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Fünftes Kapitel - Die vierte Einweihung….. Die Kreuzigung - Teil 2

Wir haben gesehen, dass einer der für den Sündenkomplex des Westens verantwortlichen Faktoren die Entwicklung der Denkfähigkeit gewesen ist, mit den sich daraus ergebenden Nachwirkungen eines entwickelten Gewissens, eines Sinnes für Werte und (als Ergebnis davon) der Fähigkeit, die höhere und die niedere Natur im Gegensatz zueinander zu sehen. Wenn das Höhere Selbst mit seinen Werten und seinem Bereich von Kontakten instinktiv berührt wird, und das niedere Selbst mit seinen geringeren Werten und seinem mehr materiellen Tätigkeitsbereich ebenfalls erkannt ist, dann folgt notwendig, dass sich ein Sinn für Unterscheidung und für Fehler entwickelt: die Menschen werden sich ihres Mangels an Erfolgen bewusst. Sie erkennen Gott und die Menschheit, die Welt, das Fleisch und den Teufel, doch gleichzeitig auch das Reich Gottes. Im Zuge der Entwicklung des Menschen ändern sich seine Begriffe, und die primitiven sogenannten Sünden des unentwickelten Menschen und die Fehler und Schwächen des «netten» Durchschnittsbürgers der modernen Zeit bringen ein anderes Denk- und Urteilsvermögen mit sich und gewiss eine unterschiedliche Stellungnahme zur Strafe. Wenn sich unsere Auffassung von Gott wandelt und entwickelt und wir der Wirklichkeit näherkommen, sind wir fähig, unseren ganzen Ausblick auf das Leben, uns selbst und unsere Mitmenschen zu ändern und zu erweitern, und wir werden göttlicher und menschlicher zugleich. Es ist eine menschliche Eigentümlichkeit, sich der Sünde bewusst und [197] sich darüber klar zu sein, dass, wenn ein Mensch schuldig wird, er in der einen oder anderen Form einen Preis zu zahlen hat. Der Keim des Denkens liess diese Vorstellung schon in der Frühzeit der Menschheit wachsen, aber es brauchte fast 2000 Jahre des Christentums, um die Sünde zu einer solchen Bedeutung zu erheben, dass sie, wie noch heute, einen ersten Platz im menschlichen Denken einnimmt. Wir sind in einer Situation, in der das Gesetz, die Kirche und die Erzieher der Menschheit beinahe gänzlich mit der Sünde und ihrer Verhütung beschäftigt sind. Man fragt sich manchmal, wie die Welt heute aussehen würde, wenn die Erklärer des christlichen Glaubens sich mit der Liebe und dem liebenden Dienen beschäftigt hätten statt mit dieser ständig wiederholten Betonung des Blutopfers und der Bosheit der Menschen.

Das Thema der Sünde läuft natürlicher und normalerweise durch die menschliche Geschichte, und das Bemühen, Sünde durch Tieropfer zu sühnen, war immer vorhanden. Der Glaube an eine zornige Gottheit, die Strafe forderte für alles, was der Mensch gegen einen Bruder verübte, und einen Preis verlangte für alles, was der Mensch als Naturprodukt der Erde erntete, ist so alt wie der Mensch selbst. Er ist durch viele Phasen gegangen. Die Idee von einem Gott, dessen Natur Liebe ist, hat durch Jahrhunderte mit der Idee von einem Gott gekämpft, dessen Natur Zorn ist. Der herausragende Beitrag Christi zum Fortschritt der Welt war seine durch Wort und Beispiel bezeugte Bestätigung des Gedankens, dass Gott Liebe ist, und keine zornige Gottheit, die eifersüchtig Vergeltung auferlegt. Der Kampf zwischen diesem alten Glauben und der Wahrheit von Gottes Liebe, die Christus zum Ausdruck brachte und die auch Krishna verkörperte, wütet noch immer. Der Glaube an einen zornigen, eifersüchtigen Gott sitzt noch sehr fest. Er ist im Bewusstsein der Menschheit verwurzelt, und erst heute beginnen wir langsam, einen anderen Ausdruck von Göttlichkeit wahrzunehmen. Unsere Auslegung von Sünde und ihrer Bestrafung ist auf falscher Fährte gewesen, aber die Wirklichkeit von Gottes Liebe kann nun erfasst werden und dadurch die unglückliche Lehre von einem zornigen Gott ersetzen, der zur Versöhnung für der Welt Übel seinen Sohn sandte. Von diesem [198] Glauben ist vielleicht der Calvinismus die beste und reinste Darstellung, und eine kurze Zusammenstellung dieser theologischen Lehre wird den Begriff verständlicher machen.

