihre (209) Familien und Verantwortlichkeiten aufgeben und aus der menschlichen Gesellschaft verschwinden können, um zu meditieren und unter ihrem Bo-Baum Erleuchtung zu suchen. Wir leben inmitten einer grossen Menschenmasse und in einer chaotischen Situation, die jede Vision von Frieden und Stille in der Umwelt vollkommen ausser Frage stellt. Ist also das Problem deshalb unlösbar? Gibt es da keinen Weg zur Überwindung dieser Schwierigkeit? Haben wir jede Hoffnung auf Erleuchtung aufgegeben, weil wir (der Umstände, des Klimas und - wirtschaftlicher Gründe wegen) nicht aus der Welt der Menschen verschwinden und das Reich der Seele suchen können?

Zweifellos liegt die Lösung nicht im Verzicht auf die Möglichkeiten, wofür Menschen früherer Rassen und Jahrhunderte Zeugenschaft ablegen. Die Lösung liegt im rechten Verstehen unseres Problems und in unserem Vorrecht, einen neuen Aspekt der alten Wahrheit aufzuzeigen. Wir im Westen gehören einer jüngeren Rasse an. Im uralten Osten suchten die wenigen unerschrockenen Bahnbrecher die Abgeschlossenheit, ermittelten für uns die günstigen Gelegenheiten und sicherten uns die Regeln. Sie hielten die Methode für uns so lange in sicherem Gewahrsam, bis die Massen bereit sein würden, in grosser Anzahl und nicht nur einzeln voranzukommen. Diese Zeit ist nun gekommen. Im Druck und Tumult des (210) modernen Lebens, in den Dschungeln unserer Grossstädte, im Lärm und der Geschäftigkeit des täglichen Lebens und Verkehrs können die Menschen überall den Ruhepunkt des Friedens in sich selbst finden und den Zustand stiller, positiver Konzentration erlangen, der ihnen die Erreichung des gleichen Zieles und der gleichen Erkenntnis, sowie den Eintritt in dasselbe Licht ermöglicht, von dem die Grossen der Menschheit Zeugnis abgelegt haben. Die Abgeschlossenheit, in die sich der Mensch zurückzieht, findet er in sich selbst; das stille Plätzchen, wo man mit dem Leben der Seele in Berührung kommt, ist jene Stelle im Kopfe, wo Leib und Seele zusammentreffen, jene früher erwähnte Gegend, wo das Licht der Seele und das Leben des Körpers sich vermischen und ineinander verschmelzen. Wer sich selbst in der Konzentration hinreichend schulen kann, vermag auch seine Gedanken jederzeit und an jedem Ort in einem Punkt in seinem Innern zurückzuziehen; in diesem Zentrum im Kopfe entwickelt sich der grosse Prozess der Einswerdung. Dies erfordert eine stärkere Konzentration und eine wirkungsvollere Meditation. Die Menschheit hat indes in den letzten dreitausend Jahren an mentaler Kraft und Stärke zugenommen und darin grosse Fortschritte gemacht, so dass sie jetzt das vollbringen kann, was den Sehern vergangener Zeiten nicht möglich war.

Hier ergibt sich noch eine dritte Frage: Was geht nun in der Meditation mit dem Aspiranten psychologisch und physiologisch tatsächlich vor? Die Antwort lautet: sehr viel. Psychologisch gesprochen: das Denkvermögen wird kontrolliert und kommt unter die Herrschaft der Seele. Das führt aber durchaus nicht zur Ausschaltung der gewöhnlichen mentalen Fähigkeiten; diese können vielmehr leichter angewandt werden, und das Denkvermögen ist schärfer denn je zuvor. Die Fähigkeit, klar zu denken, ist grösser. Der Aspirant entdeckt, dass er neben den Eindrücken aus der Erscheinungswelt auch Eindrücke aus der Welt des Geistes aufzunehmen vermag. Sein Denkvermögen wirkt in zwei Richtungen und es wird zu einem zusammenfassenden, vereinigenden Instrument. Die emotionelle Natur (211) wiederum wird durch das Denkvermögen kontrolliert, sie wird still und ruhig gemacht und bildet daher für den Zustrom geistiger Erkenntnis in das Gehirn kein Hindernis mehr. Wenn diese beiden Wirkungen erzielt wurden, finden im Kopf gewisse Änderungen im Mechanismus des Denkens und Wahrnehmens statt; das versichern uns die Wissenden des Ostens, und auch das Beweismaterial scheint dies zu bestätigen. Fortgeschrittene Denker des Westens verlegen wie wir an früherer Stelle gesehen haben die höheren mentalen Fähigkeiten und den Sitz der Intuition in das Grossgehirn, während sie die niederen mentalen Fähigkeiten und die höheren emotionellen Reaktionen dem unteren Gehirnteil zuordnen. Dies stimmt mit der östlichen Lehre überein, nach der die Seele (mit der höheren Erkenntnis und der Fähigkeit zu intuitiver Wahrnehmung) ihren Sitz in einem Kraftzentrum in der Gegend der Zirbeldrüse habe, während der Sitz der Persönlichkeit in einem Kraftzentrum in der Gegend des Hirnanhanges gelegen sei.

