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1. Buch - Das Problem der Vereinigung - Teil 4

Die Ruhe des Chitta (oder der Denksubstanz) kann durch stetes Mitgefühl, Güte, Zielstrebigkeit und dadurch erreicht werden, dass man in Freud und Leid, und gegenüber jeder Art von Gut und Böse gleichmütig-gelassen bleibt.

Methode II. Lehrspruch 34. Zentrum an der Basis der Wirbelsäule,

Die Ruhe des Chitta kann auch durch Regulierung des Prana oder Lebensodems erreicht werden.

Methode III. Lehrspruch 35. Zentrum zwischen den Augenbrauen. Beständigkeit des Denkens kann durch jene Konzentrationsarten

erreicht werden, die mit den Sinneswahrnehmungen zu tun haben.

Methode IV. Lehrspruch 36. Kopfzentrum.

Durch Meditieren über Licht und Strahlung kann man ein Wissen über den Geist gewinnen und so Frieden erlangen.

Methode V. Lehrspruch 37. Sakralzentrum.

Das Chitta [82] wird beständig und frei von Illusionen, wenn die niedere Natur geläutert und ihr nicht mehr nachgegeben wird.

Methode VI. Lehrspruch 38. Kehlzentrum.

Ruhe (Beständigkeit des Chitta) kann durch Meditation über das Wissen erreicht werden, das durch Träume vermittelt wird.

Methode VII. Lehrspruch 39. Herzzentrum.

Ruhe kann auch dadurch erlangt werden, dass man sich auf das konzentriert, was dem Herzen am teuersten ist.

Über diese Methoden sollte man gründlich nachdenken, auch wenn hier darüber keine Einzelheiten angegeben werden können. Nur das Prinzip und das damit verbundene Gesetz können vom Schüler durchdacht werden. Man muss auch beachten, dass alle diese Zentren ihre Entsprechungen in ätherischer Materie (im Bereich des Kopfes) haben, und dass also, wenn diese sieben Kopfzentren erweckt sind, auch die sieben ätherischen Zentren ohne Gefahr aktiv werden. Diese sieben Kopfzentren entsprechen im Makrokosmos den sieben Rishis (oder Weisen) des Grossen Bären, den Urbildern der sieben Himmlischen Menschen, und die oben aufgezählten Zentren stehen in Beziehung zur Energie dieser sieben Himmelsmenschen.

Es ist nicht nötig, hier mehr über diese Zentren zu sagen als folgendes:

1. Der Aspirant möge jedes Zentrum symbolisch als eine Lotosblume ansehen.

2. Diese Lotosblume entsteht aus Energie-Einheiten, die sich in einer bestimmten Weise bewegen oder schwingen; und diese Schwingungswellen nehmen Formen an, die wir die Blütenblätter der Lotosblume nennen.

3. Jede [83] Lotosblume besteht aus:

a. Einer bestimmten Anzahl von Blütenblättern.

b. Einer Fruchthülle oder einem Blütenkelch.

c. Einem Zentrum reinen weissen Lichtes, genannt das Kleinod.

4. Jedes Zentrum entspricht einem heiligen Planeten, dem Manifestationskörper eines der sieben Himmlischen Menschen.

5. Jedes Zentrum muss durch Anwendung des Wortes entwickelt werden. Dieses Wort ist Aum, und es muss zuletzt im vibrierenden Zentrum sichtbar werden. Wenn es im Rad vollkommen erstrahlt, dann ist dieses Zentrum völlig erweckt.

6. Gewisse Qualitäten der Sonne sind die Eigenschaften der Zentren.

a. Eigenschaft des Solarplexus                                                                Wärme.

b. Eigenschaft des Zentrums an der Basis der Wirbelsäule               Kundalini-Feuer.

c. Eigenschaft des Zentrums zwischen den Augenbrauen                  Erhellendes Licht.

d. Eigenschaft des Kopfzentrums                                                             Kaltes Licht.

e. Eigenschaft des Sakralzentrums                                                           Feuchtigkeit.

f. Eigenschaft des Kehlzentrums                                                               Rotes Licht.

g. Eigenschaft des Herzzentrums                                                             Strahlendes oder magnetisches Licht.

In diesem Lehrspruch wird die Meditation über Licht und Strahlung nachdrücklich empfohlen und wir erfahren, dass man durch dieses Licht und die Fähigkeit, es zu nutzen, ein Wissen über den Geist gewinnen kann. Im Zentrum des «Herz-Chakras» wohnt Brahma, sagt eine alte hl. Schrift, und ER offenbart sich in diesem Licht. Der Aspirant muss daher den «Lichtpunkt im Rad mit den [84] zwölf Speichen» wahrnehmen. Das Licht wird dann einen Weg enthüllen, der beschritten werden muss, wenn der Aspirant sein Ziel erreichen will. Zuerst wird Dunkelheit ihn umgeben; dessen muss er eingedenk sein. In der Sprache der abendländischen Mystik ist das «die dunkle Nacht der Seele». Wir wollen uns indes mit diesem mystischen Aspekt nicht näher befassen, da wir uns möglichst an die okkulte Richtung halten wollen. Wie die Wahrheit in der christlichen Mystik ausgedrückt wird, ist oft und angemessen gesagt worden.

37. Das Chitta wird beständig und frei von Illusionen, wenn die niedere Natur geläutert und ihr nicht mehr nachgegeben wird.

Dieser Lehrspruch ist ziemlich frei wiedergegeben, da die genaue Übersetzung der Sanskrit-Ausdrücke sehr schwierig ist. Die Grundidee ist folgende: Wenn sich der wirkliche Mensch unablässig bemüht, die Wirksamkeit der Wahrnehmungsorgane und Sinneskontakte auszuschalten, weil er sich mit diesen nicht mehr identifizieren will, wird er «frei von Leidenschaft». Erregung oder heftiges Verlangen nach allen Objekten ist überwunden. Er ist dann frei von seiner niederen Sinnen-Natur; daraus ergibt sich eine entsprechende mentale Ausgeglichenheit und die Fähigkeit, sich zu konzentrieren, denn die Denksubstanz ist nicht mehr den Veränderungen unterworfen, die durch Sinnesreaktionen irgendwelcher Art entstehen, mögen wir sie gut oder schlecht nennen.

Seit jeher wird dieses Sich-frei-machen in vielen Systemen nachdrücklich befürwortet.