«Der Calvinismus ist aufgebaut auf dem Dogma von der absoluten Oberherrschaft Gottes, einschliessend Allmacht, Allwissenheit und ewige Gerechtigkeit eine allgemeine christliche Lehre, aber durch die Calvinisten mit unnachgiebiger Logik zu extremen Schlüssen entwickelt. Der Calvinismus wird oft kurz in fünf Punkten zusammengefasst:

1. Jedes menschliche Wesen als ein Nachkomme von Adam (den in jenen Zeiten alle Christen als eine historische Person ansahen) ist schon von Geburt an mit der Erbsünde belastet, zu der dann die im eigenen Leben begangenen späteren Sünden hinzukommen. Ein Mensch kann nichts tun, um seiner eigenen Sünde und Schuld ledig zu werden, das kann nur durch die Gnade Gottes geschehen, die ihm barmherzig gewährt wird durch das Sühneopfer Christi, ohne irgendein Verdienst von seiner Seite.

2. So können nur diese bestimmten Personen gerettet werden (teilweise Erlösung).

3. Jenen sendet Gott einen wirksamen Ruf, stärkt ihren Willen und befähigt sie, die Erlösung anzunehmen.

4. Wer erlöst oder wer nicht erlöst wird, ist daher eine Sache der göttlichen Auswahl oder Vorherbestimmung.

5. Gott wird niemals seine Erwählten verlassen: sie werden niemals der letzten Erlösung verlustig gehen (Beharrlichkeit der Heiligen). Die Calvinisten betonten mit grossem Eifer und waren bestrebt, mit viel Spitzfindigkeit darzustellen, dass ihre Lehre völlig für menschliche Freiheit sorgt, und dass Gott in keiner Weise für menschliche Sünde verantwortlich ist». (Religionsphilosophie eines Studenten, engl., von William K. Wright, S. 178)

In Anbetracht dieser Betonung menschlicher Sündhaftigkeit und als ein Ergebnis der uralten Gewohnheit, Gott Opfer anzubieten, wurde die wahre Mission Christi deshalb lange unbeachtet gelassen. Anstatt, dass man erkannt hätte, welch' ewige Hoffnung für die Menschheit er in sich verkörperte, wurde er in das alte Opfersystem einbezogen, und die alten Denkgewohnheiten waren zu stark für die neue Idee, die zu bringen er kam. Sünde und Opfer vertrieben und verdrängten die Liebe und den Dienst, auf die er unsere Aufmerksamkeit durch sein Leben und seine Worte zu lenken suchte. Dies ist es auch, warum vom psychologischen Gesichtspunkt gesehen das Christentum solche traurigen, erbarmungswürdigen und sündenbewussten Menschen erzeugt hat. Christus, das Opfer für die Sünde, und das Kreuz Christi, als das [199] Instrument seines Todes, haben die Aufmerksamkeit der Menschen an sich gezogen, während Christus, der vollkommene Mensch, und Christus, der Sohn Gottes, wenig betont worden sind. Die kosmische Bedeutung des Kreuzes wurde im Westen gänzlich vergessen (oder sie war niemals bekannt).

Ursprünglich ist Erlösung nicht verknüpft mit Sünde. Sünde ist ein Symptom eines Zustands, und wenn der Mensch «wahrhaft gerettet» ist, so ist dieser Zustand ausgeglichen und mit ihm die gelegentlich sündhafte Natur. Christus kam, um uns die Natur des «geretteten Lebens» zu zeigen und das Wesen des Ewigen Selbst zu offenbaren, das jedem Menschen innewohnt. Dies ist die Lehre aus der Kreuzigung und Auferstehung: die niedere Natur muss sterben, damit die höhere sich zeigen kann. Aus dem Grab der Materie muss die ewige unsterbliche Seele in jedem Menschen auferstehen. Es ist interessant, der Idee nachzuspüren, dass Menschen als Ergebnis der Sünde in dieser Welt leiden müssen. Im Osten, wo die Lehren von Reinkarnation und Karma verbreitet sind, leidet ein Mensch für seine eigenen Taten und Sünden und «bewirkt seine eigene Erlösung mit Furcht und mit Zittern» (Philister II/12). In der jüdischen Lehre leidet ein Mensch für die Sünden seiner Väter und seiner Nation, und das ist der Kern einer Wahrheit, die erst heute beginnt, als Tatsache anerkannt zu werden, die Wahrheit der physischen Vererbung. Nach der christlichen Lehre leidet Christus, der vollkommene Mensch, mit Gott, weil Gott die Welt so liebte, dass er, der Welt innewohnend, wie er es ist, sich nicht von den Folgen der menschlichen Schwäche und Unwissenheit lösen konnte. So gibt die Menschheit dem Leiden einen Sinn, und so wird das Übel schliesslich überwunden.