Wenn die in diesem Buch niedergelegten Theorien tatsächlich eine Grundlage haben, könnte die Hypothese, auf der die neuere Schule auf dem Gebiet der Erziehung einmal aufbauen wird, in folgenden Grundformeln oder Leitsätzen ausgedrückt werden:

1. Das Energiezentrum, durch das die Seele wirkt, liegt im oberen Gehirn. Während der wirksamen Meditation strömt von der Seele Energie in das Gehirn und übt eine ganz deutliche Wirkung auf das Nervensystem aus. Wenn jedoch das Denkvermögen nicht kontrolliert ist und die emotionelle Natur vorherrscht (wie im Fall des reinen Mystikers), macht sich die Wirkung hauptsächlich im Empfindungsapparat, in den emotionellen Seinszuständen (212) bemerkbar. Wenn dagegen das Denkvermögen der dominierende Faktor ist, dann wird der Gedankenapparat (im oberen Gehirn) zu planvoller Tätigkeit veranlasst. Der Mensch erlangt in dem Masse, wie er neue Erkenntnisgebiete entdeckt, eine neue Fähigkeit, nämlich klar, synthetisch und wirkungsvoll zu denken.

2. In der Gegend des Hirnanhanges (pituitary body) ist der Sitz der niederen Fähigkeiten, wenn diese im höheren Menschen-Typus schon koordiniert sind. Hier werden sie zu harmonischem Zusammenwirken gebracht und zur Einheit verbunden; und hier sind auch - wie uns von angesehenen Psychologen und Endokrinologen versichert wird - die Emotionen und die mehr konkreten Aspekte des Denkvermögens zu finden, die aus rassischen Gewohnheiten und ererbten Instinkten entstehen, und die daher keine schöpferische oder höhere Denktätigkeit erfordern. Das war das Thema meines früheren Buches «DIE SEELE UND IHR INSTRUMENT», so dass ich hier darauf nicht näher einzugehen brauche.

3. Wenn die Persönlichkeit - die Gesamtheit aller physischen, emotionellen und mentalen Zustände - einheitlich und harmonisch ist, dann erhöht sich ständig die Leistung des Hirnanhanges, und die Schwingung dieses Energiezentrums wird in dessen Umgebung sehr stark. Man sollte beachten, dass, wenn die Persönlichkeit von niederer Art ist, die Reaktionen hauptsächlich instinktmässig erfolgen und das Denken praktisch noch nicht funktioniert, nach dieser Theorie das Energiezentrum dann in der Nachbarschaft des Solar plexus liegt, der Mensch also seinem Wesen nach mehr tierisch veranlagt ist.

4. Wenn man die Fähigkeit, sein Bewusstsein (213) im Kopfe zu konzentrieren, entwickelt und übt, wird das Zentrum in der Gegend der Zirbeldrüse sowie das Grosshirn zur Tätigkeit veranlasst. Die östlichen Bücher verwenden dafür die interessanten Ausdrücke «rechte Zurückziehung» oder «rechte Abstraktion». Dies bedeutet die Entwicklung der Fähigkeit, die nach aussen gerichtete Tendenz der fünf Sinne zu unterjochen. So lernt der Aspirant die rechte Zurückziehung oder Abstraktion des zur Erscheinungswelt hinstrebenden Bewusstseins, und er muss sich darin üben, dieses Bewusstsein in der grossen Zentrale des Kopfes zu konzentrieren, von wo aus er - wenn er an dem grossen Werk teilnimmt - bewusst Energie verteilen, mit dem Reiche der Seele in Berührung kommen und die von diesem Reiche ausstrahlenden Botschaften und Eindrücke empfangen kann. Das ist nicht bloss eine symbolische Art und Weise, ein zielbewusstes Streben zum Ausdruck zu bringen, sondern eine ganz eindeutige Errungenschaft auf der Stufenleiter zur Vollendung.

Die verschiedenen Leitungen der Sinneswahrnehmungen werden stillgelegt. Das Bewusstsein des wirklichen Menschen brandet nicht mehr nach aussen auf den fünf Bahnen physischer Kontaktnahme. Die fünf Sinne werden vom sechsten Sinn, dem Denkvermögen, beherrscht, Bewusstsein und Wahrnehmungsvermögen des Aspiranten vereinen sich im Kopfe, und richten sich nach innen und aufwärts. Die psychische Natur wird dadurch unterworfen, und die Mentalebene wird zum Tätigkeitsgebiet des Menschen. Diese Zurückziehung oder Abstraktion vollzieht sich in zwei Abschnitten:

a) Die Zurückziehung des physischen Bewusstseins oder der Wahrnehmung durch Gehör, Gefühl, Gesicht, Geschmack und Geruch. Diese Art der Wahrnehmung wird vorübergehend eingeschläfert, und das menschliche Wahrnehmungsvermögen wird so rein mental; (214) das Gehirnbewusstsein ist alles, was auf der physischen Ebene tätig ist.

b) Die Zurückziehung des Bewusstseins in die Gegend der Zirbeldrüse, so dass das Erkenntniszentrum des Menschen im Bereich zwischen der Zirbeldrüse und der Stirnmitte liegt.

5. Wenn der Aspirant das getan und die Fähigkeit erworben hat, sich auf diese Weise im Kopfe zu konzentrieren, besteht das Ergebnis dieses Abstraktionsprozesses in folgendem:

Die fünf Sinne werden mittels des sechsten Sinnes, des Denkvermögens, ständig vereint gehalten; dieser ist der koordinierende Faktor. Später wird es klar, dass die Seele eine ähnliche Funktion zu erfüllen hat. Auf diese Weise wird die dreifache Persönlichkeit in direkte Verbindung mit der Seele gebracht; der Mensch verliert daher mit der Zeit das Gefühl für die Begrenzungen der Körpernatur, und das Gehirn kann durch die Seele über das Denkvermögen direkt beeinflusst werden. Das Gehirnbewusstsein wird in einem positiv wartenden Zustand gehalten, währenddessen es in all seinen Reaktionen der Erscheinungswelt gegenüber vollkommen - wenn auch nur zeitweilig - gehemmt ist.