Eine der [85] empfohlenen Methoden ist die, ständig über jene grossen Wesenheiten wie Krishna, Buddha und Christus zu meditieren, Die Sich von allen Sinnesreaktionen frei gemacht haben. Dieser Gedanke wird zwar in einigen Übersetzungen andeutungsweise zum Ausdruck gebracht, scheint jedoch nicht der Hauptpunkt zu sein, der gemeint ist. Freisein vom Anhangen wird in dem Mass erreicht, wie die Feuer des Verlangens überwunden werden. Obwohl vom Sakralzentrum gesagt wird, es habe eine spezifische Beziehung zum Geschlechtsleben, so ist doch dieses Geschlechtsleben (wie es sich auf der physischen Ebene manifestiert) symbolisch für jede Art von Verhaftetsein zwischen der Seele und irgendeinem Wunschobjekt - ausser dem Geist.

38. Ruhe (Beständigkeit des Chitta) kann durch Meditation über das erreicht werden, was uns in Träumen mitgeteilt wurde.

Die Bedeutsamkeit des Lehrspruches 38 liegt in den Worten «die Kenntnisse, die uns durch Träume zuteil werden». In diesem Zusammenhang dürfte der Kommentar über den 10. Lehrspruch von Interesse sein. Der orientalische Okkultist gebraucht das Wort «Traum» anders als der Abendländer, in einem mehr technischen Sinn; das muss vom Aspiranten voll erfasst werden. Für den Orientalen ist der tiefste Traumzustand der, in den der wahre Mensch gesunken ist, wenn er in physischer Verkörperung ist. Dieser Zustand entspricht dem Traumzustand, der durch die Schwingungen der physischen Gehirnzellen verursacht wird. Es bestehen Chaos, Zusammenhanglosigkeit, schlecht regulierte Möglichkeiten, verbunden mit der Unfähigkeit, sich nach dem Aufwachen richtig und genau zu erinnern. Das ist der Traumzustand der physischen Ebene.

Dann gibt es [86] den Traumzustand, der sinnliche Eindrücke von Lust oder Schmerz vermittelt, die im Astral- oder Emotionalkörper erlebt werden. Das Wissen, das aus den Träumen der physischen Ebene kommt, ist grösstenteils instinktiver Art, während das Wissen, das man durch astrale Träume erlangt, vorwiegend gefühlsmässig ist. Das erste Wissen ist rassische und Gruppenerkenntnis; das zweite steht in Beziehung zum Nicht-Selbst und zum Verhältnis des Menschen zu diesem Nicht-Selbst.

Dann gibt es noch einen höheren Zustand des Traumbewusstseins, bei dem eine Fähigkeit anderer Art mitspielt; das ist die Phantasie oder Vorstellungskraft, die ein Wissen (oder Erfahren) eigener Art vermittelt. Mit der Vorstellungskraft sind bestimmte mentale Zustände verbunden, wie:

a. Erinnerung an Dinge, wie man sie gekannt hat - als Bewusstseinszustände.

b. Vorahnung von Dingen, wie man sie erfahren würde - oder von Bewusstseinszuständen.

c. Vergegenwärtigung der imaginären Zustände und dann die Nutzbarmachung der erzeugten Vorstellung als einer Form, durch die ein neuer Erkenntnisbereich erschlossen werden kann, wenn sich der Träumer mit dem, was er sich vorgestellt hat, identifizieren kann.

In diesen drei Traumzuständen haben wir den Zustand des Denkers auf den drei Ebenen in den drei Welten, angefangen vom Zustand des unwissenden Wilden bis zu dem des durchschnittlich aufgeklärten Menschen. Es folgt dann ein weit höherer Zustand des Traumbewusstseins.

Die richtige Anwendung der Vorstellungskraft verlangt einen hohen Grad von Gedankenbeherrschung und Denkkraft; wo diese vorhanden [87] sind, führen sie schliesslich zu «Samadhi». Das ist der Zustand, in dem der Adept den ganzen niederen Menschen einschläfern und selbst in jenen Bereich eintreten kann, wo die «Träume Gottes» bekannt sind und wo die von der Gottheit erschaffenen «Urbilder» erschaut werden können. Auf diese Weise kann der Adept in intelligenter Weise am grossen Entwicklungsplan teilhaben.

Jenseits dieses Samadhi-Zustandes liegt der Traumzustand der Nirmanakayas und der Buddhas; und so geht es weiter auf der Stufenleiter hierarchischen Lebens, bis der grosse Träumer erkannt wird, der Eine, der Herr der Welt, der Alte der Tage, unser planetarischer Logos. Der Studierende kann zu einem nur dunkel erahnenden Verstehen dieser Traumzustände kommen, wenn er über den weiter oben erwähnten Gedanken nachdenkt, der besagt, dass für den Okkultisten das Leben auf der physischen Ebene nur ein Traumzustand ist.

39. Ruhe kann auch dadurch erreicht werden, dass man sich auf das konzentriert, was dem Herzen am teuersten ist.

Dieser Lehrspruch spricht gerade wegen seiner Einfachheit besonders an; in ihm können die verschiedenen Stadien des Erwerbens verfolgt werden: Wünschen, starkes Verlangen, die feste Entschlossenheit, das Erwünschte unbedingt zu erreichen; das Beiseiteschieben all dessen, was diesen Erfordernissen nicht entspricht; das Leeren der Hände, damit sie für neuen Besitz frei sind; dann Besitz, Befriedigung und Ruhe. Aber bei allen Dingen, die zu den niederen [88] Wünschen zählen, ist der Frieden nur ein vorübergehender Zustand; neues Verlangen wird wach, und das, über dessen Besitz man sich so gefreut hat, wird aufgegeben. Nur das, was in langen Zeiträumen herangereift, nur das, was die Wiedergewinnung eines alten Eigentums ist, verschafft völlige Zufriedenheit. Der Yoga-Schüler sollte daher nachdenken und sich vergewissern, ob das, was seinem Herzen am teuersten ist, nur vorübergehend, zeitgebunden und vergänglich ist, oder ob es, wie Christus sagte, ein «Schatz im Himmel» ist.

Wir kommen nun zu dem umfassendsten Lehrspruch des Buches: (40). Hier könnte darauf hingewiesen werden, dass diese «sieben Wege zum seelischen Frieden» (wie sie genannt werden) auch die sieben Methoden der sieben Strahlen zur Beherrschung der psychischen Natur sind. Es ist wichtig, dies zu betonen. Die sieben Wege haben eine direkte Beziehung zu den vier niederen Einweihungen, denn es kann kein Mensch eine grosse Einweihung erlangen, der nicht schon ein gewisses Mass an psychischer Ruhe erreicht hat. Es wird für den Studierenden von Interesse sein, die Beziehung dieser sieben Wege zum Frieden zu dem oder jenem der sieben Strahlen herauszufinden und den Weg zu bestimmen, der zum entsprechenden Strahl gehört.