Gedanke und Idee des Opfers für die Sünden des Volkes war nicht die ursprüngliche und grundlegende Idee. Ursprünglich bot die junge Menschheit Gott Opfer an, um seinen Zorn zu besänftigen, der sich in den Elementen durch Sturm und Erdbeben und physische Katastrophen zeigte. Wenn sich die Menschen, dem Instinkt folgend, gegeneinander wandten, wenn sie einander kränkten und schadeten und so die dunkel gefühlte menschliche Beziehung und Verwandtschaft verletzten, wurde Gott wieder ein Opfer angeboten, damit er den Menschen nicht auch schaden [200] sollte. So wuchs diese Idee nach und nach. Die Vorstellung der Erlösung könnte kurz in folgenden Sätzen zusammengefasst werden:

1. Die Menschen werden erlöst von dem in Naturerscheinungen sich offenbarenden Zorn Gottes durch Tier-Opfer, in noch älteren Zeiten durch Opfer von Früchten der Erde.

2. Die Menschen werden erlöst vom Zorn Gottes und voneinander durch das Opfer dessen, was hohen Wert besitzt; dies führt schliesslich zum Menschen-Opfer.

3. Die Menschen werden erlöst durch das Opfer eines anerkannten Gottessohnes, daher die stellvertretende Sühne, durch welche die vielen gekreuzigten Welterlöser den Weg für Christus vorbereiteten.

4. Die Menschen werden schliesslich erlöst von der ewigen Strafe für ihre Sünden durch den Tod Christi am Kreuz. Der Sünder, der sich eines unfreundlichen Wortes schuldig macht, ist ebenso verantwortlich für Christi Tod wie der gemeinste Mörder.

5. Endlich erwächst allmählich die Erkenntnis, dass wir erlöst sind durch den lebendigen, auferstandenen Christus, der uns historisch ein Ziel bietet und der in jedem von uns als die ewige allwissende Menschenseele gegenwärtig ist.

Heutzutage tritt der auferstandene Christus in den Vordergrund des menschlichen Bewusstseins, und deshalb sind wir jetzt auf dem Weg zu einer Periode grösserer Geistigkeit und echterem religiösen Ausdrucks als zu irgend einer anderen Zeit in der Menschheitsgeschichte. Das religiöse Bewusstsein ist der beständige Ausdruck des innewohnenden geistigen Menschen, des Christus im Inneren, und kein äusseres irdisches Geschehen, keine nationale Situation, mögen sie zeitweilig noch so materiell in ihren Zielen erscheinen, kann die Gegenwart Gottes in uns trüben oder auslöschen. Wir lernen, dass diese GEGENWART nur durch den Tod der niederen Natur befreit werden kann, und dies ist es, was Christus uns immer von seinem Kreuz sagte. Wir erfassen zunehmend, dass die «Nachfolgeschaft seines Leidens» bedeutet, mit ihm das Kreuz zu besteigen und dauernd an der Kreuzigungs-Erfahrung, teilzunehmen. Wir kommen zu der Erkenntnis, dass der bestimmende Faktor im menschlichen Leben Liebe ist, und dass «Gott Liebe ist» (I. Joh. IV/8). Christus kam, uns zu zeigen, dass Liebe die bewegende [201] Kraft im Universum ist. Er litt und starb, weil er liebte und um die Menschen so sehr besorgt war, dass er ihnen den Weg zeigte, den sie gehen sollten von der Höhle der Geburt zum Berg der Verklärung und weiter zur Todesqual der Kreuzigung, wenn auch sie bereit sind, teilzuhaben am Leben der Menschheit und ihrerseits Erlöser ihrer Mitmenschen werden.

Wie sollen wir also die Sünde erklären? Wir wollen uns zunächst die Worte ansehen, die in der Bibel oder in theologischen Büchern und Kommentaren verwendet werden, die sich mit dem Thema Sünde, Übertretung, Schlechtigkeit, Übel und Absonderung befassen. Dieses alles sind Ausdrücke für die Beziehung des Menschen zu Gott und zu seinen Mitmenschen, und nach dem Neuen Testament sind die Worte Gott und unsere Mitmenschen untereinander austauschbar. Was bedeuten sie?