6. Die hochgradig intellektuelle Persönlichkeit - mit ihrer im Bereiche des Hirnanhanges konzentrierten Aufmerksamkeit- beginnt mit dem höheren Zentrum in der Region der Zirbeldrüse übereinstimmend zu vibrieren. Dadurch entsteht ein magnetisches Feld zwischen dem positiven Seelen-Aspekt und der wartenden Persönlichkeit, die ja durch die konzentrierte Aufmerksamkeit aufnahmefähig wird. Dann strahlt - wie uns berichtet wird - das Licht auf, und der erleuchtete Mensch sowie das (215) phänomenale Licht im Kopfe treten in Erscheinung. Dies alles ist die Folge eines disziplinierten Lebens und der Bewusstseinskonzentration im Kopfe. Diese letztere wiederum wird durch unermüdliche Konzentration im täglichen Leben sowie auch durch ausgesprochene Konzentrationsübungen zustandegebracht. Darauf folgt das Bestreben, zu meditieren und später, viel später macht sich die Kraft zur Kontemplation bemerkbar.

Das ist eine kurze Zusammenfassung des prinzipiellen Werdeganges, die notwendigerweise nur knapp und unvollständig ist. Die vorgebrachten Ideen müssen indes versuchsweise angenommen werden, bevor man an die Meditationsarbeit verständnisvoll herangehen kann. Die Annahme einer solchen Hypothese ist genau so gerechtfertigt wie die Annahme irgend einer anderen Hypothese, die als Arbeitsgrundlage für die Forschung und für ein methodisches Verfahren dient. Sie hat vielleicht sogar mehr Berechtigung, da so viele Tausende auf Grund dieser Annahme weitergekommen sind, die notwendigen Bedingungen erfüllt und als Ergebnis die Annahmen in Gewissheit umgewandelt haben; das war der Lohn für die Unvoreingenommenheit, Ausdauer und Forschung.

Da wir nun unsere Hypothese aufgestellt und einstweilen angenommen haben, wollen wir die Arbeit so lange fortsetzen, bis sich die Hypothese entweder als falsch erweist, oder bis sie unsere Aufmerksamkeit nicht mehr beschäftigt. Eine Hypothese braucht jedoch nicht notwendigerweise falsch zu sein, weil sie sich in der von uns zugemessenen Zeitspanne nicht beweisen lässt. Die Menschen geben ihr Streben auf diesem Wissensgebiete häufig deshalb auf, weil sie nicht die notwendige Ausdauer haben, oder weil sich ihr Interesse anderen Dingen zuwendet. Wir jedoch sind entschlossen, unsere Forschung fortzusetzen und den alten Techniken (216) und Formeln Zeit zu geben, sich zu bestätigen. Wir wollen uns daher den ersten Erfordernissen unterwerfen und uns bemühen, im Leben eine stärker konzentrierte Denkweise anzuwenden und die tägliche Meditation und Konzentration zu pflegen. Wenn wir Anfänger sind oder ein ungeordnetes, flüchtiges, veränderliches und unstetes Denkvermögen haben, beginnen wir, Konzentration zu üben. Wenn wir dagegen geschulte Intellektuelle sind oder jene konzentrierte Aufmerksamkeit besitzen, die ein geschäftliches Training verleiht, brauchen wir das Denkvermögen nur auf ein neues Wahrnehmungsgebiet zu richten und können daher regelrecht zu meditieren anfangen. Interessierten Berufstätigen Meditation zu lehren, ist leicht.

Als nächstes kommt die regelmässige Meditation zur praktischen Anwendung, und für diese besondere Arbeit wird täglich eine bestimmte Zeit festgesetzt. Für den Anfang sind fünfzehn Minuten reichlich genug, und diese Zeitspanne sollte wenigstens ein Jahr lang beibehalten und nicht ausgedehnt werden. Wenn nun jemand behauptet, diese fünfzehn Minuten von den eintausendvierhundertvierzig Minuten das ganzen Tages nicht erübrigen zu können, dann kann man wohl sagen, dass es hier an Interesse mangelt. Fünfzehn Minuten können immer freigemacht werden, wenn der Wille das Bestreben unterstützt; immer aber ist es möglich, des Morgens fünfzehn Minuten früher aufzustehen, oder den morgendlichen Plausch mit der Familie aufzugeben, oder die benötigte Zeit von der Lektüre eines Buches, vom Besuch eines Kinos oder von einem Plauderstündchen im Laufe des Tages abzuzweigen. Wir wollen uns selbst gegenüber aufrichtig sein und die Dinge als das erkennen, was sie sind. Die Ausrede: «Ich habe keine Zeit» ist absolut schwach und beweist nur Mangel an Interesse. (217) Wir wollen nun die Regeln betrachten, auf Grund deren wir weitergehen.

Vor allem wollen wir uns bemühen, für unsere Meditationsarbeit Zeit in den frühen Morgenstunden zu finden. Der Grund dafür ist der, dass sich unser Denken nach all dem Lärm und Trubel des Tages in einem Zustand heftiger Schwingung befindet; dies ist nicht der Fall, wenn die Meditation gleich am Morgen durchgeführt wird. Das Denken ist dann noch relativ ruhig und kann sich schneller auf die höheren Bewusstseinszustände einstellen. Ausserdem: wenn wir den Tag damit beginnen, unsere Aufmerksamkeit auf geistige Dinge und die Angelegenheiten der Seele zu konzentrieren, dann werden wir den Tag in einer ganz anderen Art und Weise durchleben. Wenn dies zur Gewohnheit wird, werden wir bald feststellen, dass sich unsere Reaktionen auf die Angelegenheiten des täglichen Lebens ändern, und dass wir die Gedanken der Seele zu denken beginnen. Dies wirkt sich dann zu einem gesetzmässigen Vorgang aus, denn «wie der Mensch denkt, so ist er.»

