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Fünftes Kapitel - Die vierte Einweihung….. Die Kreuzigung - Teil 1

Fünftes Kapitel

Die vierte Einweihung..... Die Kreuzigung

Leitgedanke:

«Ein Feuernebel und ein Planet,

Ein Kristall und eine Zelle,

Eine Qualle und ein Saurier,

Und Höhlen, wo die Höhlenmenschen wohnen;

Dann ein Sinn für Gesetz und Schönheit,

Dann ein Antlitz, das sich abwendet von dem Erdboden

Einige nennen es Evolution,

Andere nennen es Gott.

Gleich den Gezeiten in einer Meeresbucht,

Wenn der Mond neu und schmal ist,

Wallt und wogt herein

In unsere Herzen hohes Verlangen.

Es kommt von dem mystischen Ozean,

Dessen Ufer noch kein Fuss betrat

Andere nennen es Gott.

Ein Soldat, erfroren auf Wache,

Eine Mutter, verhungert für ihre Kinder,

Sokrates, den Schierling trinkend,

Und Jesus an dem Kreuzespfahl

Und Millionen, die sich erbärmlich und namenlos

auf dem geraden, schweren Lebenspfad mühen

Einige nennen es Opferung,

Andere nennen es Gott.

William Herbert Carruth

Fünftes Kapitel

Die vierte Einweihung..... Die Kreuzigung

1.
Wir kommen nun [175] zu dem Mysterium, das den Mittelpunkt des Christentums bildet, und zu der höchsten Einweihung, nach welcher der Mensch streben kann. Von der nächsten Einweihung, der Auferstehung und der damit verbundenen Himmelfahrt, wissen wir praktisch nichts, ausser der Tatsache, dass Christus von den Toten auferstanden ist. Die Auferstehungs-Einweihung ist in Schweigen gehüllt. Alles, was davon aufgezeichnet wurde, ist die Reaktion jener, die den Herrn kannten und liebten, und die Auswirkung auf die Geschichte der christlichen Kirche. Aber die Kreuzigung ist immer die hervorragende dramatische Episode gewesen, auf der das ganze Gebäude der christlichen Theologie errichtet worden ist. Auf sie ist der Nachdruck gelegt worden. Millionen Worte sind darüber geschrieben worden, und Tausende von Büchern und Kommentaren haben ihren Sinn zu erhellen und die Bedeutung ihres Geheimnisses zu erklären versucht. Durch die Jahrhunderte hindurch sind unzählige Gesichtspunkte dem Menschen zur Betrachtung unterbreitet worden. Darunter waren viele falsche Auslegungen, aber auch vieles, was das Göttliche wirklich zum Ausdruck brachte. Gott ist viele Male falsch dargestellt worden, und die Auslegung dessen, was Christus tat, wurde verzerrt durch eine Ausdrucksweise, die dem begrenzten Horizont der Menschen entsprach. Das Wunder der Ereignisse auf Golgatha wurde durch die erleuchteten Erfahrungen Gläubiger und Wissender enthüllt.

Eine neue Weltordnung trat ins Dasein, als Christus zur Erde kam, und von dieser Zeit an haben wir uns ständig vorwärts bewegt, auf ein neues Zeitalter zu, in dem die Menschen als Brüder leben werden, weil Christus starb, und die wahre Natur des Reichs Gottes auf Erden Ausdruck finden wird. Dafür garantiert der [176] Fortschritt in der Vergangenheit. Das Unmittelbare dieses Ereignisses ist bereits schon schwach verstanden worden von jenen, die, wie Christus gesagt hat, Augen haben zu sehen und Ohren zu hören. Unvermeidlich bewegen wir uns vorwärts zur Grösse, und Christus betonte dies in seinem Leben und Wirken. Wir haben bis jetzt diese Grösse nicht erreicht, aber Vorzeichen davon sind zu sehen. Es gibt bereits Anzeichen für das Heraufkommen dieser neuen Zeit, und die matten Umrisse einer neuen, dem Ideal näherkommenden Sozialstruktur, gegründet auf vollendete Menschlichkeit, sind erkennbar. Diese Vollendung ist von Wichtigkeit.

Eines der ersten Dinge, das zu erkennen wesentlich scheint, ist die klare Tatsache, dass die Kreuzigung Christi aus dem Bereich rein individueller Anwendung herausgehoben werden muss in das Reich der Allgemeingültigkeit und des Ganzen. Es mag vielleicht einige Bestürzung verursachen, wenn wir die Notwendigkeit betonen, uns darüber klar zu sein, dass der Tod des historischen Christus am Kreuze nicht in erster Linie jeden einzelnen Menschen betraf, der Anspruch auf einen Vorteil dadurch erhebt. Es war ein grosses kosmisches Ereignis. Seine Folgerungen und Ergebnisse beziehen sich auf die Massen der Menschheit und nicht auf das Einzelwesen im besonderen. Wir sind so geneigt, die vielen Folgerungen aus dem Opfer Christi für uns selbst, als eine persönliche Angelegenheit, anzusehen. Die Selbstsucht des geistigen Aspiranten ist oft sehr gross.

Wenn wir uns in intelligenter Weise dem Thema nähern, ist offensichtlich, dass Christus nicht gestorben ist, damit du und ich in den Himmel kommen. Er starb als das Ergebnis der wahren Natur des Dienstes, den er leistete, der Note, die er anschlug, und weil er ein neues Zeitalter einführte und den Menschen sagte, wie sie als Söhne Gottes leben müssten.

Wenn wir die Geschichte von Jesus am Kreuze betrachten, ist es deshalb wesentlich, sie in erweiterter und allgemeinerer Auffassung zu sehen, als dies gewöhnlich der Fall ist. Die meisten Abhandlungen und Schriften über dieses Thema sind polemisch und streitsüchtig, indem sie gewöhnlich das Zeugnis oder die mit dem Thema verbundene Theologie verteidigen oder angreifen. Oder sie mögen rein mystischer oder sentimentaler Natur in Ton und Gegenstand sein, indem sie sich mit der Beziehung des Einzelnen zur Wahrheit oder seiner persönlichen Errettung durch Christus [177] befassen. Doch auf diese Weise ist es möglich, dass die wirklichen Grundzüge der Erzählung und deren höchste Bedeutung verlorengegangen sind. Zwei Dinge jedoch ergeben sich aus dem Nachforschen und Fragen des vergangenen Jahrhunderts. Erstens, dass die Evangelien-Erzählung nicht einzigartig ist, sondern ihre Parallele in dem Leben anderer Gottessöhne findet; zweitens, dass Christus in seiner besonderen Person und Mission einzigartig war und aus einem spezifischen Winkel gesehen seine Erscheinung keinen Vorgänger hatte. Kein Student der vergleichenden Religionswissenschaften wird die christliche Parallele zu früheren Ereignissen in Frage stellen. Kein Mensch, der wahrhaft mit einem offenen Geist nachgeforscht hat, wird verneinen, dass Christus ein wesentlicher Teil in einer grossen Folge von Offenbarungen war. Gott hat niemals «sich ohne Zeugen gelassen» (Apostelgeschichte XIV/17). Die Erlösung der Menschheit ist dem Herzen des Vaters immer nahe gewesen. Hier sei ein Schriftsteller angeführt, der diese Kontinuität zu beweisen sucht.