40. So erweitert sich sein Erkenntnisbereich vom unendlich Kleinen bis zum unendlich Grossen, und so vervollkommnet sich sein Wissen, angefangen vom Annu (dem Atom oder kleinsten Teilchen) bis zum Atma (oder Geist).

Diese Übersetzung hält sich nicht genau an die Sanskrit-Worte, aber nichtsdestoweniger übermittelt sie den genauen Sinn des Originaltextes; und das ist die Hauptsache. Ein alter Vers aus einer [89] der geheimen Schriften, der den Grundgedanken dieses Lehrspruchs aufhellt, lautet wie folgt:

«Im kleinsten Teilchen ist Gott zu erkennen. Im Menschen kann Gott zur Herrschaft gelangen. In Brahma sind beide zu finden. aber alles ist eins und gleich. Das Atom ist wie Gott, Gott wie das Atom».

Es ist eine okkulte Binsenwahrheit, dass der Mensch in dem Mass, in dem er zu einem Wissen über sich selbst kommt, auch - nach dem grossen Gesetz der Analogie - zur Erkenntnis Gottes kommt. Dieses Erkennen umfasst fünf grosse Aspekte:

1. Formen.

2. Die Beschaffenheit der Form.

3. Kräfte.

4. Gruppen.

5. Energie.

Der Mensch muss die Beschaffenheit seines Körpers und aller seiner Körperhüllen verstehen; das betrifft seine Kenntnis von der Form. Er entdeckt, dass Formen aus Atomen oder unendlich kleinen «Energie-Einheiten» bestehen, und dass in dieser Hinsicht alle Formen gleich sind; das betrifft sein Wissen um die Beschaffenheit der Form. Dann kommt er zu einem Verstehen des Energie-Aggregats der Atome, aus denen seine Formen bestehen, also - mit anderen Worten - zu einem Wissen über die verschiedenartigen Kräfte. Die Art dieser Kräfte wird bestimmt durch den Rhythmus, die Aktivität und Qualität der Atome, aus denen die Körperhüllen bestehen. Dieses Wissen betrifft die Kräfte. Später entdeckt er ähnliche Formen mit übereinstimmenden Schwingungen und Äusserungen; und dieses Wissen betrifft die Gruppen. So findet er seinen Platz und kennt seine Aufgabe. Schliesslich kommt er zu einem Wissen um das, was [90] alle Formen betrifft, alle Kräfte lenkt und die antreibende Kraft in allen Gruppen ist. Das ist das Wissen um die Energie; es hat mit dem Wesen des Geistes zu tun. Durch diese fünf Erkenntnisse erreicht der Mensch die Meisterschaft, denn zur Erlangung von Erkenntnis bedarf es folgender fünf Faktoren:

1. Geistiges Streben. (Aspiration).

2. Studium und Forschung.

3. Experimentieren.

4. Entdecken.

5. Sich-identifizieren.

6. Realisierung. (Bewusste, klare Erkenntnis).

Der Adept kann sich in das Bewusstsein des unendlich Kleinen hineinversetzen, sich mit ihm identifizieren. Er kann sich mit dem Atom der Materie identifizieren, und so erfährt und weiss er das, was bis jetzt dem modernen Wissenschaftler noch unbekannt ist. Er weiss auch, dass das aus menschlichen Atomen bestehende Menschenreich mittwegs auf der Entwicklungsleiter steht, und dass darum das unendlich Kleine von ihm ebensoweit entfernt ist wie das unendlich Grosse. Der Weg, der gegangen werden muss, um das Winzigste in der ganzen Schöpfung Gottes zu erfassen, ist ebenso weit wie der Weg zur Erfassung des grössten Bewusstseins - eines Sonnensystems. Nichtsdestoweniger ist in allen diesen Bewusstseinsbereichen der Weg zur Meisterschaft der gleiche: völlig konzentrierte Meditation, die zur völligen Beherrschung des Denkens führt. Das Denkvermögen ist so beschaffen, dass es erstens als Teleskop dient, das den Menschen mit dem Makrokosmos in Berührung bringt, und zweitens als Mikroskop, das ihm Einblick gewährt in das winzigste Atom.

41. Wer die Vrittis (mentale Modifikationen) völlig beherrscht, erlangt einen Zustand der Wesenseinheit oder Gleichheit mit dem, was erkannt wird. Der Erkennende, das Erkannte und der Erkenntnisbereich werden eins, so wie ein Kristall die Farben dessen annimmt, was sich in ihm widerspiegelt.

Dieser Lehrspruch [91] ergibt sich natürlicher Weise aus dem vorhergehenden. Der vollkommene Seher umfasst in seinem Bewusstsein den gesamten Wissens- (oder Erkenntnis-)bereich, sowohl vom Standpunkt des Betrachters und Beobachters als auch vom Standpunkt des Wesensgleich-werdens. Er ist eins mit dem Atom der Materie, er ist imstande, das kleinste Universum zu erkennen; er ist eins mit dem Sonnensystem, dem grössten Universum, das ihm in diesem grösseren Zyklus zu erkennen erlaubt ist. Seine Seele und ihre Seelen werden als wesensgleich erkannt: in der einen wird die Entwicklungsmöglichkeit gesehen, und in der anderen Seele wird die (vom menschlichen Standpunkt) unfassbare Ordnung erkannt, die zur letzten Vollkommenheit hinführt. Die Aktivität, welche die Elektronen um ihren Mittelpunkt kreisen lässt, wird als dem Wesen nach gleich erkannt mit der, welche die Planeten ihre Bahn um die Sonne ziehen lässt; und zwischen diesen beiden göttlichen Manifestationen ist die ganze Stufenleiter der Formen zu finden.

Der Erforscher des Okkulten muss erkennen, dass es viele und verschiedenartige Formen gibt, dass aber alle Seelen identisch sind mit der Überseele. Das vollständige Erkennen des Wesens, der Qualität, des Grundtons und des Grundmerkmals einer Seele (sei es die eines chemischen Atoms, einer Rose, einer Perle, eines Menschen oder eines Engels) würde das Wesen aller Seelen auf der Leiter der Entwicklung offenbaren. Und für alle ist es der gleiche [92] Vorgang: Wahrnehmung, der Gebrauch der Sinnesorgane einschliesslich des sechsten Sinnes, der Denkfähigkeit, um die Form und ihre Beschaffenheit zu erkennen; Konzentration, ein Willensakt, wodurch die Form von den Sinnen negiert wird und der Erkennende zu dem vordringt, was im Einklang mit seiner eigenen Seele schwingt. So kommt er zum Erkennen dessen, was die Form (oder der Erkenntnisbereich) ausdrücken will - ihrer Seele, ihres Grundtons, ihrer Qualität.