Als nächstes müssen wir einen Platz finden, der wirklich ruhig und störungsfrei ist. Ich meine damit nicht ruhig im Sinne von Lärmfreiheit - denn die Welt ist überall voller Geräusche, (und mit zunehmender Sensitivität werden wir sie noch geräuschvoller finden als wir dachten) - sondern frei von persönlicher Annäherung und der Störung durch andere Menschen. Hier möchte ich gerne auf eine geistige Haltung verweisen, die der Beginnende einnehmen sollte: Die der Verschwiegenheit. Meditations-Aspiranten sprechen gewöhnlich viel über die Schwierigkeiten, die ihnen seitens ihrer Familie und Freunde gemacht werden; dem Gatten ist es nicht recht, wenn seine Frau meditiert, oder umgekehrt; Söhne und Töchter (218) unterbrechen gedankenlos und unüberlegt die Andacht der Eltern; Freunde stehen diesen Versuchen unsympathisch gegenüber. In den meisten Fällen aber liegt die Schuld beim Aspiranten selbst, und gerade Frauen sind in dieser Hinsicht die schlimmsten Ärgerniserreger. Die Menschen sprechen überhaupt zuviel. Es geht niemanden etwas an, was wir mit fünfzehn Minuten unserer Zeit am Morgen anfangen, und wir brauchen darüber kein grosses Gerede zu machen oder den Angehörigen einzuschärfen, sich ja ruhig zu verhalten, weil wir meditieren wollen. Das erweckt unvermeidlich eine Gegenreaktion. Wir wollen daher über die Art und Weise, wie wir unser geistiges Bewusstsein entfalten wollen, Schweigen bewahren; diese Sache geht nur uns selber an. Wir wollen über das, was wir tun, nicht sprechen, und unsere Bücher und Schriften vor anderen verschliessen, damit im Wohnzimmer nicht eine Menge Literatur herumliegt, an der andere nicht im geringsten interessiert sind. Sollte es jedoch unmöglich sein, eine kurze Zeit für die Meditation zu erübrigen, bevor sich die Familienmitglieder an ihre tägliche Arbeit machen oder bevor wir selbst dies tun, dann wollen wir die Zeit dafür im Laufe des Tages finden. Es findet sich immer ein Weg aus einer Schwierigkeit, wenn wir den festen Willen dazu haben, eine Möglichkeit, ohne unsere Pflichten und Verpflichtungen zu vernachlässigen. Es erfordert lediglich eine planvolle Zeiteinteilung und Schweigsamkeit.

Wenn wir also Zeit und Platz sichergestellt haben, setzen wir uns in einen bequemen Sessel und beginnen zu meditieren. Hier erhebt sich nun die Frage: Wie sollen wir sitzen? Ist die Stellung mit gekreuzten Beinen das Beste oder sollen wir knien, sitzen oder stehen? Dazu kann man nur sagen, dass die ungezwungene, normale Körperhaltung immer die beste ist. Das Sitzen mit gekreuzten Beinen war und ist im (219) Orient sehr gebräuchlich, und es wurden viele Bücher über die verschiedenen Sitzarten, deren es etwa achtzig gibt, geschrieben. Auch wenn diese Körperhaltung in der Vergangenheit und im Osten üblich war, ist das noch kein Grund, sie auch für uns im Westen und jetzt als die beste anzusehen. Diese Sitzarten sind Überbleibsel einer Zeit, als die menschliche Rasse psychologisch und emotionell geschult werden musste; diese Disziplinierung ähnelt sehr der, die wir einem Kinde auferlegen, wenn wir es in eine Ecke schicken, damit es Ruhe gebe. Einige dieser Stellungen haben eine ursächliche Beziehung zum Nervensystem und zu jener inneren Struktur feiner Nerven, die von den Hindus NADIS genannt werden und die dem im Abendland erkannten Nervensystem zugrundeliegen.

Der Nachteil bei diesen Körperhaltungen liegt darin, dass sie zu zwei ziemlich unerwünschten Reaktionen führen; sie verleiten den Menschen dazu, das Denkvermögen auf die technischen Einzelheiten des Vorganges, und nicht auf das Ziel zu konzentrieren; und zweitens bringen sie oft ein angenehmes Überheblichkeitsgefühl mit sich, das darauf beruht, dass sie etwas zu tun versuchen, was die meisten nicht tun und das uns als potentielle Wissende aus der Masse heraushebt. Uns nimmt die Formseite der Meditation völlig in Anspruch, aber nicht der Urheber dieser Form; wir beschäftigen uns mit dem Nicht-selbst anstatt mit dem Selbst. Daher wollen wir jene Körperhaltung einnehmen, die uns am leichtesten vergessen lässt, dass wir einen physischen Körper haben. Für den westlichen Menschen ist dies sicherlich die sitzende Haltung. Die Haupterfordernisse dabei sind: aufrechtes Sitzen, so dass das Rückgrat eine gerade Linie bildet; entspanntes, aber nicht zusammengesunkenes Sitzen, so dass es nirgends im Körper Spannungen gibt; wir sollten auch das Kinn etwas senken, um jede Spannung im Nacken zu vermeiden. Viele Menschen richten in der Meditation ihre festgeschlossenen Augen krampfhaft nach oben, als ob die Seele irgendwo da oben wäre; sie sehen aus, als hätten sie ein Schwert verschluckt, und ihre Zähne sind fest aufeinandergepresst, (vielleicht um eine der Seele entwischte Inspiration am Entkommen zu hindern). Der ganze Körper ist «gesetzt», angespannt (220) und fest verschlossen. Sie sind dann sehr erstaunt, dass nichts geschieht, ausser dass sich Müdigkeit und Kopfweh einstellt. Die Zurückziehung des Bewusstseins aus den Sinnesleitungen bedingt nicht die Entziehung des Blutes aus dem Körper und dessen Stauung im Kopfe, oder die unkontrollierte Beschleunigung der nervlichen Reaktionen. Meditation ist ein innerlicher Vorgang und kann nur dann erfolgreich durchgeführt werden, wenn der Körper entspannt und richtig ausgeglichen ist, und dann vergessen wird.