«Zur Zeit seines Lebens oder, als über die Erscheinung des Jesus von Nazareth berichtet wurde, und einige Jahrhunderte vorher, war das Mittelmeer und die benachbarte Welt der Schauplatz einer grossen Anzahl von heidnischen Glaubensbekenntnissen und Ritualen gewesen. Da waren Tempel ohne Ende, geweiht den Göttern wie Apollo oder Dionysos bei den Griechen, Herkules bei den Römern, Mithra bei den Persern, Adonis und Arris in Syrien und Phrygien, Osiris, Isis und Horus in Ägypten, Baal und Astarte bei den Babyloniern und Karthagern usw. Grosse oder kleine Gesellschaften vereinigten Gläubige und Fromme in dem Dienst oder der Zeremonie und dem Glaubensbekenntnis für ihre Gottheiten. Eine aussergewöhnlich interessante Tatsache für uns ist, dass, trotz grosser geographischer Entfernungen und rassischer Unterschiede in den Details ihres Dienstes, die allgemeinen Umrisse ihrer Glaubensbekenntnisse und Zeremonien wenn nicht identisch einander auffallend ähnlich waren.

Ich kann natürlich nicht ausführlich auf diese verschiedenen Kulte eingehen, möchte aber ganz allgemein sagen, dass von allen oder fast allen oben erwähnten Gottheiten folgendes gesagt und geglaubt wurde:

1. Sie wurden an oder sehr nahe unserem Weihnachtstag geboren.

2. Sie wurden von einer jungfräulichen Mutter geboren. [178]

3. In einer Höhle oder einem unterirdischen Raume.

4. Sie führten ein anstrengendes Leben für die Menschheit.

5. Sie wurden Lichtbringer, Heiler, Vermittler, Retter, Befreier genannt.

6. Sie wurden jedoch von den Mächten der Dunkelheit bezwungen.

7. Und stiegen hinab in die Hölle oder Unterwelt.

8. Sie erhoben sich wieder von den Toten und wurden die Pioniere der Menschheit zur Himmlischen Welt.

9. Sie gründeten Vereinigungen von Heiligen und Kirchen, in welche die Jünger durch die Taufe aufgenommen wurden.

10. Ihrer wurde gedacht durch das Eucharistische Mahl».

(Heidnische und christliche Bekenntnisse, engl., von Edward Carpenter, S. 20, 21)

Diese Tatsachen können von jedem, der danach verlangt und genügend interessiert ist, dem Wachstum der Lehre des Erlösers im Weltidealismus nachzuspüren, nachgeprüft werden.

Edward Carpenter sagt im gleichen Buche (S. 129, 130):

«Die Zahl der heidnischen Gottheiten (meist Jungfrau-Geborene und getötet auf diese oder jene Art wegen ihres Bemühens, die Menschheit zu retten) ist so gross, dass es schwierig ist, Buch darüber zu führen. Der Gott Krishna in Indien und der Gott Indra in Nepal und Tibet vergossen ihr Blut für die Erlösung der Menschen. Buddha sagte nach Max Müller : «Werft alle Sünden der Welt auf mich, dass die Welt befreit sein möge!» Der Chinese Tien, der Heilige Eine, «eins mit Gott und seiend mit ihm in alle Ewigkeit», starb, die Welt zu erlösen. Der ägyptische Osiris wurde Erlöser genannt, so auch Horus, so der Perser Mithra, so der Grieche Herakles, der den Tod überwand, obwohl sein Körper sich in dem brennenden Gewand der Sterblichkeit verzehrte, aus dem er in den Himmel aufstieg. So wurde auch der phrygische Attis Erlöser genannt, gleicherweise der syrische Tammuz oder Adonis. Beide waren, wie wir gesehen haben, an einen Baum genagelt oder gebunden und erhoben sich dann wieder von ihren Bahren oder Särgen. Prometheus, der grösste und früheste Wohltäter der Menschheit, war, mit ausgestreckten Armen, mit Händen und Füssen an die Felsen des Kaukasus gefesselt. Bacchus oder Dionysos, geboren von der Jungfrau Semele und zum Befreier der Menschheit bestimmt (Dionysos Eleutherios, wie er genannt wurde), wurde [179] in Stücke zerrissen, ähnlich wie Osiris. Im fernen Mexiko war Quetzalcoatl, der Erlöser, von einer Jungfrau geboren, ward versucht und fastete vierzig Tage. Auch er wurde getötet und seine Wiederkunft mit Spannung erwartet, so dass, wie allgemein bekannt ist als Cortez kam, die Mexikaner, arme Wesen, ihn als den zurückkehrenden Gott begrüssten! In Peru und unter den Indianern Amerikas nördlich und südlich vom Äquator sind oder waren ähnliche Legenden zu finden.

Für oder wider diese Ideen zu argumentieren, ist nicht Aufgabe dieses Buches. Die einzige Frage von Wichtigkeit für uns ist, welche Rolle Christus als Welterlöser wirklich spielte und worin die Einzigartigkeit seiner Mission bestand. Was war diese Welt, in die er kam? Und welche Bedeutung hat sein Tod für den heutigen Durchschnittsmenschen? Sind die Tatsachen aus seinem Leben geschichtlich wahr, und gab es in der Menschheitsgeschichte eine Periode, in der er umherwandelte und sprach und ein gewöhnliches menschliches Leben lebte? Diente er seiner Rasse und kehrte er dann zu der Quelle zurück, von der er gekommen war? Die Tatsache des Christus bildet kein Problem für jene, die ihn kennen. Sie sind sich im klaren, über allen Streit hinaus, dass er ist. Sie wissen, wem sie geglaubt haben (II Tim. I/12). Für sie ist seine Wirklichkeit unwiderlegbar. Sie mögen Unterschiede machen in bezug auf die Betonung, die auf die verschiedenen theologischen Wiedergaben seiner Lebensgeschichte gelegt wird, aber Christus kennen sie, und mit ihm beschreiten sie den Lebenspfad. Sie mögen argumentieren, ob er Gott oder Mensch oder Gottmensch oder Menschengott war, aber in einem Punkt stimmen sie alle überein, und das ist dieser: er war Gott und Mensch, in einem Körper offenbart. Sie mögen sich abmühen, das Andenken an den toten Christus am Kreuz zu verewigen, sie mögen bestrebt sein, gemäss dem Leben des auferstandenen Christus zu leben, aber von der Wirklichkeit Christi selbst geben sie alle Zeugnis, und durch die Menge der Zeugen ist die Tatsache sicher erwiesen. Derjenige, der weiss, kann nicht zweifeln.