Dann folgt Kontemplation; der Erkennende identifiziert sich (wird wesenseins) mit dem, was in ihm selbst mit der Seele in der Form gleich ist. Beide sind dann eins, und es folgt daraus vollkommene Erkenntnis. Ein solches Erkennen der Wesensgleichheit zwischen zwei Menschen kann in sehr praktischer Weise erfolgen. Zwischen zwei Menschen, die einander sehen, hören und berühren können, kommt es zu einer Begegnung; es folgt eine oberflächliche Wahrnehmung der Form. Aber da ist noch ein weiteres Stadium möglich: der Mensch kann hinter der Form. zum Wesen seines Bruders vordringen; er kann jenen Bewusstseinsaspekt erspüren, der dem eigenen gleicht. Er verspürt den Wert in seines Bruders Leben, die Art seiner Pläne, seines Strebens und seiner Hoffnungen. Er erkennt seinen Bruder, und je besser er sich und seine eigene Seele kennt, um so genauer wird er seinen Bruder erkennen. Schliesslich kann er sich mit ihm identifizieren und so werden wie er, wissend und fühlend, was seines Bruders Seele fühlt und weiss. Das ist der verborgene Sinn der Worte im Johannesevangelium: «Wir werden sein wie ER, denn wir werden IHN erkennen wie ER ist».

Hier könnte [93] es nützlich sein, bestimmte Synonyme noch einmal anzuführen, die zum Verständnis der Lehrsprüche beitragen und den Studierenden befähigen können, diese auf sein Leben praktisch anzuwenden.

Geist                        Seele                         Körper.

Monade                   Ego                             Persönlichkeit.

Göttliches Selbst    Höheres Selbst         Niederes Selbst.

Wahrnehmender   Wahrnehmung          das, was wahrgenommen wird.

Erkennender           Erkenntnis                 das Erkenntnisfeld.

Denker                     Gedanke                     Denkfähigkeit (das ist der Kristall, der die Gedanken des Denkers widerspiegelt.)

Eine Hilfe ist auch die, daran zu denken:

1. dass auf der physischen Ebene der Wahrnehmende die fünf Sinne gebraucht, um zum Erkenntnisfeld zu gelangen;

2. dass unsere drei Ebenen in den drei Welten den dichten physischen Körper des Einen bilden, in dem wir leben, weben und sind;

3. dass auf der Astral- oder Emotionalebene die niederen Kräfte des Hellhörens und Hellsehens vom Wahrnehmenden benutzt werden; wenn sie missbraucht werden, offenbaren sie die Schlange im Garten;

4. dass der Wahrnehmende auf der Mentalebene Psychometrie und Symbologie (einschliesslich Numerologie und Geometrie) anwendet, um zu einem Verstehen der niederen mentalen Bereiche zu kommen;

5. dass der Wahrnehmende erst begriffen haben muss, dass diese drei niederen Bereiche den Form-Aspekt bilden, bevor er einen Zustand erreichen kann, in dem er das Wesen der Seele verstehen und die wahre Bedeutung der Lehrsprüche 40 und 41 begreifen kann;

6. dass er, an [94] diesem Punkt angekommen, beginnt, klar zu unterscheiden und das Denkvermögen als sechsten Sinn zu benützen; dadurch dringt er bis zu jener inneren Qualität der lebendigen Kraft vor, die hinter dem Erkenntnisfeld (der Form) liegt. Diese dynamische Qualität macht das Wesen der Seele innerhalb der Form aus und ist potentiell und tatsächlich allwissend und allgegenwärtig.

7. Nachdem der Wahrnehmende die Seele in jeder Form erkannt und vermittelst der eigenen Seele erreicht hat, stellt er fest, dass alle Seelen eins sind; er kann sich mit Leichtigkeit in die Seele eines Atoms oder eines Kolibris hineinversetzen; oder er kann seine Erkenntniskraft nach einer anderen Richtung hin ausdehnen und sich selbst als eins mit Gott und allen übermenschlichen Wesen erkennen.

42. Wenn der Wahrnehmende das Wort, die Idee (oder zugrunde liegende Bedeutung) und das Objekt miteinander verbindet, so nennt man diesen Vorgang einsichtiges Urteilen und Folgern.

In diesem und dem folgenden Lehrspruch führt Patanjali eine frühere Formulierung der Wahrheit weiter aus (siehe Lehrspruch 7). Er lehrt, dass Meditation von zweifacher Art ist:

1. Mit einem Objekt oder Saatgedanken, wobei das vernunftgemäss erklärende kritische Denken angewendet wird, also der Mentalkörper mit seiner Fähigkeit, konkrete Vorstellungen zu bilden und Gedankenformen zu schaffen.

2. Ohne Objekt oder Saatgedanke; dazu gehört eine andere Fähigkeit, die nur dann möglich ist, wenn man das konkrete Denken klar versteht und in der richtigen Weise anwendet. Diese richtige Anwendung setzt die Fähigkeit voraus, «die Modifikationen der [95] Denksubstanz zu stillen» und das «Chitta» (oder die Denksubstanz) so ruhig zu machen, dass es die Färbung des höheren Erkennens annehmen und die höheren Wirklichkeiten widerspiegeln kann.

Der Wahrnehmende muss zu einem Erkennen der Dinge kommen, die in tieferen Bewusstseinsschichten liegen, indem er zuerst die äussere Form wahrnimmt, sodann weiter in den inneren Zustand dieser Form eindringt zu dem, was die Erscheinungsform hervorbringt (eine Kraft von bestimmter Art), bis er zu dem kommt, was die Ursache von beiden ist. Diese drei Faktoren werden in diesem Lehrspruch genannt:

Die Idee             die Ursache, die der Form zugrunde liegt.

Das Wort           der Ton, der die Form erzeugt.

Das Objekt        die Form, die durch den Ton erzeugt wird, um die Idee auszudrücken.

Dieser Vorgang umfasst das Anfangsstadium der Meditation, und da das niedere Denkvermögen dabei gebraucht wird, ist es die differenzierende Methode. Die Dinge werden in ihre einzelnen Teile zerlegt, und es wird erkannt, dass sie - wie alles andere in der Natur - von dreifacher Art sind. Wenn man das einmal begriffen hat, wird die okkulte Bedeutung und Wichtigkeit aller Meditation offensichtlich; ebenso wird die Methode verständlich, wie man Okkultist wird. Der Okkultist, der zu einem Erkennen des Wesens der Dinge kommen will, denkt sich hinein in das Innere der Form, um den Ton zu entdecken, der sie geschaffen hat, oder das Kräfte-Aggregat, das die äussere Form erzeugt hat. Jedes Kräfte-Aggregat hat [96] seinen eigenen Ton, der durch das Zusammenspiel der Kräfte entsteht. Nachdem er das entdeckt hat, dringt er noch weiter in das Innere ein, bis er in Berührung kommt mit der Ursache, der Idee oder dem göttlichen Gedanken (der entweder vom planetarischen oder solaren Logos ausgeht), der den Ton veranlasst und so die Form geschaffen hat.