Die Hände sollen gefaltet im Schosse ruhen, die Füsse gekreuzt sein. Wenn der westliche Wissenschaftler mit seiner Behauptung, der menschliche Körper sei eine elektrische Batterie, recht hat, dann hat sein orientalischer Bruder sicherlich gleichfalls recht, wenn er sagt, dass in der Meditation negative und positive Energien zusammenkommen und dass dadurch das Licht im Kopfe hervorgebracht wird. Es ist daher weise, den Stromkreis zu schliessen.

Nachdem wir nun physische Bequemlichkeit und Entspannung erlangt und uns aus dem Körperbewusstsein zurückgezogen haben, wenden wir dann unsere Aufmerksamkeit der Atmung zu und vergewissern uns, ob sie ruhig, gleichmässig und rhythmisch ist. Hier möchte ich vor Atemübungen (221) warnen, die nur von denen ausgeführt werden sollten, die schon viele Jahre der richtigen Meditation und der Läuterung der Körpernatur gewidmet haben. Wo Erfahrung und Reinheit fehlt, bringen Atemübungen sehr reale Gefahren mit sich. Darauf kann nicht oft und nachdrücklich genug hingewiesen werden. Es gibt heutzutage viele Schulen, die Atemübungen lehren, und viele vertreten die Ansicht, dass diese Übungen ein Mittel zu geistiger Entfaltung seien. Diese Übungen haben aber mit geistiger Entfaltung nicht das geringste zu tun, dagegen sehr mit psychischer Entwicklung, und sie führen zu vielen Schwierigkeiten und Gefahren. Es ist z.B. möglich, durch gewisse Atemübungen hellhörig und hellsichtig zu werden; wenn aber wahres Verstehen des Vorganges oder die richtige Kontrolle der «veränderlichen psychischen Natur» durch das Denkvermögen fehlt, bewirkt diese Atempraxis nur das gewaltsame Eindringen in neue phänomenale Gebiete. Der betreffende Mensch hat dann Fähigkeiten entwickelt, die zu kontrollieren er völlig ausserstande ist, und er macht sehr oft die Erfahrung, dass er Töne und Gesichter - die er hören und sehen lernte - nicht mehr ausschalten kann, und dass es ihm nicht mehr gelingt, den Kontakten sowohl aus der physischen als auch aus der psychischen Welt zu entkommen; er wird nach zwei Richtungen hin und her gerissen und kann keinen Frieden finden. Physische Töne und Gesichter sind sein normales Erbe und beeinflussen naturgemäss seine Sinne; wenn aber auch die psychische Welt mit den ihr eigenen Tönen und Gesichtern auf ihn einstürmt, dann ist er hilflos; er kann seine Augen nicht verschliessen, und er kann sich aus dieser unerwünschten psychischen Umgebung nicht entfernen.

Ein Doktor der Theologie und Pastor einer grossen Kirche schrieb mir vor kurzem, dass er zur Verbesserung seiner Gesundheit bei einem Lehrer, der in seine Stadt gekommen sei, Atemübungen (222) gelernt habe. Die Folge dieser gutgemeinten Unwissenheit bestand darin, dass sich ihm das innere Hören im psychischen Sinne auftat. Er schrieb mir in diesem Brief: «Während ich ihnen auf meiner Maschine schreibe, kann ich alle Arten von Stimmen, Worten und Geräuschen hören, die nicht physischer Natur sind. Ich kann sie nicht zum Schweigen bringen und fürchte um meinen Verstand. Könnten sie mir, bitte, nicht sagen, was ich dagegen tun soll?» Viele Hunderte Menschen kamen während der letzten zehn Jahre zu mir und baten um Hilfe, weil sie den Ratschlägen von Lehrern für Atemübungen blind gefolgt waren. Sie waren ganz verzweifelt und befanden sich oft in einem besorgniserregenden psychischen Zustand. Manchen konnten wir helfen. Die Wenigen, denen wir keine Hilfe bringen konnten, enden in Asylen für Geisteskranke und Sanatorien für Neurotiker. Reiche Erfahrung aus diesen Fällen lässt mich diese Warnung aussprechen, denn in den meisten Fällen unkontrollierter psychischer Störungen liegt die Ursache in Atemübungen.