Das Christentum ist die Neuformulierung einer sehr alten Lehre. Es ist nicht neu. Es ist so wesentlich für die Errettung und das Glück der Welt, dass Gott es immer verkündet hat. Die [180] Evangeliumserzählungen sind zuverlässig und wahr, gerade weil sie die geistige Offenbarung der Vergangenheit ergänzen und heute in Begriffen von Christus neu ausgelegt werden. Für das Bedürfnis einer höher entwickelten und intelligenteren Menschheit wird diese Neudarstellung deshalb geeigneter und ihm angepasster sein. Aber es ist keine neue Sache, und Christus hat sich niemals in solcher Ausdrucksweise bezeichnet. Er sagte ein neues Zeitalter und das kommende Reich Gottes voraus. In äonenlangen Zeitläufen ist die Menschheit heute im Erfassen des Gottesbewusstseins erst zu dem Punkt gekommen, wo sie beginnt, eine Welt und eine Menschheit zu sehen, die für die neue Offenbarung bereit sind, eine Offenbarung, die auf der wahren christlichen Ethik und auf lebendigen christlichen Wahrheiten gegründet sein wird. Das, wofür Christus einstand, die Wahrheit, die er verkörpert, ist so alt, dass es niemals eine Zeit gegeben hat, in der sie nicht als ein Bedürfnis im menschlichen Bewusstsein gegenwärtig gewesen wäre, und dennoch ist diese Wahrheit so neu, dass es niemals eine Zeit geben wird, in der die Geschichte der Geburt und des Todes des Welterlösers nicht von höchster Bedeutung für den Menschen sein wird. Edward Carpenter beleuchtet dieses unaufhörliche und uralte Konzentrieren der Liebe Gottes und des Verlangens des Menschen in der Person eines Gottessohnes mit folgenden Worten:

«Wenn die geschichtliche Wirklichkeit Jesu irgendwie bewiesen werden könnte, so hätten wir Grund zu vermuten, was ich persönlich immer zu glauben geneigt gewesen bin, dass es auch einen historischen Kern für solche Persönlichkeiten wie Osiris, Mithra, Krishna, Herkules, Apollo u.a. gegeben hat. Tatsächlich verdichtet sich die Frage zu dieser: Hat es im Lauf der menschlichen Entwicklung sozusagen gewisse Knotenpunkte oder Perioden gegeben, in denen die psychologischen Strömungen zusammenliefen und sich verdichteten zu einem neuen Beginn, und ist jeder dieser Knoten oder Verdichtungspunkte durch das Erscheinen eines wirklichen heldenmütigen Menschen (Mann oder Frau) gekennzeichnet, der den notwendigen Antrieb für einen neuen Aufbruch schaffte und der daraus herrührenden Bewegung seinen Namen gab? Oder genügt es zu vermuten, dass die automatische Bildung solcher Knoten- oder Aufbruchspunkte ohne das Eingreifen eines besonderen Helden oder Genius vor sich ging, und sich vorzustellen, dass in jedem Fall die mythenbildende Tendenz der Menschen eine sagenhafte und inspirierende Gestalt schuf und diese während einer langen Zeit nachher als Gott verehrte?

Wie ich [181] vorher gesagt habe, diese Frage, so interessant sie sein mag, ist in Wirklichkeit nicht sehr wichtig. Die Hauptsache ist, dass der prophetische und schöpferische Geist der Menschheit von Zeit zu Zeit solche Gestalten als ideale Verkörperungen ihres «Herzenswunsches» entwickelt und ihre Häupter mit einem Heiligenscheine umgeben hat. Die lange Reihe von ihnen wird zu einem wirklichen Stück Geschichte, der Geschichte der Entwicklung des menschlichen Herzens und des menschlichen Bewusstseins». (Edward Carpenter, a. a. O., S. 217, 218)

Die Kreuzigung und das Kreuz Christi sind so alt wie die Menschheit selbst. Beides sind Symbole für das ewige Opfer Gottes, wie er sich selbst in den Form-Aspekt der Natur versenkt; dadurch wird Gott sowohl immanent als auch transzendent.

Wir haben gesehen, dass Christus vor allem im kosmischen Sinn erkannt werden muss. Dieser kosmische Christus hat von Ewigkeit her existiert. Dieser kosmische Christus ist Gottheit oder Geist, gekreuzigt im Universum. Er personifiziert die Opferung des Geistes auf dem Kreuz der Materie, der Form oder Substanz, damit alle göttlichen Formen, einschliesslich der menschlichen, leben können. Dies ist von den sogenannten heidnischen Glaubensbekenntnissen immer erkannt worden. Wenn der Symbolismus des Kreuzes weit zurück verfolgt wird, so wird man finden, dass er das Christentum Tausende von Jahren zurückdatiert, und dass zuletzt die vier Arme des Kreuzes wegfallen werden und nur das Bild des lebendigen himmlischen Menschen mit seinen im All ausgebreiteten Armen zurückbleiben wird. Nord, Süd, Ost, West darüber steht der kosmische Christus, genannt «das feste Kreuz der Himmel». Auf diesem Kreuz ist Gott ewig gekreuzigt.

«Der Himmel ist, mystisch gesprochen, der Tempel und das ewige Bewusstsein Gottes. Sein Altar ist die Sonne, deren vier Arme oder Strahlen die vier Ecken oder das Kardinalkreuz des Universums bezeichnen. Sie sind zu den vier festen Zeichen des Tierkreises geworden, und als die vier mächtigen heiligen Tierzeichen sind sie beides: kosmisch und spirituell. ... Diese vier sind bekannt als die geweihten Tiere des Zodiak, während die Zeichen selbst die Grundelemente des Lebens: Feuer, Erde, Luft und Wasser darstellen». (Das himmlische Schiff des Nordens, engl., von E. V. Straiton, Vol. 1, S. 104)

Diese vier [182] Zeichen sind Stier, Löwe, Skorpion und Wassermann, und sie bilden vor allem das Kreuz der Seele, das Kreuz, auf dem die zweite Person der göttlichen Dreieinigkeit gekreuzigt ist. Christus personifizierte in seiner Mission diese vier Aspekte, und als der kosmische Christus zeigte er in seiner Person die Eigenschaften, für die jedes Zeichen stand. Sogar der primitive, unentwickelte und unwissende Mensch wusste von der Bedeutung des in der Materie geopferten und auf dem vierarmigen Kreuz gekreuzigten Geistes. Diese vier Zeichen sind eindeutig in der Bibel zu finden und werden in unserem christlichen Glauben als die vier heiligen Tiere betrachtet. Der Prophet Ezechiel bezieht sich auf sie mit den Worten:

«In bezug auf ihre Gestalt hatten die vier das Aussehen eines Menschen und eines Löwen, von der rechten Seite; das Aussehen eines Ochsen von der linken Seite; sie hatten auch das Aussehen eines Adlers». (Ezechiel I/10)

In der Offenbarung finden wir wieder dieselbe astrologische Symbologie:

«Und vor dem Stuhl war ein gläsernes Meer gleich dem Kristall, und mitten am Stuhl und um den Stuhl vier Tiere, voll von Augen, vorn und hinten.