Beim schöpferischen Werk beginnt der Adept auf der inneren Seite. Da er die Idee kennt, die er in einer Form zu verkörpern sucht, spricht er gewisse Worte oder stimmt gewisse Töne an; dadurch ruft er ganz bestimmte Kräfte heran, die durch ihr Zusammenwirken eine Form von bestimmter Art erschaffen. Je höher die Ebene ist, auf welcher der Adept arbeitet, um so höher sind die Ideen, mit denen er in Berührung kommt, und um so einfacher oder vereinheitlichter sind die geäusserten Töne.

Studenten des Raja Yoga müssen jedoch die elementaren Tatsachen kennen, die alle Formen betreffen; sie müssen sich in ihrer Meditation mit der Differenzierung der Dreiheiten vertraut machen, damit sie schliesslich imstande sind, nach Belieben mit irgendeinem Aspekt in Verbindung zu kommen. Auf diese Weise wird das Wesen des Bewusstseins begriffen, denn der Wahrnehmende, der im Erkennen der Unterschiede geschult ist, kann sich in das Bewusstsein der Atome hineinversetzen, aus denen irgendeine körperliche Form besteht; und er kann weiter gehen und in das Bewusstsein der Energien eintreten, die das greifbare Objekt erzeugen. Diese Energien sind buchstäblich das, was man die «Diener des Wortes» (oder die «Heerscharen des Tones») zu nennen pflegt. Schliesslich kann er auch mit dem Bewusstsein jenes Grossen Lebensträgers in Berührung kommen, Der das Wort sprach, das die Erschaffung der Welt einleitete. Das sind die grossen Grenzmarken, aber dazwischen gibt es Lebewesen auf verschieden hoher Stufe, die für die Zwischentöne verantwortlich sind; und diese können daher wahrgenommen und erkannt werden.

43. Wahrnehmen ohne unterscheidendes Beurteilen wird erreicht, wenn der Einfluss des Gedächtnisses ausgeschaltet ist, wenn über Wort und Objekt hinaus nur noch die Idee vorhanden ist.

Hier handelt [97] es sich um «Meditation ohne Saatgedanken», frei vom vernunftgemässen Gebrauch des Denkvermögens und seiner Fähigkeit, in Einzelheiten zu denken. Das (durch das Erinnerungsvermögen in das Bewusstsein gebrachte) Objekt wird nicht mehr betrachtet; auch das Wort, durch dessen Kraft es geformt wird, wird nicht mehr gehört. Nur die Idee, deren Ausdruck beide sind, wird klar erkannt, und der Wahrnehmende betritt das Reich der Ursachen und Ideen. Das ist reine Kontemplation, frei von Formen und Gedanken; in ihr schaut der Wahrnehmende auf die Welt der Ursachen. Er sieht in reiner geistiger Anschauung die göttlichen Impulse; und nachdem er in kontemplativer Schau das innere Wirken des Reiches Gottes betrachtet hat, spiegelt er im ruhigen Mentalkörper (oder Denkvermögen) das wider, was er erschaut hat, und der Mentalkörper überträgt die gewonnene Erkenntnis in das physische Gehirn.

44. Die beiden Arten der Konzentration (Denken mit und ohne Beachtung von Unterschieden) können auch auf feinstoffliche Dinge angewendet werden.

Dieser Lehrspruch ist ohne lange Erklärung verständlich. Das Wort «feinstofflich» hat eine weite Bedeutung, aber (vom Standpunkt Patanjalis) wird es am häufigsten angewendet auf das essentielle [98] Etwas, das wir wahrnehmen, wenn wir die fünf Sinne gebraucht haben. So ist z.B. die Rose die objektive, greifbare Form, ihr Duft ist das «Feinstoffliche» hinter der Form. Dieses bringt für den Okkultisten die Qualität zum Ausdruck und ist das Erzeugnis der feineren Elemente, die dessen Offenbarwerden bewirken. Die gröberen Elemente erzeugen die Form; aber in der grobstofflichen Form ist etwas Feineres, das wir nur mit feinerem Wahrnehmungsvermögen und verfeinerten Sinnen erfassen können. In der Erläuterung der Übersetzung von Woods finden wir folgende Worte, die zu einem besseren Verständnis beitragen können; und wenn der fortgeschrittene Studierende über sie nachdenkt, wird er herausfinden, dass sie von tiefer okkulter Bedeutung sind:

« ... das Atom der Erde ist erschaffen aus den fünf Feuerelementen, unter denen das Feuerelement des Geruchs vorherrscht. In gleicher Weise ist das Atom des Wassers erschaffen aus vier Feuerelementen, unter denen das Feuerelement des Geschmacks vorherrscht. Das Atom des Feuers ist erschaffen aus drei Feuerelementen (ohne die des Geruchs und Geschmacks), unter denen das Feuerelement der Farbe vorherrscht. Ebenso ist das Feuerelement des Windes erschaffen aus den beiden Feuerelementen Geruch und Tastgefühl, wobei das letztere vorherrscht. Das Atom der Luft ist allein aus dem Feuerelement Schall (Ton) erschaffen.

Wenn man diese Vorstellung auf den Makrokosmos ausdehnt, werden wir finden, dass wir über die äussere Form Gottes in der Natur mit und ohne die unterscheidende Tätigkeit des Denkvermögens meditieren können. Wenn der Studierende dann Erfahrung im Meditieren erlangt hat, kann er durch einen Willensakt über das feinstoffliche innere Wesen Gottes meditieren, das sich nach dem grossen Gesetz der Anziehung manifestiert, und auf das Christus hinwies, [99] als er sagte: «Gott ist Liebe». Das Wesen Gottes, die grosse «Liebe» oder Anziehungskraft schafft die «feinstofflichen Dinge», die von den äusseren Dingen verhüllt werden.

45. Das Grobstoffliche führt zum Feinstofflichen, und dieses führt stufenweise fortschreitend zu dem Zustand reinen geistigen Seins, der Pradhana genannt wird.