Nach den alten Lehren des Ostens wurde die Atembeherrschung erst dann gestattet, wenn die ersten drei «Mittel zur Vereinigung» wie sie genannt werden im Leben wenigstens teilweise angewandt worden waren. Diese «Mittel» sind Erstens: die fünf Gebote. Diese wiederum sind: Harmlosigkeit (Harmlosigkeit bedeutet hier: die Geisteshaltung und das Bemühen, niemanden zu verletzen oder zu schädigen, niemandem Unrecht oder Leid zuzufügen.), Wahrhaftigkeit allen Wesen gegenüber, Enthaltung von Diebstahl, Ausschweifung und Habsucht. Zweitens: die fünf Regeln, nämlich: innere und äussere Reinigung, Zufriedenheit, glühende Aspiration, geistige Lektüre (auch Auslegung) und Hingabe. Drittens: rechte Ausgeglichenheit. Wenn jemand in Gedanken, Worten und Werken (223) harmlos ist, wenn er selbstlos ist und die Bedeutung der emotionellen und physischen Ausgeglichenheit kennt, dann allerdings kann er unter entsprechender Anleitung Atemübungen ausführen, und zwar ungefährdet. Aber auch dann wird der Erfolg nur darin bestehen, dass er die Lebensenergien des Körpers vereinigt und die psychischen Fähigkeiten bewusst benutzt; das mag angebracht sein und einen Sinn und Zweck haben, wenn sich der Betreffende zu den Experimental-Forschern zählt.

Das Unvermögen, sich den notwendigen vorbereitenden Massnahmen zu unterwerfen, hat manchen verdienstvollen Forscher in Schwierigkeiten gebracht. Für einen emotionell veranlagten und schwächlichen Menschen ist es gefährlich, Atemübungen zu betreiben, um die Entwicklung zu beschleunigen; Lehrer, welche diese Übungen grösseren Gruppen zu lehren versuchen - wie dies oft geschieht - bereiten sich selbst und ihren Schülern Schwierigkeiten. In alten Zeiten erwählten die Lehrer nur hin und wieder einen Menschen für diese Art Unterricht, der auch dann nur zur Ergänzung einer Ausbildung diente, durch die ein gewisses Mass an Seelen-Kontakt bereits erlangt worden war, so dass die Seele die durch die Atemübung erweckten Energien leiten konnte, um ihre Ziele und den Weltdienst zu fördern.

Deshalb wollen wir auch nicht mehr tun, als zu sehen, dass unser Atem ruhig und regelmässig geht, und wir wollen dann unsere Gedanken vom Körper abwenden und mit der Konzentration beginnen.

Der nächste Schritt in der Meditationspraxis besteht in der Anwendung der Imagination (Einbildungskraft); wir stellen uns den dreifachen niederen Menschen, in Harmonie oder direkte Verbindung mit der Seele gebracht, vor. Dafür gibt es viele Wege. Wir nennen diesen Vorgang bildliche Vorstellung (Visualisation). (224) Es scheint, dass bildliche Vorstellung, Einbildungskraft und Wille bei jedem schöpferischen Vorgang drei sehr machtvolle Faktoren sind. Sie bilden die subjektiven (inneren) Ursachen für viele unserer objektiven (äusseren) Wirkungen. Anfangs ist die bildliche Vorstellung hauptsächlich eine Sache des experimentellen Glaubens. Wir wissen, dass wir durch logisches Denken zu der Einsicht gelangt sind, dass es innerhalb und ausserhalb aller manifestierten Gegenstände ein ideales Vorbild oder Urbild gibt, das sich auf der physischen Ebene zu manifestieren sucht. Die Praxis der bildlichen Vorstellung, der Imagination und der Einsatz des Willens sind geeignet, die Manifestation (Erschaffung der sichtbaren Form) dieses Ideals zu beschleunigen.

Wenn wir uns etwas bildlich vorstellen (oder geistig vergegenwärtigen), wenden wir unser höchstes Vorstellungsvermögen daran, wie dieses Ideal wohl sein könnte, und kleiden es in irgendeine - meist mentale - Materie, da wir einstweilen noch nicht in der Lage sind, uns höhere Substanzformen oder -arten vorzustellen, um damit unsere geistigen Bilder einzuhüllen. Wenn wir ein mentales Bild schaffen, beginnt die mentale Substanz unseres Denkvermögens in einer bestimmten Schwingungszahl zu vibrieren, wodurch eine entsprechende Qualität mentaler Substanz, in der das Denkvermögen versenkt ist, angezogen wird. Der Wille hält dann dieses Bild stetig fest und gibt ihm Leben. Dieser Vorgang geht vor sich, gleichgültig, ob wir ihn derzeit mit dem mentalen Auge erkennen können oder nicht. Es macht nichts aus, dass wir ihn nicht sehen können, da ja der schöpferische Prozess auf jeden Fall weitergeht. Vielleicht werden wir einmal dem ganzen Vorgang folgen und ihn bewusst durchführen können.

Im Zusammenhange damit stellen sich manche Anfänger (225) die drei Körper (die drei Aspekte der Formnatur) als mit einem strahlenden Lichtkörper verbunden vor, oder sie vergegenwärtigen sich die drei Zentren vibrierender Energie, die aus einem höheren und mächtigeren Zentrum stimuliert (angeregt, durchpulst) werden; andere wiederum stellen sich die Seele als Kräftedreieck vor, das mit dem Dreieck der niederen Natur verbunden ist, und zwar durch den (in der Bibel erwähnten) «Silberfaden», das Sutratma oder die Fadenseele (nach den östlichen Schriften), die «Lebenslinie» (nach anderen Gedankenschulen). Wieder andere ziehen es vor, den Gedanken an eine einheitliche Persönlichkeit aufrecht zu erhalten, die mit der innewohnenden Göttlichkeit, dem Christus in uns, der Hoffnung, auf Herrlichkeit verbunden ist. Es ist aber verhältnismässig unwesentlich, welches Vorstellungsbild wir wählen, vorausgesetzt, dass wir von der grundlegenden Idee ausgehen, dass das (innere, wahre) Selbst versucht, mit dem Nicht-Selbst, seinem Instrument in der Welt menschlicher Wesensäusserung, in Verbindung zu kommen und sich seiner zu bedienen; und umgekehrt, dass das Nicht-Selbst gezwungen wird, sich seiner Lebensquelle zuzuwenden. Auf diese Weise wird durch Imagination und geistiges Vorstellungsvermögen der Begierdenkörper, die emotionelle Natur, mit der Seele in Übereinstimmung gebracht. Sobald dies erfolgt ist, können wir unsere Meditationsarbeit fortsetzen. Der physische Körper und die Begierdennatur sinken ihrerseits unter die Schwelle des Bewusstseins, wir konzentrieren uns im Denkvermögen und versuchen, dieses unserem Willen zu unterwerfen.