Die wirkliche Bedeutung des Wortes Sünde ist sehr dunkel. Nach Websters Ungekürztem Wörterbuch (engl). bedeutet es buchstäblich «der Eine, der es ist», wörtlich also: der Eine, der existiert, insofern er sich gegen den göttlichen, in ihm verborgenen Aspekt auflehnt, ist ein Sünder. Einige Worte von Dr. Grensted klären diesen Zusammenhang. Er sagt:

«Die Menschen kehrten sich ab von Gott», sagt Athanasius, «als sie begannen, sich selbst Aufmerksamkeit zu schenken»; Augustinus identifiziert die Sünde mit der Selbstliebe. Dr. Williams behauptet, dass das der Sünde zugrundeliegende Prinzip in «der Selbstbehauptung des Individuums gegen die Herde zu finden ist, ein Prinzip, das wir nur mit den unzutreffenden Worten Selbstsucht, Lieblosigkeit und Hass bezeichnen können». Dr. Kirk erklärt, «dass Sünde mit Eigennutz beginnt». (Psychologie und Gott, engl., von L. W. Grensted, S. 136)

Diese Gedanken bringen uns direkt zu dem zentralen Problem der Sünde, das letzten Endes das Problem der grundsätzlichen Dualität des Menschen ist, ehe er die Einswerdung vollzogen hat, auf die Christus hinlenkte. Wenn der Mensch, ehe er zu seiner dualen Natur erwacht ist, das tut, was falsch und sündig ist, so können und wollen wir ihn nicht als Sünder ansehen ausser wir sind altmodisch genug, an die Doktrin zu glauben, dass jedermann [202] unwiederbringlich verloren sei, wenn er nicht im orthodoxen Sinn des Wortes «erlöst» ist. Nach Jakobus sündigt, wer gegen sein Wissen handelt. Er sagt: «Wer da weiss, Gutes zu tun, und er tut es nicht, dem ist's Sünde» (IV/17). Da haben wir eine wirkliche Definition von Sünde. Es heisst, gegen Licht und Wissen zu handeln und mit Überlegung das zu tun, wovon wir wissen, dass es falsch und unerwünscht ist. Wo ein solches Wissen nicht vorhanden ist, da kann keine Sünde sein. Deshalb werden Tiere als frei von Sünde angesehen, und die Menschen, die in gleicher Unwissenheit handeln, sollten genau so angesehen werden. Aber in dem Augenblick, da ein Mensch gewahr wird, dass er zwei Personen in einer Form, dass er Gott und Mensch ist, nimmt die Verantwortung ständig zu, die Sünde wird möglich, und hier tritt der geheimnisvolle Aspekt der Sünde auf. Er besteht in der Beziehung zwischen dem «verborgenen Menschen des Herzens» (I. Petrus III/4) und dem äusseren, berührbaren Menschen. Jeder der beiden hat sein eigenes Leben und sein eigenes Erfahrungsfeld. Jeder bleibt deshalb für den anderen ein Geheimnis. Die Einswerdung besteht darin, dass die Beziehung zwischen den beiden umgewandelt wird. Werden die Wünsche des «verborgenen Menschen» verletzt, entsteht Sünde.

Wenn diese zwei Aspekte des Menschen vereinigt sind und zusammen als eine Einheit funktionieren, und wenn der geistige Mensch die Handlungen des fleischlichen Menschen überwacht, wird Sünde unmöglich, und der Mensch geht vorwärts, der Grösse zu.

Das Wort «Übertretung» bezeichnet das Überschreiten einer Grenze, es schliesst das Verrücken eines Grenzsteines ein, wie es die Freimaurer nennen, oder die Verletzung eines der Grundprinzipien des Lebens. Es gibt gewisse Dinge, von denen alle wissen, dass sie eine beherrschende Beziehung zum Menschen haben. Solch' eine Sammlung von Grundsätzen wie die zehn Gebote könnte als Beispiel hierzu angeführt werden. Sie bilden die Grenze, die althergebrachter Brauch, vorgeschriebene, richtige Gewohnheiten und die soziale Ordnung der Menschheit auferlegt haben. Das Überschreiten dieser vom Menschen aus Erfahrung selbst eingesetzten Grenzen, denen Gott göttliche Anerkennung gewährte, bedeutet Übertretung, [203] und jeder Übertretung folgt eine unvermeidliche Strafe. Wir zahlen jedesmal den Preis für Unwissenheit und lernen dabei, nicht zu sündigen. Wir werden bestraft, wenn wir die Gesetze nicht halten, und mit der Zeit lernen wir, sie nicht zu übertreten. Instinktiv halten wir gewisse Gesetze, vielleicht weil wir schon oft den Preis gezahlt haben, und gewiss, weil uns zuviel an unserem guten Ruf und der öffentlichen Meinung gelegen ist, als dass wir sie übertreten könnten. Es gibt Grenzen, die der rechtschaffene Durchschnittsbürger nicht übertritt. Tut er es, gesellt er sich zu der grossen Gruppe der Sünder. Das Ideal ist eine beherrschte Tätigkeit in jedem Bereich des menschlichen Lebens, und diese Tätigkeit muss sich auf rechte Motive gründen, durch einen selbstlosen Zweck angetrieben sein und von der Kraft des inneren geistigen Menschen, des «im Herzen verborgenen Menschen», vorwärtsgetragen werden.