Hier muss der Studierende die folgenden Grade oder Stufen beachten, durch die er gehen muss, wenn er in das Innerste vordringen will:

1. Das Grobstoffliche        Form, Bhutas, vernunftgemäss fassbare Hüllen.

2. Das Feinstoffliche         das Wesen oder die Qualitäten, die Tanmatras, die Indriyas; oder die Sinne, die Sinnesorgane und das, was wahrgenommen wird.

Diese Stufen lassen sich auf alle Ebenen der drei Welten, mit denen der Mensch zu tun hat, anwenden, und sie haben eine enge Beziehung zu den Gegensatzpaaren, die er auf der Emotionalebene ins Gleichgewicht bringen muss. Hinter diesem allem findet man den ausgeglichenen Zustand, Pradhana genannt, der die Ursache all dessen ist, was physisch greifbar und mit feineren Sinnen wahrnehmbar ist. Diesen ausgeglichenen Zustand kann man füglich unauflösbare Ursubstanz nennen: Materie mit Geist vereint, noch indifferenziert und ohne Form oder Unterscheidungsmerkmal. Hinter diesen dreien ist das absolute Prinzip zu finden; aber der inkarnierte Mensch vermag nur diese drei zu erkennen. Vivekananda sagt in seinem Kommentar:

«Die grobstofflichen Objekte sind nur die Elemente und all das, was aus ihnen geschaffen ist. Die fünf Objekte beginnen mit Tanmatras oder fünf Partikeln. Die Organe, das Denkvermögen (das [100] Aggregat aller Sinne), die Ichheit, die Denksubstanz (die Ursache aller Manifestation) und der Gleichgewichtszustand von Sattva, Rajas und Tamas (die drei Qualitäten der Materie A.B.) - genannt Pradhana (Urprinzip), oder Prakriti (Urmaterie), oder Avyakta (das Unmanifestierte); das alles ist inbegriffen in die Kategorie der fünf Objekte. Das Purusha (die Seele) allein ist von dieser Definition ausgenommen».

Vivekananda übersetzt hier offensichtlich Purusha mit Seele, aber es wird allgemein mit Geist übersetzt und bezieht sich auf den ersten Aspekt.

46. Das alles gehört zur Meditation mit einem Saatgedanken.

Die letzten vier Lehrsprüche befassten sich mit jenen Konzentrationsarten, die mit einem Objekt zu tun haben. Bei diesem Objekt kann es sich um etwas handeln, das vom Standpunkt der physischen Ebene aus gesehen feinstofflich oder ungreifbar ist; nichtsdestoweniger geht es dabei (vom Standpunkt des wirklichen oder geistigen Menschen) immer noch um das Nicht-Selbst. Er beschäftigt sich mit irgendeinem Aspekt, der ihn in Bereiche führen kann, die nicht in der Hauptsache zu denen des reines Geistes gehören. Wir müssen jedoch bedenken, dass alle vier Stufen notwendig sind und jeder weiteren geistigen Erkenntnis vorangehen müssen. Das Denkvermögen des Menschen ist an sich nicht so geschaffen, dass es die Dinge des Geistes begreifen kann. Indem der Mensch von einer Stufe der «Saatmeditation» zur anderen weitergeht, kommt er dem Sitz allen Wissens immer näher, und schliesslich wird er mit dem in Berührung kommen, worüber er meditiert. Dann wird das Wesen des [101] Denkers selbst als reiner Geist begriffen; alle die Schritte, Stufen, Objekte, Saatgedanken, Organe, Formen (fein- oder grobstofflich) schwinden dahin, und nur der Geist wird erkannt. Fühlen und Denken werden überschritten und nur Gott wird erlebt; die niederen Schwingungen werden nicht mehr gefühlt; Farben werden nicht mehr gesehen, es gibt nur noch Licht; geistiges Schauen hört auf, nur der Ton oder das Wort allein wird vernommen. Es verbleibt nur das «Auge Shivas», mit dem sich der Seher als wesensgleich erkennt.

Mit der oben beschriebenen vierfachen Ausschaltung sind die vier Erkenntnisstufen angedeutet, die den Menschen aus der Welt der Formen in das Reich des Formlosen führen. Es wird für den Leser interessant sein, die vier Stufen der «Meditation mit Saatgedanken» mit den vier obigen zu vergleichen. Jede Meditation, in der Bewusstsein erkannt wird, ist mit einem Objekt verbunden; in jeder Meditation, in welcher der Wahrnehmende sich dessen bewusst ist, was er sieht, besteht noch immer ein Zustand der Form-Wahrnehmung. Erst wenn alle Formen und selbst das Feld des Erkennens den Blicken entschwunden sind und der Erkennende sich als das erkennt, was er dem innersten Wesen nach ist (weil er in der Kontemplation seines reingeistigen Wesens ganz aufgegangen ist), erst dann kann die ideale, formlose, saatlose, objektlose Meditation erreicht werden. Hier versagt die Sprache des Okkultisten und auch des Mystikers, denn Sprache befasst sich mit dem Gegenständlichen und dessen Beziehung zum Geist. Darum wird dieser höhere Zustand der Meditation mit einem Schlaf- oder Trance-Zustand verglichen; aber er ist das [102] Gegenteil des physischen Schlafs oder des Trance-Zustands des Mediums, denn der geistige Mensch ist dabei hellwach auf jenen Ebenen, die sich nicht mit Worten erklären lassen. Er ist sich völlig seiner unmittelbaren geistigen Wesensgleichheit bewusst.

47. Wenn dieser überkontemplative Zustand erreicht ist, erlangt der Yogi durch die ausgeglichene Ruhe des Chitta (der Denksubstanz) reine geistige Erkenntnis.

Die in diesem Lehrsatz gebrauchten Sanskritworte können nur angemessen übersetzt werden, wenn man sie umschreibt, um den Sinn verständlich zu machen. Wörtlich könnte der Lehrspruch heissen: «Reines Erkennen kommt aus der Ruhe des Chitta». Hier muss daran erinnert werden, dass es sich um den Begriff der Reinheit in ihrem wahrsten Sinn handelt, der «Freisein von Begrenzung» und deshalb das Erlangen reiner geistigen Erkenntnis bedeutet. Daraus resultiert ein Kontakt der Seele mit der Monade oder dem Geist, und das Wissen um diesen gewonnenen Kontakt wird dem physischen Gehirn übermittelt.