Hier aber stehen wir vor unserem Problem. Das Denkvermögen weigert sich, die Form der von uns erwählten Gedanken anzunehmen und jagt (226) in seiner Suche nach Material wie gewöhnlich über die ganze Welt. Anstatt über unseren «Saatgedanken» nachzudenken, fällt uns plötzlich ein, was wir diesen Tag tun werden; wir erinnern uns an jemanden, den wir sehen müssen, oder an irgendeine Sache, die unsere Beachtung erfordert, wir denken an jemanden, den wir sehr gern haben, und sinken dadurch sofort in die Welt der Emotionen zurück, so dass wir unsere ganze Arbeit von neuem beginnen müssen. Wir sammeln also wiederum unsere Gedanken und haben für eine halbe Minute auch Erfolg damit; dann aber erinnern wir uns an eine getroffene Verabredung oder an eine Arbeit, die jemand für uns tut, und schon befinden wir uns wieder in der Welt mentaler Reaktionen, und unser erwählter Gedankengang ist vergessen. Wiederum sammeln wir unsere zerstreuten Gedanken und mühen uns aufs neue, das widerspenstige Denken zu unterwerfen.

Will Levington Comfort fasst dies in seinem 113. Brief wie folgt zusammen:

«Unsere zerstreute Aufmerksamkeit! Wir wissen ja gar nicht, wie zerrüttet sie ist, bevor wir uns nicht zu konzentrieren beginnen, bevor nicht durch die Praxis der Konzentration eine neue Klarheit und Beständigkeit inmitten der brodelnden Unwissenheit des persönlichen Lebens heraufdämmert. Bei unseren früheren Meditationsversuchen setzten wir uns über solch abgedroschene Anweisungen, wie die Wahl eines Themas und das genaue, gewissenhafte Festhalten des Denkvermögens daran, einfach hinweg; wir stürmten über all das hinweg, aus Verlangen nach Ekstase, nach Einweihung, nach Mitteln und Wegen, wie wir glänzen und andere beherrschen könnten. Es wurde uns gestattet, in den sumpfigen Niederungen der Emotion - die wir die hellen Gebiete des Geistes nannten - zu weiden; wir durch denken, dass wir dächten ... bis sich dann in einer Notlage oder mit abnehmender Bedeutsamkeit die atemberaubenden Unsicherheiten und Unbeständigkeiten unseres Fundaments zeigten. Endlich (227) davon überzeugt, machten wir uns eifrig daran, nochmals von Grund auf anzufangen und das Wort Beständigkeit leuchtet auf».

Im selben Brief fährt er fort:

«Unsere Konzentrationsversuche sind gerade durch die Anstrengung, die wir darauf verwenden, zuerst atemlos. Diese Steifheit beeinträchtigt eine Zeitlang die erwünschten Ergebnisse, durch Übung aber erlangen wir schliesslich die Fähigkeit, unsere Gedanken auf ein einziges Ziel gerichtet zu halten, und zwar in einer Art müheloser Genügsamkeit, der man ohne Gefahr Kraft verleihen kann».

Wie wird dieser Zustand erreicht? Dadurch, dass wir bei unserer Meditation nach einem Plan oder Muster vorgehen, wodurch um das Denkvermögen herum automatisch eine Grenzlinie gezogen wird, welche diesem vorschreibt: «Bis hierher und nicht weiter». Wohlerwogen und mit intelligenter Absicht setzen wir unserer mentalen Aktivität Grenzen in einer solchen Form, damit wir gezwungenermassen erkennen, wann wir über sie hinausgehen. Wir wissen dann, dass wir uns wieder in den von uns selbst abgegrenzten Schutzwall zurückziehen müssen. Diese Befolgung einer Meditationsform ist gewöhnlich einige Jahre lang notwendig, wenn man nicht schon früher regelmässig meditiert hat; aber auch jene, die bereits das Stadium der Kontemplation erreicht haben, prüfen sich öfters selbst durch Benützung einer Form oder Vorlage, um Rückfälle in einen negativen, emotionellen Stillstand zu verhindern.

Ich habe solche Formen wie die nachstehend angeführte in Zusammenarbeit mit ungefähr dreitausend Studierenden der Meditationstechnik während der letzten sieben Jahre (228) verwendet und sie hat sich in so vielen Fällen bewährt, dass ich sie hier einschalte.

Meditationsform zur Entwicklung der Konzentration.

Stadien:

1. Erlangung physischer Bequemlichkeit und Kontrolle.

2. Der Atem wird als rhythmisch und regelmässig festgestellt.

3. Man stellt sich im Geiste vor, dass das dreifache niedere Selbst (das physische, emotionelle und mentale)

a) mit der Seele in Verbindung steht;

b) ein Kanal für die Seelen-Energie ist, der mittels des Denkvermögens direkt zum Gehirn führt. Von da aus kann der physische Mechanismus kontrolliert werden.