Und das erste Tier war gleich einem Löwen, und das zweite Tier war gleich einem Kalb, und das dritte Tier hatte ein Antlitz wie ein Mensch, und das vierte Tier war gleich einem fliegenden Adler». (Offenbarung, IV/6, 7)

«Das Gesicht des Menschen» ist das alte Zeichen des Wassermanns, das Zeichen des Menschen, der einen Wasserkrug trägt, auf den Christus sich bezog, als er seine Jünger in die Stadt sandte mit den Worten: «Siehe, wenn ihr in die Stadt eintretet, so werdet ihr dort einen Mann finden, der einen Wasserkrug trägt. Folget ihm in das Haus, in welches er eintritt». (Lukas XXII/10) Dies ist das Tierkreiszeichen, in das wir gerade eintreten. Es wird gut sein, hervorzuheben, dass dies astronomisch wahr und nicht nur eine Behauptung der Astrologen ist. Das Symbol, das für das [183] Tierkreiszeichen Leo steht, ist der Löwe. Dies Zeichen ist das Symbol der Individualität, unter seinem Einfluss erreicht die Menschheit das Selbstbewusstsein, und der Mensch kann als Einzelwesen handeln. Christus betonte in seiner Lehre die Bedeutung des Individuums, und durch sein Leben führte er uns den unübertrefflichen Wert des Individuums vor Augen, seine Vervollkommnung, seinen Dienst und endlich sein Opfer im Interesse des Ganzen. Das Sternbild Adler wird immer als austauschbar mit dem Zeichen Skorpion = Schlange betrachtet, und es wird in dieser Verbindung häufig gebraucht in Anbetracht des festen Kreuzes des kosmischen Erlösers. Skorpion ist die Schlange der Illusion, von der uns die Christusnatur endlich befreit, und der täuschenden Tücke dieser Schlange Skorpion unterlag Adam im Garten Eden. Das «Gesicht des Ochsen» ist das biblische Symbol für das Zeichen Taurus, den Stier, jener Religion, die der jüdischen Offenbarung unmittelbar vorausging und die ihre Vertreter in Ägypten und in den Mithras-Mysterien fand. Auf dieses feste Kreuz sind alle Welterlöser, der Christus des Westens nicht ausgenommen, ewig gekreuzigt worden, um die Menschen an die göttliche Absicht zu erinnern, die auf dem göttlichen Opfer beruht.

Die frühen Kirchenväter erkannten diese Wahrheit und dass die an den Himmel geschriebene Geschichte eine bestimmte Beziehung zur Menschheit und zur Entwicklung der menschlichen Seele hat. Clemens von Alexandria sagt uns, dass «der Pfad der Seelen zur Himmelfahrt durch die zwölf Zeichen des Tierkreises führt», und die heutigen kirchlichen Feste sind auf die Zeiten und Jahreszeiten gegründet, nicht auf historische Daten in Verbindung mit den hervorragenden religiösen Gestalten, auf die sie sich beziehen. Wir sahen, wie bei der Geburt zu Bethlehem erst nahezu vier Jahrhunderte nach Christi Geburt das Datum astronomisch festgelegt wurde. Die Verbindung von Virgo (Jungfrau) mit dem Stern im Osten (Sirius) und den drei Königen (symbolisiert durch den Oriongürtel) war der entscheidende Faktor. Die Jungfrau erschien im Osten, während die Horizontlinie durch ihr Zentrum ging, und dies ist einer der bestimmenden Faktoren für die Lehre von der Jungfräulichen Geburt.

Ein anderes [184] Beispiel kann hier angeführt werden, um den astronomischen Hintergrund unserer christlichen Feste zu illustrieren. Zwei Feste der römisch-katholischen und der anglikanischen Kirche werden abgehalten: Die Himmelfahrt der Jungfrau und die Geburt der Jungfrau Maria. Das eine wird am 15. August, das andere am 8. September gefeiert. Jedes Jahr kann man etwa um die Zeit von Maria Himmelfahrt die Sonne in das Zeichen der Jungfrau eintreten sehen, und das ganze Sternbild ist eingehüllt und verborgen in dem strahlenden Glanz der Sonne. Ungefähr am 8. September kann man das Sternbild Jungfrau wieder langsam hervortreten sehen, wenn es sich aus dem Strahlenglanz der Sonne löst. Dies nennt man die Geburt der Jungfrau.

Ostern wird immer astronomisch bestimmt. Diese Tatsache verdient die sorgfältigste Beachtung. Allen christlichen Menschen sollte diese Mitteilung zugänglich sein, denn dann und nur dann können sie voll und ganz verstehen, was Christus in seiner kosmischen Natur auf der Erde zu vollbringen hatte. Jenes Ereignis war von einer weit grösseren Bedeutung, als nur einfach die Erlösung irgendeines menschlichen Wesens zuwege zu bringen. Es bedeutet weit mehr als die Grundlage des Glaubens einiger Millionen Menschen an ihre himmlische Zukunft. Die Inkarnation Christi kennzeichnet ausser ihrem historischen Wert und ausser dem Grundton, den er aussandte das Ende eines grossen kosmischen Zyklus, aber sie kennzeichnet auch das Öffnen jener Tür in das Reich, die sich früher nur gelegentlich für den Eintritt jener Gottessöhne geöffnet hat, die über die Materie gesiegt hatten. Nach der Ankunft Christi stand die Tür für alle Zeiten weit offen, und das Reich Gottes begann sich auf Erden zu bilden. Im Lauf der langen Zeit sind vier grosse Ausdrucksformen göttlichen Lebens, vier Formen des in der Natur immanenten Gottes auf unserem Planten erschienen. Wir nennen sie die vier Naturreiche. Sie sind symbolisch die planetarische Spiegelung der vier Arme des Zodiakalkreuzes, auf dem der kosmische Christus gekreuzigt zu sehen ist. Durch die Jahrhunderte hindurch haben die Menschen den auf dem Kreuz der Materie geopferten kosmischen Christus symbolisiert und so das Wissen von jenem Ereignis im Bewusstsein der [185] Menschheit lebendig erhalten. Im planetarischen Sinn stellen die vier Naturreiche ebenfalls den Geist Gottes, ausgestreckt auf dem Kreuz der materiellen Form, dar, um schliesslich das Erscheinen des Reichs Gottes auf Erden möglich zu machen. Das bedeutet die Vergeistigung der Materie und der Form, das Aufnehmen der Materie in den Himmel (= die Himmelfahrt der Materie) und die Befreiung Gottes aus der kosmischen Kreuzigung. Der Dichter Joseph Plunkett spricht davon in folgenden schönen Versen:

«Ich sehe sein Blut in der Rose

Und in den Sternen die Herrlichkeit seiner Augen.

Sein Körper schimmert inmitten ewigen Schnees.

Seine Tränen fallen von den Himmeln.

Ich sehe sein Angesicht in jeder Blume.

Der Donner und der Vögel Lieder

sind seine Stimme und die durch seine Macht gemeisselten Felsen sind seine geschriebenen Worte.