Im Englischen gibt es das Wort «Iniquity» (für das es im Deutschen keine treffende Übersetzung gibt), ein anscheinend harmloses Wort. Es bezeichnet einfach eine Unausgeglichenheit, Unebenheit. Ein «iniquitous man» (ein frevelnder Mensch) ist deshalb, technisch ausgedrückt, ein nicht ausgeglichener Mensch, einer, der etwas Unebenes in seinem täglichen Leben duldet. Eine Erklärung wie diese schliesst vieles ein, und selbst wenn wir uns nicht als Sünder und Übertreter ansehen, so fallen wir gewiss unter die Kategorie jener, die manche Unebenheit in der Lebensführung aufweisen. Wir sind nicht immer die gleichen; wir sind unbeständig in unserer Art zu leben. Wir sind manchen Tag so und manchen Tag anders, und wegen dieses Mangels an Balance und Gleichgewicht sind wir «iniquitous» = nicht recht gerichtete oder frevelhafte Menschen im wahren Sinn des Wortes. Es ist gut, sich dieser Dinge zu erinnern, denn sie verhindern die schreckliche Sünde der Selbstzufriedenheit.

Die Frage nach dem Bösen ist zu umfassend, um sie ausführlich zu erläutern, aber man könnte es einfach erklären als unsere Anhänglichkeit an etwas, dem wir entwachsen sein sollten, als das Festhalten an dem, was wir hinter uns gelassen haben sollten. Übel ist für die meisten von uns einzig und allein das Bemühen, uns mit der Formseite des Lebens zu identifizieren, wenn wir schon Seelenbewusstsein haben; und Rechtschaffenheit ist das ständige Ausrichten des Denkens und Lebens zur Seele hin, was zu Handlungen führt, die geistig, harmlos und hilfreich sind. Dieses Empfinden des Bösen und diese Reaktion auf das Gute ist wieder verborgen in der Beziehung zwischen den zwei Hälften der Natur des Menschen [204) , der geistigen und der strenggenommen menschlichen. Wenn wir das Licht unseres erwachten Bewusstseins der niederen Natur zuwenden, und wenn wir dann mit Überlegung «im Licht» jene Dinge tun, die von den niederen Ebenen unseres Daseins bestimmt und belebt werden, dann werfen wir das Gewicht unseres Erkennens auf die Seite des Bösen und sind rückläufig. Es mag vom Standpunkt des «fleischlichen Menschen» nicht immer zweckmässig sein, gewisse Dinge zu tun oder zurückzuweisen, doch wenn wir das Niedere wählen und es tun, also eine bestimmte Wahl treffen, dann ist das Böse in uns vorherrschend.

Es dämmert allmählich im menschlichen Bewusstsein, dass eine abgesonderte Haltung die Elemente von Sünde und Übel in sich trägt. Wenn wir in unserer Haltung separativ sind oder etwas tun, was Trennung hervorbringt, übertreten wir ein grundlegendes Gesetz Gottes. Was wir wirklich tun, ist ein Brechen des Gesetzes der Liebe, das keine Trennung kennt, sondern nur überall Einheit und Synthese, Bruderschaft und gegenseitige Beziehungen sieht. Hierin liegt unser Hauptproblem. Unser Studium von Sünde und Übel wird, wie Dr. Grensted sagt, dazu dienen ... «in der Hauptsache den grundlegenden Charakter unseres Problems als Ergebnis des Fehlens von Vertrauen und eines Verweigerns von Liebe zu enthüllen. Die Psychologen können diesem Gesichtspunkt der Sünde nicht entrinnen, wenn sie sich mit ihr als einer moralischen Krankheit befassen, denn die einzige Hoffnung der Psychologen, eine solche moralische Krankheit erfolgreich zu behandeln, beruht auf dem Versuch, durch Vorgänge im Patienten die latenten persönlichen Quellen des Ego zu wecken. Bei gewissen schwersten Psychosen, wo dies nicht unternommen werden kann, besteht keine menschliche Hoffnung auf Heilung. Der Schlüssel zum psychologischen Heilen liegt in der «Transferenz», d.h. in der Übertragung, und es besteht eine ganz enge Parallele zwischen dieser und der christlichen Sündenvergebung. Beide Methoden sind ganz persönlich, beide hängen von einer Wiederherstellung rechter Beziehungen ab, die beim Priester und Arzt beginnt und in jede Beziehung der sozialen Umgebung hinausreicht». (Psychologie und Gott, engl., von L. W. Grensted, S. 199)