Das ist nur in einem sehr fortgeschrittenen Stadium der Yoga-Praxis möglich, und auch dann nur, wenn die Denksubstanz völlig ruhig ist. Der Vater im Himmel wird erkannt, Der sich durch den Sohn der Mutter offenbart. Sattva (oder Rhythmus) allein tritt in Erscheinung, während Rajas (Aktivität) und Tamas (Trägheit, Dunkelheit) beherrscht und kontrolliert werden. Sattva bezieht sich auf den Rhythmus der Formen, in denen der Yogi wirkt; erst wenn diese den höchsten der drei Gunas (Qualitäten der Materie) zum [103] Ausdruck bringen, wird der höchste oder geistige Aspekt erkannt. Nur wenn Rajas vorherrscht, wird der zweite Aspekt erkannt; nur wenn Tamas vorherrscht, wird der niederste Aspekt erkannt. Zwischen dem Trägheits-Aspekt der Materie (oder Tamas) und dem Zustand der Körper des Yogi im höchsten Samadhi besteht eine interessante Ähnlichkeit. Die sattvische oder rhythmische Bewegung ist dann so vollkommen, dass sie dem Auge des Durchschnittsmenschen als Ruhezustand erscheint; dieser Zustand ist die Vergeistigung des tamasischen oder beharrenden Zustands der dichten Materie.

Im Kommentar zu den von Woods übersetzten Lehrsprüchen heisst es:

«Wenn die Denksubstanz nicht mehr verdunkelt ist durch Unreinheit, kann das Sattva der Denksubstanz, dessen Essenz Licht ist, klar und stetig strömen; es wird nicht mehr von Rajas und Tamas überwältigt. Das ist Klarheit. Wenn diese Klarheit im Zustand höchster meditativer Ausgeglichenheit eintritt, erlangt der Yogi die innere ungestörte Ruhe, das heisst, den Blitz (Sputa) der Erkenntnis, die nicht die Reihenfolge der gewöhnlichen Vorgänge des Erkennens durchläuft, sondern das Ding, wie es wirklich ist, zeigt. ... Unreinheit ist Zuwachs von Rajas und Tamas; es ist die Verschmutzung, die das charakteristische Merkmal der Verdunkelung hat. Klarheit ist frei davon». (Seite 93)

Dem Menschen ist es gelungen, durch Disziplin, durch Befolgen der Yoga-Regeln und [104] durch Ausdauer im Meditieren sich von allen Formen loszulösen und sich als wesensgleich mit dem Formlosen zu erkennen.

Er ist bis zum innersten Punkt seines Wesens vorgedrungen. Von diesem Punkt reiner geistiger Erkenntnis aus kann er weitergehen und durch Übung diese Erkenntnis verstärken. Er blickt auf sein Leben, sein Wirken und seine Umstände wie auf eine vorüberziehende Schau, mit der er nichts zu tun hat. Er kann aber den Scheinwerfer des reinen Geistes darauf richten; er selbst ist Licht und weiss sich als Teil des «Lichtes der Welt», und «in diesem Licht wird er Licht sehen». Er erkennt die Dinge, wie sie sind, und weiss, dass alles, was er bisher als Wirklichkeit angesehen hat, nur Illusion ist. Er ist durch die grosse Maya hindurch in das Licht eingedrungen, das sie erzeugt; und es gibt in Zukunft für ihn keinen Irrtum mehr. Sein Sinn für Werte ist richtig; sein Sinn für die richtigen Verhältnisse ist genau. Er unterliegt nicht mehr der Sinnestäuschung, sondern ist frei von Irrtum und Wahn. Wenn dieser Punkt erreicht ist, können Freude und Leid ihn nicht mehr berühren; er ist aufgegangen in der Gottseligkeit der Selbstverwirklichung.

48. Seine Wahrnehmung ist nun unfehlbar genau. (Oder: Sein Denken enthüllt nur die Wahrheit).

Beide Übersetzungen werden hier wiedergegeben, weil sie beide zusammen einen besseren Begriff geben als eine allein. Das Wort «genau» wird in seinem okkulten Sinn gebraucht und bezieht sich darauf, wie der Wahrnehmende alle Erscheinungsformen sieht und beurteilt. Die Welt der Illusion oder die Welt der Form muss «genau erkannt» werden. Das bedeutet wörtlich, dass die Beziehung einer jeden Form zu ihrem Namen oder dem Wort, das sie entstehen liess, so erkannt werden muss wie sie ist. Nach Vollendung des Entwicklungsprozesses muss jede Form göttlicher Manifestation genau auf [105] ihren Namen oder das Wort reagieren, das den ursprünglichen Impuls gab und so ein Leben ins Dasein brachte. Die erste Übersetzung betont diesen Gedanken und deutet auf die drei Faktoren hin:

1. Die Idee,

2. das Wort,

3. die sich ergebende Form.

Diese drei bringen zwangsläufig eine andere Dreiheit mit sich:

1. Zeit, welche die drei verbindet,

2. Raum, der die drei erzeugt,

3. Entwicklung, der Prozess der Erzeugung.

Ein Ergebnis davon ist die sichtbare Auswirkung des Gesetzes und die genaue Erfüllung der göttlichen Absicht. Das wird von dem Yogi klar erkannt, dem es gelungen ist, alle Formen aus seinem Bewusstsein auszuschalten, und der das wahrgenommen hat, was allen Formen zugrunde liegt. Wie er das macht, geht aus der zweiten Übersetzung hervor. Die nun vollkommen ruhige Denksubstanz kann, da der Mensch in dem Element (oder Bestandteil) polarisiert ist, das weder das Gehirn noch irgendeine der Hüllen ist, dem physischen Gehirn unfehlbar genau und richtig das übermitteln, was er im grossen Shekina-Licht wahrnimmt, das aus dem Allerheiligsten dorthin strömt, bis wohin der Mensch vorgedrungen ist. Die Wahrheit wird erkannt, und die Ursache jeder Form in allen Reichen der Natur ist [106] offenkundig. Das ist die Offenbarung der wahren Magie und der Schlüssel zum grossen magischen Werk, an dem alle wahren Yogis und Adepten teilnehmen.

49. Diese besondere Wahrnehmung ist einzigartig; sie offenbart das, was das rationale Denken (durch Beweise, Ableitung und Folgerung) nicht ergründen kann.