Alle Pfade haben seine Füsse getragen.

Sein starkes Herz bewegt das ewig rollende Meer.

Seine Dornenkrone ist verwoben mit jedem Dorn.

Sein Kreuz ist jeder Baum».

(Zitiert in: Das Testament des Menschen, engl., von Arthur Stanley)

Das Wunder der Mission Christi liegt in der Tatsache, dass er, obwohl er einer aus einer langen Reihe vollkommener, göttlicher Menschen war, eine einzigartige Funktion hatte. Er brachte die symbolische Darstellung von Gottes ewigem Opfer am festen Kreuz des Himmels, von dem die Sterne Zeugnis geben, das in der Religionsgeschichte so erfolgreich verschleiert worden ist und dem noch heute die Anerkennung verweigert wird, in sich zusammenfassend zum Abschluss. Der Himmlische Mensch schwebt noch heute am Himmel, so, wie es seit Erschaffung des Sonnensystems war, und, wie Christus sagte: «Sobald ich von der Erde erhöht bin, werde ich alle Menschen an mich ziehen» (Joh. XII/32), so werden nicht nur alle Menschen, sondern schliesslich alle Lebensformen in allen Reichen ihr Leben nicht als ein erzwungenes, sondern als ein freiwilliges Opfer an die endgültige Herrlichkeit Gottes [186] zurückgeben. «Wer sein Leben um meinetwillen lässt, der wird es finden» (Matth. X/39) ist eine Tatsache, die oft vergessen wird und die einen bestimmten bezug auf die Geschichte der Kreuzigung in ihren weiteren Folgerungen hat. Erst durch die Vollendung des letzten der manifestierten Reiche, des menschlichen, wird das Kreuz und sein Zweck erfüllt, und dies bezeugt der Tod Christi.

Aber der wichtige Punkt obwohl er den Höhepunkt in dem evolutionären Ablauf darstellt ist nicht sein Tod, sondern die darauf folgende Auferstehung, welche die Bildung und das Herabkommen eines neuen Reichs auf Erden symbolisiert, in dem die Menschen und alle Formen frei vom Tod sein werden, eines Reichs, von dem der vom KREUZ freigekommene MENSCH das Symbol sein sollte. Damit ist der Kreis vollendet, von dem MENSCHEN im All mit in Form eines Kreuzes ausgestreckten Armen, über eine Reihe von gekreuzigten Erlösern, die uns immer wieder sagen, was Gott für das Universum getan hat, bis wir zu dem höchsten Sohn Gottes kommen, der den Symbolismus in all seinen Stadien auf die physische Ebene herabtrug. Er erhob sich dann von den Toten, um uns zu sagen, dass die lange Aufgabe der Evolution endlich ihre letzte Phase erreicht habe, wenn wir so wählen und bereit sind, so zu handeln, wie er es tat, wenn wir den Preis zahlen und, indem wir durch die Tore des Todes hindurchgehen, zu einer freudvollen Auferstehung gelangen. Paulus suchte uns diese Wahrheit zu vermitteln, obwohl seine Worte so oft verdreht worden sind durch Übersetzung und unrichtige theologische Auslegung.

«Ich verlange danach, Christus zu erkennen und die Kraft, welche in seiner Auferstehung ist, und teilzuhaben an seinen Leiden und sogar zu sterben, wie er starb, in der Hoffnung, dass ich zur Auferstehung vom Tod gelangen möchte. Ich sage nicht, dass ich dieses Wissen bereits erlangt und Vollkommenheit bereits erreicht habe, aber ich jage danach» (Philister III/10, 11, Weymouth-Übersetzung).

Nach dieser Stelle scheint es nicht so, dass Paulus als für die Erlösung ausreichend erachtet hätte, wenn jemand einfach glaubt, Christus sei für seine Sünden gestorben.

Lasst mich [187] hier kurz und bündig feststellen, was, wie es scheint, wirklich geschah, als Christus am Kreuz starb. Er gab den Form-Aspekt auf und identifizierte sich als MENSCH mit dem Lebensaspekt der Gottheit. Er befreite uns dadurch von der Formseite des Lebens, der Religion und der Materie und zeigte uns die Möglichkeit eines Daseins in der Welt und doch nicht von der Welt (Joh., XVII/16), eines Lebens als Seelen, befreit von den Fesseln und Begrenzungen des Fleisches, doch auf Erden wandelnd. In der tiefsten Tiefe ihres Seins ist die Menschheit des Todes müde. Ihre einzige Beruhigung liegt in dem Glauben an den endlichen Sieg über den Tod, und dass eines Tages der Tod vernichtet sein wird. Darauf werden wir im nächsten Kapitel genauer eingehen, aber nebenbei mag gesagt sein, dass die Menschheit derart von dem Gedanken an den Tod erfüllt ist, dass es für die Theologie die Linie des geringsten Widerstandes bedeutete, wenn sie den Tod Christi betonte, und wenn sie unterliess, den Hauptnachdruck auf die Erneuerung des Lebens zu legen, wozu jener Tod das Vorspiel war. Diese Einstellung wird zu Ende gehen, denn die heutige Menschheit verlangt mehr einen lebendigen Christus als einen toten Erlöser. Sie verlangt ein Ideal, so allgemeingültig in seinen Folgerungen, so umfassend in Zeit und Raum und Leben, dass die beständigen Erklärungen und die endlosen Versuche, die Theologie den Erfordernissen einer tiefempfundenen und lebendigen Wahrheit anzupassen, nicht länger nötig sein werden. Die Vorstellung von einem zornigen Gott, der ein Blutopfer fordert, ist überlebt. Intelligente Menschen müssen heute darüber einig sein, dass ... «der moderne Gedanke nicht mit den einfachen christlichen Ideen in Konflikt gerät, aber bezüglich des Sühneopfers für diese schlimmen Veranlagungen liegt der Fall anders. Wir können die abstossende theologische Lehre nicht länger akzeptieren, dass aus irgend einem mystischen Grund ein Sühneopfer notwendig war. Dies verletzt entweder unsere Auffassung von Gottes Allmacht oder die von Gottes All-Liebe». (Das Heidentum in unserer Christenheit, engl., von Arthur Weigall, S. 152) Die Menschheit wird den Gedanken eines Gottes annehmen, der die Welt so liebte, dass er seinen Sohn sandte, damit dieser uns den letzten Ausdruck des kosmischen Opfers gebe, und damit er uns sage, wie er es am Kreuz [188] tat: «Es ist vollbracht!» (Joh. XIX/30) Wir können nun «eintreten in die Freude des Herrn». (Matth. XXV/21) Die Menschen lernen zu lieben, und sie werden und tun es bereits eine Theologie verwerfen, die Gott als eine beispiellose Macht von Härte und Grausamkeit in der Welt hinstellt.

Die ganze Richtung des menschlichen Lebens neigt dazu, diese alten, auf Furcht gegründeten Lehrsätze zu verwerfen und statt dessen mutig den Tatsachen ins Auge zu sehen und den Verantwortlichkeiten, die angeboren sind im geistigen Geburtsrecht.