Das Empfinden der Verantwortlichkeit für sein Handeln wächst, wenn der Mensch auf dem Pfad der Evolution stufenweise fortschreitet. Auf den frühen Stufen besteht wenig oder gar keine [205] Verantwortung. Wir haben wenig oder kein Wissen, kein Empfinden für die Beziehung zu Gott und sehr wenig Sinn für die Beziehung zur Menschheit. Dieses Gefühl des Getrenntseins, diese Betonung des persönlichen und individuellen Wohles ist es, was das Wesen der Sünde ausmacht. Liebe ist Einheit, Einswerdung und Synthese; Absonderung ist Hass, Für-Sich-Sein, Trennung. Aber der Mensch, göttlich in seinem Wesen, hat zu lieben, und die Schwierigkeit ist, dass er falsch geliebt hat. Seine Liebe geht auf den frühen Stufen seiner Entwicklung in falscher Richtung, und indem er der Liebe Gottes, welche die wahre Natur seiner eigenen Seele ist, den Rücken kehrt, liebt er das, was mit der Formseite des Lebens, nicht mit der Lebensseite der Form verbunden ist.

Sünde ist also eine deutliche Übertretung des Gesetzes der Liebe in unserer Beziehung zu Gott oder zu unserem Bruder, der ein Sohn Gottes ist. Sie ist eine Handlung aus rein selbstsüchtigem Interesse, die unserer unmittelbaren Umgebung oder der Gruppe, der wir angehören, Leid bringt, einer Familiengruppe, einer sozialen Gruppe, einer geschäftlichen Gruppe oder eben jener Gruppe von Menschen, mit der uns ein gemeinsames Schicksal verbindet.

Dies bringt uns zu der Erkenntnis, dass Sünde letzten Endes falsche Beziehungen zu anderen Menschen bedeutet. Ein Empfinden dieser falschen Beziehung gab in früheren Zeiten Anlass zur Opferung weltlicher Güter auf dem Altar, denn der primitive Mensch schien zu fühlen, dass er, indem er Gott eine Gabe darbot, den Freikauf von seinem Betragen gegenüber seinen Mitmenschen mit Erfolg ermöglichte.

Heute beginnt der Menschheit zu dämmern, dass die einzige wirkliche Sünde die ist, ein anderes menschliches Wesen zu verletzen. Sünde ist der Missbrauch unserer Beziehungen zueinander, und es gibt kein Ausweichen in diesen Beziehungen. Sie bestehen. Wir leben in einer Welt von Menschen, und unser Leben verläuft im Kontakt mit anderen menschlichen Wesen. Die Art, in der wir dieses tägliche Problem handhaben, beweist entweder unsere Göttlichkeit oder unsere irrende niedere Natur. Unsere Aufgabe im Leben ist, das Göttliche zum Ausdruck zu bringen. Dieses Göttliche offenbart sich in der gleichen Weise, wie sich die Göttlichkeit [206] Christi zum Ausdruck brachte: in einem harmlosen Leben und in unaufhörlichem Dienst an unseren Mitmenschen, in einer sorgfältigen Wachsamkeit über Worte und Handlungen, damit wir nicht in irgendeiner Weise Ärgernis geben, «einen dieser Kleinen ärgern» (Lukas XVII/2) und mit Christus das dringende Empfinden teilen, der Not der Welt zu begegnen und die Rolle als Erlöser der Menschen zu spielen. Es ist in herrlicher Weise wahr, dass diese Grundvorstellung des Göttlichen die Menschheit zu erfassen beginnt.

Die Hauptaufgabe Christi war, das Reich Gottes auf Erden zu errichten. Er zeigte uns den Weg, auf dem die Menschheit dieses Reich betreten könnte durch Unterwerfung der niederen Natur bis zum Tod am Kreuz und durch die Auferstehung kraft des innewohnenden Christus. Jeder von uns hat den Weg des Kreuzes allein zu beschreiten und tritt in das Reich Gottes ein durch das Recht seines Erfolges. Aber der Weg wird im Dienst an unseren Mitmenschen gefunden; von diesem Gesichtspunkt betrachtet, war der Tod Christi die logische Folge des Dienstes, den er geleistet hatte. Dienst, Schmerz, Schwierigkeiten und das Kreuz das ist der Lohn für den Menschen, der die Menschheit an die erste und sich selbst an die zweite Stelle setzt. Doch wenn er dies getan hat, entdeckt er, dass die Tür in das Reich für ihn weit offen ist und dass er eintreten kann. Aber zuerst hat er zu leiden. Das ist der Weg.