Die Bedeutung dieses Lehrspruchs ist die, dass das Denken des Menschen in seinen verschiedenen Aspekten und Anwendungen nur jene Dinge ergründen kann, die der Erscheinungswelt angehören; aber das Wesen und die Welt des Geistes kann nur durch die Wesenseinswerdung mit dem Geist offenbar werden. «Kein Mensch hat Gott je gesehen, nur der eingeborene Sohn im Schoss des Vaters hat ihn offenbart». Solange ein Mensch sich nicht als einen Sohn Gottes erkennt, bevor sich nicht der Christus in jedem Menschen manifestiert und das Christus-Leben vollen Ausdruck findet, und solange nicht der Mensch eins ist mit der inneren geistigen Wirklichkeit, die sein wahres Selbst ist, kann das hier behandelte Wissen (um Gott und Geist, unabhängig von Materie und Form) unmöglich erlangt werden. Das Zeugnis vieler Jahrtausende weist auf eine geistige Kraft oder ein geistiges Leben in der Welt hin. Aus den Lebenserfahrungen vieler Millionen soll die Folgerung resultieren, dass Geist existiert; die aus der Betrachtung der Welt (oder der grossen Maya) gewonnene Schlussfolgerung ist die, dass dahinter eine in sich selbst beharrende, aus sich selbst bestehende Ursache sein muss. Nur der Mensch, der über alle Formen hinausgehen und die [107] Begrenzungen in den drei Welten überwinden kann (Denken, Fühlen und die Dinge der Sinne, oder «Welt, Fleisch und Teufel»), kann absolut sicher und unbezweifelbar wissen, dass Gott ist, und dass er selbst Gott ist. Dann weiss er die Wahrheit, und diese Wahrheit macht ihn frei.

Das Feld des Wissens, die Werkzeuge des Wissens und das Wissen selbst sind überschritten, und der Yogi kommt zu der Erkenntnis, dass es nichts als Gott gibt; dass sein Leben eins ist und im mikrokosmischen Atom ebenso pulsiert wie im makrokosmischen Atom. Mit diesem Leben identifiziert er sich. Er findet es im Innersten seines eigenen Wesens; und er kann sich mit dem Leben Gottes im letzten Uratom verschmelzen, oder er kann seine Erkenntnis ausdehnen, bis er sich als das Leben des Sonnensystems erkennt.

50. Sie ist allen anderen Eindrücken feind oder verdrängt sie.

Solange der Betrachter diese Fähigkeit der wirklichen Wahrnehmung nicht hat, ist er auf drei andere Methoden der Wahrheitsfindung angewiesen; sie alle sind begrenzt und unvollkommen. Es sind:

1. Sinneswahrnehmung. Hierdurch ermittelt der im Körper Wohnende die Beschaffenheit der objektiven Welt durch das Medium seiner fünf Sinne. Sichtbares und Greifbares wird ihm bekannt, und er sieht, hört, riecht und schmeckt die Dinge der physischen Welt. Er befasst sich jedoch nur mit den Wirkungen, die durch das innere Leben hervorgerufen werden, aber er hat keinen Schlüssel zu den Ursachen oder innewohnenden Energien, deren Erzeugnis [108] sie sind. Die Folge davon ist, dass er sie unrichtig deutet, und das führt zu einem falschen Identitäts-Bewusstsein und zu falschen Massstäben für Werte.

2. Mentale Wahrnehmung. Durch den Gebrauch der Denkfähigkeit nimmt der Betrachter einen anderen Erscheinungsbereich wahr; er kommt mit der Gedankenwelt oder mit jener Art von Substanz in Verbindung, in der die Gedankenimpulse unseres Planeten und seiner Bewohner registriert sind; und er wird mit Formen bekannt, die durch jene Schwingungsimpulse erschaffen werden, die gewisse Gedanken und Wünsche zum Ausdruck bringen - zur Zeit hauptsächlich die letzteren. Infolge der durch Benutzung der Sinne irrigen Wahrnehmung und der falschen Auslegung der wahrgenommenen Dinge sind diese Gedankenformen schon an sich Entstellungen der Wirklichkeit; sie bringen nur jene niederen Impulse und Reaktionen zum Ausdruck, die von den niederen Naturreichen ausgehen. Man muss folgendes bedenken: der Mensch vermag die von den Menschheitsführern erschaffenen Gedankenformen erst dann aufzufangen und richtig wahrzunehmen, wenn er wirklich anfängt, seinen Mentalkörper zu gebrauchen (und sich nicht von ihm gebrauchen zu lassen).

3. Der überkontemplative Zustand. In diesem Zustand ist die Wahrnehmung unfehlbar genau, und die anderen Arten des Sehens werden in ihren richtigen Proportionen gesehen. Die Sinne werden vom Betrachter nicht mehr gebraucht, ausser wenn er sie für konstruktive Arbeit in den betreffenden Bereichen benötigt. Er hat nun die Fähigkeit, die ihn vor Irrtümern bewahrt, und einen Sinn, der ihm die Dinge so offenbart, wie sie sind. Die für diesen Zustand erforderlichen Vorbedingungen sind folgende:

1. Der Mensch [109] ist in seinem geistigen Wesen polarisiert.

2. Er erkennt sich selbst und wirkt als Seele, als Christus.

3. Sein Chitta oder seine Denksubstanz ist ruhig.

4. Das Sutratma oder der Lebensfaden funktioniert angemessen, und die niederen Körper sind mit ihm gleichgeschaltet; dadurch entsteht ein direkter Verbindungsweg mit dem physischen Gehirn.

5. Das Gehirn ist so trainiert, dass es nur als empfindlicher Empfänger von Wahrheits-Impressionen dient.

6. Das dritte Auge ist im Begriff, sich zu entfalten. Später, wenn die Zentren erweckt und unter bewusste Kontrolle gebracht sind, bringen sie den Menschen mit den verschiedenen Energie-Siebenheiten auf den sieben Ebenen des Systems in Verbindung; und da die wahrheiterkennende Fähigkeit entwickelt ist, ist er vor Irrtum und Gefahr geschützt.

Charles Johnston hat das in seinem Kommentar zu diesem Lehrspruch klar ausgedrückt:

«Jeder Zustand oder Bereich des Denkens, sozusagen jedes Wissensgebiet, das durch mentale und emotionale Energien erreicht wird, ist ein psychischer Zustand, genauso wie das Gedankenbild von einer Bühne mit den darauf befindlichen Schauspielern ein psychischer Zustand oder Bereich ist. Wenn das reine geistige Erschauen, wie das des Dichters, des Philosophen, des Heiligen, den ganzen Bereich ausfüllt, werden alle geringeren Vorstellungen und geistigen Bilder verdrängt. Dieser höhere Bewusstseinsinhalt schliesst alle niederen Inhalte aus. Dennoch enthält in einem gewissen Sinn das, was als Teil gesehen wird - sogar in der Schau des Heiligen - immer noch ein Element der Illusion, einen dünnen, psychischen [110] Schleier, wie rein und durchsichtig dieser auch sein mag. Es ist der letzte und höchste psychische Zustand».

51. Wenn auch dieser Zustand des Wahrnehmens überwunden oder verdrängt ist, dann ist das reine Samadhi erreicht.