2
Wenn die Kirche die Betonung auf den lebendigen Christus legt und erkennt, dass ihre Formen und Zeremonien, ihre Feste und Rituale aus einer sehr alten Vergangenheit ererbt sind, dann werden wir das Entstehen einer neuen Religion erleben, die von der Form und der Vergangenheit so verschieden sein muss, wie das Reich Gottes sich unterscheidet von der Materie und der Körpernatur. Die ganze orthodoxe Religion kann als ein Kreuz angesehen werden, an dem wir Christus gekreuzigt haben; sie hat als Hüter der Zeitalter und als Bewahrer der alten Formen ihren Zweck erfüllt, aber sie muss in ein neues Leben eintreten und durch die Auferstehung hindurchgehen, wenn sie den Bedürfnissen der tiefgeistigen Menschheit von heute entsprechen soll. «Nationen wie auch Individuen», wird uns gesagt, «sind entstanden nicht nur durch das, was sie erwerben, sondern durch das, worauf sie verzichten, und dies gilt heute auch für die Religion». (Das höchste geistige Ideal, engl., von Radhakrishnan, Hibbert Journal, Oktober. 1936) Ihre Form muss auf dem Kreuz Christi geopfert werden, damit sie zu wahrem und erneuerten Leben aufersteht, um den menschlichen Bedürfnissen zu entsprechen. Ein lebendiger Christus, nicht ein sterbender Erlöser sei ihr Motiv! Christus ist gestorben. Lasst darüber keinen Zweifel aufkommen. Der historische Christus ging für uns durch das Tor des Todes. Der kosmische Christus stirbt noch auf dem Kreuz der Materie. Dort hängt er fest, bis der [189] letzte müde Pilger seinen Weg heim finden wird. (Die Geheimlehre, Bd. I/229) Der planetarische Christus, das Leben der vier Naturreiche, ist seit altersher auf den vier Armen des planetarischen KREUZES gekreuzigt. Aber das Ende dieser Periode der Kreuzigung ist uns nahe. Die Menschheit kann vom Kreuz herabsteigen, wie Christus, und in das Reich Gottes als ein lebendiger Geist eintreten. Die Söhne Gottes sind bereit, offenbart zu werden, heute wie niemals zuvor.

«Der Geist selbst gibt unserem eigenen Geist Zeugnis, dass wir Kinder Gottes sind. Sind wir Kinder, dann sind wir auch Erben Erben von Gott und Miterben mit Christus; wenn wir wirklich teilhaben am Leiden Christi, um teilzuhaben an seiner Herrlichkeit.

Alle Kreatur sehnt sich, die Offenbarung der Söhne Gottes zu sehen. Denn die Schöpfung wurde der Vergänglichkeit unterworfen, nicht durch eigene Wahl, sondern durch den Willen dessen, welcher sie so sich unterworfen hat; jedoch mit der Hoffnung, dass die Schöpfung zuletzt selbst von der Knechtschaft des Verfalls befreit werde, um sich der Freiheit zu erfreuen, die mit der Herrlichkeit der Kinder Gottes kommt.

Denn wir wissen, dass alle Kreatur stöhnt in den Geburtswehen bis zur heutigen Stunde. Und nicht allein sie, auch wir selbst, obwohl wir den Geist als einen Vorgeschmack der Seligkeit besitzen, sehnen uns nach der vollen Sohnschaft und der Erlösung unserer Körper». (Römer VIII/1624, Weymouth-Übersetzung)

Wir alle gehen dieser Verherrlichung Gottes entgegen. Einige Menschensöhne haben dieses Ziel durch die Verwirklichung ihrer Göttlichkeit bereits erreicht.

Es ist von Interesse, zu bemerken, wie die zwei grossen Zweige des orthodoxen Christentums, der östliche, vertreten durch die Griechische Kirche, und der westliche, vertreten durch die Römisch-katholische und die Protestantische Kirche, zwei grosse Auffassungen bewahrt haben, die der Menschengeist bei seiner langen Entwicklungsreise hinweg von Gott und zurück zu Gott nötig hatte. Die Griechische Kirche hat immer den auferstandenen [190] Christus betont. Der Westen hat den gekreuzigten Erlöser betont. Das östliche Christentum betrachtet die Auferstehung als den Angelpunkt ihrer Lehre. Die Notwendigkeit des Absterbens für die materiellen Dinge, die Neigung des Menschen, zu sündigen und Gott zu vergessen, und die Notwendigkeit für einen Wandel des Herzens und der Absichten, sind der Beitrag des westlichen Christentums zu den religiösen Glaubensbekenntnissen in der Welt. Aber wir sind so ausschliesslich mit dem Gegenstand der Sünde beschäftigt gewesen, dass wir unsere Göttlichkeit vergessen haben; und wir sind so intensiv individuell in unserem Bewusstsein gewesen, dass wir einen Erlöser geschildert haben, der sein Leben für uns als Einzelwesen gab, da wir glauben, dass wir, wäre er nicht gestorben, niemals in den Himmel kommen könnten. Auf diese Wahrheiten hat der östliche Christ wenig Betonung gelegt; er legt das Gewicht auf den lebendigen Christus und die göttliche Natur des Menschen. Ganz sicher nur, wenn das Beste der in diesen zwei Richtungen dargebotenen Wahrheiten zusammengebracht und dann neu ausgelegt wird, können wir zu der grundlegenden Auffassung gelangen, von der wir ohne Fragen und mit der Gewissheit annehmen können, dass sie genug umschliesst, um wirklich göttlich zu sein. Es gibt Sünde, und Opfer ist immer verbunden mit dem Inordnungbringen unserer sündhaften Naturen. Es ist ein Tod, durch den man zum Leben kommt, und die Notwendigkeit, «täglich zu sterben», wie Paulus sagt, damit wir leben können. Christus starb für alles, was sein Dasein in der Form hatte, und er hinterliess uns ein Beispiel, um seinen Fussspuren zu folgen. Aber wir im Westen haben die Verklärung vergessen und die Berührung mit dem Göttlichen verloren, und wir sollten nun bereit sein, von dem östlichen Christen das anzunehmen, woran er so lange geglaubt hat.

Diese Gnosis hat es in der Welt immer gegeben. Lange bevor Christus kam, wurde die Göttlichkeit des Menschen bezeugt, und göttliche Inkarnationen wurden anerkannt.