4. Sodann zielbewusste Konzentration durch Einsatz des Willens. Dazu gehört die Bemühung, das Denkvermögen regungslos (unbeirrbar) auf eine bestimmte Anordnung von Worten gerichtet zu halten, so dass deren Sinn und Bedeutung - also nicht nur die Worte als solche oder die Tatsache, dass wir zu meditieren versuchen - in unserem Bewusstsein klar und verständlich wird.

5. Dann sprecht mit konzentrierter Aufmerksamkeit:

«Strahlender als die Sonne, reiner als der Schnee, feiner als der Äther ist das Selbst, der Geist in mir. Ich bin dieses Selbst. Dieses Selbst bin ich».

6. Dann konzentriert euch auf die Worte: «Du, o Gott, siehst mich». Beim konzentrierten Nachdenken über den Sinn und Gehalt, über die Bedeutung dieser Worte und über die sich daraus ergebenden Folgerungen wird dem Denkvermögen nicht gestattet, zu stocken, zu erlahmen oder abzuschweifen.

7. Die Konzentration wird dann mit Bedacht zu Ende geführt und mit neuerlicher Konzentration auf die zugrundeliegenden Ideen die folgende abschliessende Behauptung ausgesprochen:

«Es gibt einen Frieden, der die Vernunft übersteigt; er wohnt in den Herzen derer, die im Ewigen leben. Es gibt eine Kraft, die alles neu macht; sie lebt und regt sich in jenen, die das Selbst als eins erkennen».

(229)

Dies ist ausgesprochen eine Meditation für Anfänger. Sie enthält mehrere Brennpunkte der besinnlichen Sammlung und der Konzentration. Es gibt natürlich viele andere Meditationsformeln, welche die gleichen Resultate zustande bringen können, und noch viel mehr solcher Vorlagen für Fortgeschrittene. Es gibt Meditations-Muster, die für ganz bestimmte Leute ausgearbeitet wurden, um besondere Ergebnisse zu erzielen; es ist klar, dass solche Spezialformeln in einem Buche wie diesem nicht mitgeteilt werden können. Es ist hier nicht möglich, mehr als eine allgemeine, sichere Meditationsformel zu geben. Die Hauptsache bei allen diesen Vorlagen (und das ist gut zu beachten) ist, dass man das Denkvermögen MIT IDEEN und nicht mit Konzentrationsbemühungen AKTIV BESCHÄFTIGT HALTEN MUSS. Hinter jedem gesprochenen Wort, hinter jeder Meditationsstufe müssen der Wille zum Verstehen und eine zielbewusste, scharfe Gedankenkonzentration stehen.

Auf der sechsten Stufe, beim Bemühen, über eine Wortformel zielbewusst zu meditieren, welche die Wahrheit verhüllt, sollte der Meditationsprozess nicht mechanisch werden, denn es ist verhältnismässig leicht, sich durch rhythmische Wiederholung bestimmter Worte in einen hypnotischen Zustand zu versetzen. Tennyson sagt man versetzte sich durch Wiederholung seines eigenen Namens in einen gehobenen Bewusstseinszustand. Das ist nicht unser Ziel. Der mechanisch herbeigeführte oder Trancezustand ist gefährlich. Der sichere Weg ist eine intensive mentale Tätigkeit, die sich auf ein bestimmtes Ideengebiet beschränkt, wie z.B. auf einen besonderen «Saatgedanken» oder auf ein sonstiges Meditationsthema. Diese Massnahme schliesst alle fremden Gedanken aus und lässt nur jene zu, die auf Grund der betrachteten Worte aufkommen. Die in der hier gegebenen Meditations-Vorlage gewählten Worte können dies (230) illustrieren, und der Vorgang schildert eine Gedankenfolge wie nachstehend:

«Du Gott, siehst mich.

Dieser Gott ist das Göttliche in mir, der innewohnende Christus die Seele.

Seit undenklichen Zeiten hat diese Seele mich wahrgenommen und beobachtet.

Nun ist es mir zum ersten Mal möglich, Gott zu sehen.

Bis jetzt war ich dieser göttlichen Realität gegenüber negativ.

Nun aber wird die positive Beziehung möglich.

Das aber scheint die Idee der Dualität zu bedingen.

Ich und Gott sind jedoch eins.

Ich bin und war allezeit Gott.

Daher bin ich von meinem Selbst gesehen worden.

Ich bin dieses Selbst, dieses Selbst bin ich».

Diese Worte sind leicht niedergeschrieben. Wenn man jedoch das Denkvermögen dazu anhält, über deren Sinn und Bedeutung intensiv nachzusinnen, dann ist eine angestrengte und konzentrierte Gedankenarbeit notwendig; und man wird feststellen, dass es sehr schwierig ist, alle jene Gedanken auszuschalten, die zum Thema keine Beziehung haben. Manchmal half es, dem verwirrten Anfänger, der wegen seiner Unfähigkeit entmutigt war, so zu denken, wann und wie er sich es vorgenommen hatte, folgendes zu sagen: «Stelle dir vor, du hättest über diese Worte vor einer Zuhörerschaft eine Vorlesung zu halten. Vergegenwärtige dir, wie du die Aufzeichnungen formulierst, über die du später sprechen willst. Führe dein Denken von Stufe zu Stufe, und du wirst feststellen, dass fünf (231) Minuten ohne Abschweifen deiner Aufmerksamkeit vorübergegangen sind, so gross war dein Interesse».