Durch höchsten Dienst und Opfer werden wir Nachfolger Christi und erwerben das Recht, in sein Reich einzutreten, weil wir nicht allein eintreten. Dies ist das subjektive Element in allem religiösen Streben, und dies haben alle Gottessöhne erfasst und gelehrt. Der Mensch siegt durch Tod und Opfer.

Jener übermenschliche Geist, Christus, tat dies vollkommen. In ihm war keine Sünde, weil er das vergängliche, niedere Selbst vollständig überwunden hatte. Seine Persönlichkeit ordnete sich seiner Gottnatur unter. Die Gesetze der Übertretung berührten ihn nicht, denn er überschritt keine Grenzen und verletzte keine Grundsätze. Er verkörperte das Prinzip der Liebe, und deshalb war es für ihn auf der von ihm erreichten Entwicklungsstufe unmöglich, einen Menschen zu verletzen. Er war vollkommen [207] ausgeglichen und hatte jenes Gleichgewicht erlangt, das ihn von allen niederen Einflüssen befreite und ihn freimachte, zum Thron Gottes aufzusteigen. Ihn band nichts an das Niedrige und an das, was menschlich wünschenswert, aber vom göttlichen Standpunkt verwerflich ist. Deshalb ging das Böse an ihm vorüber; er hatte keinen Umgang mit ihm. «Er wurde versucht allenthalben gleich wie wir, doch ohne Sünde» (Hebräer IV/15). Er kannte keine Absonderung. Reiche Leute, Zöllner, Fischer, Gelehrte, Dirnen und einfaches Volk, alle waren seine Freunde; die grosse «Ketzerei der Absonderung» war durch seinen alle einschliessenden Geist völlig überwunden. So erfüllte er das Gesetz der Vergangenheit, zeigte uns eindringlich das Bild der zukünftigen Menschheit und trat für uns hinter den Schleier, indem er uns aufforderte, seinen Schritten zu folgen ein Beispiel des Opfers bis zum Tod, eines unaufhörlich geleisteten Dienstes in Selbstvergessenheit und eines Heldentums, das ihn von Stufe zu Stufe auf dem Pfad, von Höhe zu Höhe führte, bis ihn keine Schranke mehr aufhalten konnte, auch nicht die Schranke des Todes. Er bleibt der ewige Gott-Mensch, der Erlöser der Welt. Er erfüllte den Willen Gottes in Vollendung und sagte uns die Worte, die uns eine einfache Regel mit einer grossen Belohnung geben: «So jemand seinen Willen tun will, der wird wissen, ob diese Lehre von Gott sei» (Joh. VII/17).

Die Einfachheit dieser Unterweisung ist verblüffend. Es wird uns einfach gesagt, Gottes Willen zu tun, dann wird uns die Wahrheit offenbart werden. Es gab Zeiten im Leben Christi, z.B. im Garten von Gethsemane, wo er mit sich kämpfte, um den Willen Gottes zu tun. Es gab Augenblicke, in denen sein menschliches Fleisch verzagte vor der Aussicht, die sich vor ihm auftat. Er kannte daher die Schwierigkeit dieser einfachen Regel.

Wenn wir unsere Aufmerksamkeit dem Bericht von der Kreuzigung zuwenden, leuchtet ein, dass wir die Einzelheiten nicht zu wiederholen brauchen. Sie ist uns wohlbekannt und vertraut, so [208] dass die Worte, in die sie gekleidet ist, wenig bedeuten. Die Erzählung vom triumphalen Einzug Christi in Jerusalem, wo er im oberen Raum seine Jünger um sich scharte und mit ihnen am Abendmahl von Brot und Wein teilnahm, vom Versagen jener, die ihn angeblich liebten, und von seiner hernach folgenden Qual im Garten von Gethsemane ist uns so vertraut wie unsere eigenen Namen und doch viel weniger haften geblieben. Das ist die Tragödie Christi. Er tat so viel, und wir haben so wenig davon erkannt. Wir brauchten zwanzig Jahrhunderte, um zu beginnen, ihn, seine Mission und Laufbahn zu verstehen. Die Kreuzigung selbst war nur eine vorauszusehende und zu erwartende Vollendung dieser Laufbahn. Es war kein anderes Ende möglich. Es war von Anfang an vorbestimmt, und es begann wirklich von der Zeit an, als er nach der Tauf-Einweihung aufbrach, der Menschheit zu dienen und die frohe Botschaft vom Reich Gottes zu lehren und zu predigen. Das war sein Thema, und wir haben das vergessen und haben die Persönlichkeit von Jesus Christus gepredigt ein Thema, das er selbst ignorierte und das ihm von geringer Bedeutung schien im Hinblick auf die darin eingeschlossenen grösseren Werte. Dies ist wiederum die Tragödie Christi. Er hat seinen Wertmassstab, und die Welt hat einen anderen.