Die Gnostiker erhoben Anspruch, Hüter einer Offenbarung zu sein, die ihnen nicht allein gehörte, sondern die schon immer in der Welt vorhanden war. G. R. S. Mead, eine Autorität auf diesem Gebiet, bemerkt: «Die Ansicht dieser Gnostiker war praktisch die, dass die gute Nachricht von Christus (dem Christos) in der Zusammenfassung der Geheimlehren der Mysterienschulen aller Völker [191] bestand, deren aller Ziel die Enthüllung des Geheimnisses des MENSCHEN war. In Christus wurde das Mysterium des Menschen enthüllt». (Dreimal grösster Hermes, engl., von G. R. S. Mead, Bd. I, S. 141)

Wenn also die Tatsache erwiesen ist, dass da eine Folge von Offenbarungen bestand, und dass Christus einer der in langer Reihe sich zeigenden Gottessöhne war, worin unterschied sich dann seine Person und seine Mission von jener der anderen? Wir können und müssen mit Pfleger übereinstimmen, wenn er sagt: «Die Inkarnation Gottes in Christus ist nur eine grössere und vollkommenere Theophanie (Gotteserscheinung, d. Ü). in einer Reihe anderer, weniger vollkommener Theophanien, die den Weg dafür bereiteten durch Umformung der menschlichen Natur, die sie annahmen. ... Inkarnation ist kein Wunder im strengen, groben Sinn des Wortes, ebensowenig wie die Auferstehung, das heisst die innere Einung von Materie und Geist, etwas der allgemeinen Daseinsordnung Fremdes ist». (Geister, die um Christus ringen, engl., von Karl Pfleger, S. 242) Worin unterschied sich somit die Mission Christi von den anderen?

Der Unterschied lag in dem Grad der Entwicklung, den die Menschheit selbst erreicht hatte. In dem von Christus eingeleiteten Zyklus sind die Menschen erst tatsächlich menschlich geworden. Bis zu dieser Inkarnation waren es immer nur einige gewesen, die, nachdem sie Menschlichkeit erreicht hatten, weitergingen, um Göttlichkeit zu offenbaren. Nun aber ist die gesamte Menschheit an dem Punkt, wo sie das tun kann. Obgleich die Menschen von heute vorwiegend tierisch-emotionell sind, haben sie doch durch den Erfolg des Evolutionsvorganges, der zu unserem weitverbreiteten Erziehungssystem und dem allgemein hohen Stand des mentalen Gewahrseins geführt hat, den Punkt erreicht, an dem die Massen selbst, wenn man ihnen entsprechende Ermutigung gibt, in das «Reich Gottes eintreten» können. Wer kann sagen, ob es nicht dieses Begreifen ist, so undeutlich und ungewiss es auch sein mag, das die allgemeine Unruhe und die weitverbreitete Entschlossenheit zu besseren Daseinsbedingungen veranlasst? Dass wir das Reich Gottes in materiellen Begriffen auslegen, ist zuerst unvermeidlich, aber es ist ein hoffnungsvolles und geistiges Zeichen, dass wir heute [192] so geschäftig das Haus reinigen und damit versuchen, das Niveau unserer Zivilisation zu heben. Christus wurde Mensch, als die Menschheit zum ersten Mal ein vollendetes Ganzes war, soweit es die Formseite ihrer Natur mit allen physischen, psychischen und mentalen Eigenschaften betraf, die das menschliche Tier charakterisieren. Er gab uns Kunde davon, was der vollkommene Mensch sein könnte, der die Formseite als den Tempel Gottes ansieht, jedoch das ihm innewohnende Göttliche erkennt und danach strebt, dies zuerst in seinem eigenen Bewusstsein und dann vor der Welt herauszustellen. Dies tat Christus. Immer waren die Mysterien dem einzelnen Menschen enthüllt worden, der sich vorbereitet hatte, in das verborgene Arkanum oder den Tempel einzudringen, doch Christus enthüllte sie der ganzen Menschheit und stellte das Drama des Gottmenschen vor der ganzen Menschheit dar. Dies, der lebendige Christus, war sein Hauptziel. Das haben wir vergessen in der Betonung, die wir auf den Menschen selbst gelegt haben, auf seine Beziehung zu sich selbst als einen Sünder, und zu Gott als den, gegen den er gesündigt hat.

Nochmals, jede grosse Organisation, Religionsgruppe oder jeder Kult irgendwelcher Art hat mit einer Persönlichkeit begonnen, und von dieser Persönlichkeit hat sich die Idee in die Welt hinaus verbreitet und hat mit der Zeit Anhänger gesammelt. Christus brachte auf diese Weise das Reich Gottes auf die Erde herunter. Es hatte in den himmlischen Stätten immer bestanden. Er verursachte seine Materialisierung, so dass es im Bewusstsein der Menschen eine Tatsache wurde.

Bereitschaft für das Reich und das Heraufkommen der Zeit, da Menschen in grosser Zahl in die Mysterien eingeweiht werden könnten, erforderte von ihnen eine Erkenntnis der Unwürdigkeit und Sündhaftigkeit, die nur die Entfaltung des Denkens geben konnte. Das Zeitalter des Christentums ist ein Zeitalter mentaler Entfaltung gewesen, aber auch eine Zeit, in der viel Betonung auf Sünde und Übeltun gelegt wurde. Tiere haben kein Sündenbewusstsein, obschon es bei Haustieren infolge ihrer Beziehung zu den Menschen Anzeichen eines Bewusstseins geben kann. Das Denken erzeugt die Kraft, genau zu untersuchen, zu beobachten, zu unterscheiden und zu erkennen; und so hat seit dem Beginn mentaler [193] Entwicklung für lange Zeit ein zunehmendes Gefühl von Sündhaftigkeit, Zerknirschung und eine beinahe unterwürfige Haltung gegenüber dem Schöpfer bestanden, was bei der Menschheit jenen stark hervortretenden Minderwertigkeitskomplex erzeugte, mit dem es heute die Psychologen zu tun haben. Gegen dieses wachsende Empfinden von Sünde, mit seinen Begleitern der Busse, Sühne und dem Opfer Christi für uns, hat es Auflehnung gegeben, und in dieser wirklich heilsamen Reaktion liegt die normale Tendenz, zu weit zu gehen. Glücklicherweise sind wir niemals imstande, uns allzuweit vom Göttlichen zu entfernen, und es ist der aufrichtige Glaube aller Wissenden, dass wir uns als Menschheit in einen Zustand von grösserer Geistigkeit als je zuvor einschwingen werden. Die Theologie übernahm sich mit ihrem Komplex vom «erbärmlichen Sünder» und mit ihrem Nachdruck auf der notwendigen Reinigung durch Blut. Die Lehre von der Reinigung durch das Blut von Stieren und Widdern (oder von Lämmern) war ein Teil der alten Mysterien und wurde von uns hauptsächlich aus den Mysterien des Mithra übernommen. Diese Mysterien ihrerseits ererbten die Lehre und bildeten daraus ihre Doktrin, die das Christentum in sich aufnahm. Als die Sonne im Zeichen Taurus, des Stieres, stand, wurde das Opfer des Stieres vollzogen, als eine Voraussage dessen, was Christus später zu offenbaren kam. Als die Sonne weiter schritt (in der Präzession der Äquinoktien) in das nächste Zeichen Aries, des Widders, finden wir das Opfer des Lammes, und der Sündenbock wurde in die Wüste getrieben. Christus wurde im nächsten Zeichen geboren, in dem von Pisces, der Fische, und dies ist der Grund, warum wir zum Gedächtnis an sein Kommen am Karfreitag Fisch essen. Tertullian, einer der ersten Kirchenväter, spricht von Christus als dem «Grossen Fisch» und von uns, seinen Nachfolgern, als den «Kleinen Fischen». Diese Tatsachen sind wohlbekannt, wie der folgende Auszug zeigt.

«Die Zeremonien der Reinigung durch Besprengen oder Begiessen des Novizen mit dem Blut von Stieren oder Böcken waren weit verbreitet und in den Riten des Mithra zu finden. Durch diese Reinigung wurde der Mensch «wiedergeboren», und der christliche Ausdruck, gewaschen im Blut des Lammes' ist zweifellos eine Widerspiegelung dieses Gedankens. Die Anspielung darauf ist klar in den Worten des Hebräerbriefes: «Es ist nicht möglich, dass das Blut von Stieren oder Böcken Sünden hinwegnehmen werde». Nach dieser Stelle heisst es weiter: «Habet die Kühnheit, in das [194] Heiligste einzutreten durch das Blut Jesu, auf einem neuen und lebendigen Weg, welchen er für uns geheiligt hat durch die Hülle, nämlich sein Fleisch ... lasst uns näher hinzutreten ... indem wir unsere Herzen besprengt und vom bösen Gewissen gereinigt haben und unsere Leiber gewaschen mit reinem Wasser». Wenn wir hören, dass bei der Mithraischen Einweihungszeremonie der Novize mit verhüllten Augen mutig in ein «Allerheiligstes» in einem geheimnisvollen unterirdischen Raum eintrat, und dass er dort mit Blut besprengt und mit Wasser gewaschen wurde, dann ist es klar, dass der Schreiber der Epistel an diese Mithra-Riten dachte, mit denen damals jedermann vertraut gewesen sein mag». (Das Heidentum in unserer Christenheit, engl., von Arthur Weigall, S. 132, 133)

Christus kam, diese Opfer abzuschaffen, indem er uns deren wahre Bedeutung zeigte; als vollkommener Mensch starb er den Kreuzestod, um uns (in bildlicher Form und durch wirkliche Darstellung) zu zeigen, dass Göttlichkeit sich nur dann offenbaren und wahrhaft zum Ausdruck bringen kann, wenn der Mensch als Mensch gestorben ist, damit der verborgene Christus leben möge. Die niedere fleischliche Natur (wie Paulus sie gern nannte) muss sterben, damit die höhere, göttliche Natur in all ihrer Schönheit sich zeigen kann. Das niedere Selbst muss sterben, damit das Höhere Selbst sich auf Erden kundtun kann. Christus musste sterben, damit die Menschheit ein für allemal lernen sollte, dass durch das Opfer der menschlichen Natur der göttliche Aspekt «gerettet» würde. So fasste Christus in sich die Bedeutung aller vergangenen Weltopfer zusammen. Jene geheimnisvolle Wahrheit, die nur dem verpflichteten und geschulten Eingeweihten offenbart wurde, wenn er bereit war für die vierte Einweihung, wurde von Christus an die Menschenwelt hinausgegeben. Er starb für alle, damit alle leben sollten. Aber dies ist nicht die Lehre vom stellvertretenden Sühneopfer, welche in der durch Paulus gegebenen Auslegung der Kreuzigung vorherrschend ist, sondern die Lehre Christi selbst die Lehre von der göttlichen Immanenz (siehe Joh. XVII) und die Lehre vom Gottmenschen.

Das Christentum hat viele seiner Auslegungen ererbt, und die Lehrer und Interpreten der frühchristlichen Zeit waren nicht freier [195] von der Bindung der alten Glaubenslehren, als wir von den Auslegungen des Christentums während der vergangenen 2000 Jahre. Christus gab uns die Lehre, dass wir sterben müssen, um als Götter zu leben, und deshalb starb er. Er fasste in sich alle Überlieferungen der Vergangenheit zusammen, denn er «erfüllte nicht nur die jüdischen Heiligen Schriften, sondern auch jene der heidnischen Welt, und darin liegt der grosse Anruf des frühen Christentums. In ihm waren ein Dutzend schattenhafte Götter zu einer unmittelbaren Realität verdichtet, und in seiner Kreuzigung wurden die alten Geschichten mit ihrem grausigen Sühneleiden und Opfertode aktuell gemacht und bekamen eine direkte Bedeutung». (Heidentum in unserer Christenheit, engl., von Arthur Weigall, S. 158) Aber sein Tod war auch die Vollendung eines Lebens voller Opfer und Dienst und die logische Folge seiner Lehren. Pioniere und jene, die den Menschen den nächsten Schritt enthüllen, und diejenigen, die erscheinen, um den göttlichen Plan zu erläutern, werden unvermeidlich verstossen, und gewöhnlich sterben sie infolge ihrer mutigen Verkündigungen. Von dieser Regel machte Christus keine Ausnahme. «Fortgeschrittene christliche Denker betrachten jetzt die Kreuzigung unseres Herrn als das höchste Opfer, das er um der Grundsätze seiner Lehre willen darbrachte. Es war die Krönung seines höchst heldenmütigen Lebens, und es bietet der Menschheit solch ein erhabenes Beispiel, dass die Meditation darüber einen Zustand des Einswerdens mit dem Urquell aller Güte hervorbringen kann». (a. a. O., S. 166)

Wie kommt es dann, dass wir heute so eine Betonung auf das Blutopfer Christi und auf den Gedanken der Sünde gelegt haben? Es könnte scheinen, dass dafür zwei Gründe verantwortlich sind:

1. Die ererbte Idee vom Blutopfer. Dr. Rashdall (Die Idee der Sühne, engl., S. 248) sagt dazu: «Die verschiedenen Autoren der kanonischen Bücher waren tatsächlich so an die vorchristlichen Ideen von Sühneopfer und Busse gewöhnt, dass sie diese annahmen, ohne sie bis zu ihren Wurzeln zu verfolgen. Aber diese Unbestimmtheit war nicht im Sinn der frühen christlichen Kirchenväter. Im zweiten Jahrhundert n. Chr. erklärten Irenäus und nach ihm andere die Lehre mit der sogenannten «Loskauf-Theorie», [196] die besagt, dass durch Adams Fall der Teufel rechtmässiger Herr der Menschheit war, und dass Gott keine Möglichkeit hatte, nach dem Gesetz Satans Untertanen ihm wegzunehmen, ohne ein Lösegeld für sie zu zahlen, weshalb er ihm seinen eigenen eingeborenen Sohn im Austausch hingab».

In diesem Gedankengang haben wir eine genaue Darstellung des Weges, auf dem alle Ideen (intuitiv empfangen und unfehlbar richtig) entstellt werden. Menschliches Denken und vorgefasste Begriffe verfärben sie: Die Idee wird zum Ideal, dient einem nützlichen Zweck und führt den Menschen vorwärts (wie die Idee des Opfers die Menschen immer näher zu Gott geführt hat), bis sie zum Idol und infolgedessen begrenzt und unwahr wird.