Wir haben aus der Kreuzigung eine Tragödie gemacht, während doch die wirkliche Tragödie die war, dass wir darin versagten, ihre wahre Bedeutung zu erkennen. Die Qual im Garten von Gethsemane beruhte auf der Tatsache, dass er nicht verstanden wurde. Viele Menschen sind eines gewaltsamen Todes gestorben; hierin unterschied sich Christus in keiner Weise von Tausenden anderer weitsehender Menschen und Reformer durch die Zeitalter hindurch. Viele Menschen sind durch die Gethsemane-Erfahrung hindurchgegangen und haben mit der gleichen Inbrunst wie Christus gebetet, dass Gottes Wille geschehen möge. Viele Menschen sind in ihrem Wirken und im erschauten Dienst von jenen verlassen worden, von denen sie Verständnis und Mitarbeit hätten erwarten können. In keinem dieser Punkte war Christus wirklich einzig dastehend. Aber sein Leiden beruhte auf seiner einzigartigen Vision. Der Mangel an Verständnis von Seiten der Menschen und die verzerrten Auslegungen, die künftige Theologen seiner Botschaft geben würden, sind gewiss ein Teil seiner Vorschau gewesen, [209] ebenso das Wissen darum, dass durch den Nachdruck, den man auf ihn als den Erlöser der Welt legte, für Jahrhunderte die Verwirklichung des Reichs Gottes auf Erden verzögert würde, das zu gründen seine Mission war. Christus kam, damit die Menschheit «das Leben ... in all seiner Fülle» haben sollte (Joh. X/10). Wir haben seine Worte so ausgelegt, dass nur die «Erlösten» damit betraut werden, die notwendigen Stufen zu diesem Leben erreichen zu können. Aber das Leben in Fülle soll sicher nicht nachher in einem fernen Himmel gelebt werden, wo die Gläubigen sich ausschliesslicher Glückseligkeit erfreuen, während der Rest von Gottes Kindern draussen gelassen wird. Das Kreuz war bestimmt, die Grenzlinie anzuzeigen zwischen dem Reich der Menschen und dem Reich Gottes, zwischen einem grossen Naturreich, das die Reife erlangt hatte, und einem anderen Naturreiche, das nun in seinen Tätigkeitszyklus eintreten könnte. Das Menschenreich hatte sich entfaltet bis zu dem Punkt, wo es den Christus hervorgebracht hatte und jene anderen Gotteskinder, deren Leben beständig Zeugnis gab von der göttlichen Natur.

Christus übernahm das alte Symbol und die Last des Kreuzes, indem er sich neben all die vorausgegangenen gekreuzigten Erlöser stellte, in sich das Unmittelbare und das Kosmische, die Vergangenheit und die Zukunft verkörpernd. Er errichtete auf dem Hügel ausserhalb von Jerusalem (dessen Name «Vision des Friedens» bedeutet) das Kreuz, um so die Aufmerksamkeit auf das Reich zu lenken, für dessen Schaffung er starb. Das Werk ward vollendet. Und in diesem fremden kleinen Land, das «Heilige Land» genannt, einem schmalen Gebietsstreifen zwischen den beiden Hemisphären, zwischen Ost und West, zwischen Morgenland und Abendland, bestieg Christus das Kreuz und legte die Grenze fest zwischen dem Reich Gottes und den Reichen der Erde, zwischen der Welt der Menschen und der Welt des Geistes. Dadurch brachte er die alten Mysterien, die das Kommen jenes Reichs prophezeit hatten, zu einem Höhepunkt und setzte die Mysterien vom Reich Gottes ein.

Die Anstrengung, den Willen Gottes bis zur Vollendung durchzuführen, beendete das vollkommenste Leben, das je auf Erden gelebt wurde. Der Versuch, das für alle Zeit vorherbestimmte Reich zu gründen, und der Widerstand, den dieser Versuch hervorrief [210] , brachte Christus an die Stätte der Kreuzigung. Die Härte der Menschenherzen, die Schwäche ihrer Liebe und ihr Unvermögen, die Vision zu sehen, brachen das Herz des Welterlöserseines Erlösers, denn er öffnete die Tür in das Reich.

Es ist Zeit, dass die Kirche zu ihrer wahren Mission erwacht, die darin besteht, das Reich Gottes auf Erden sichtbar zu machen, heute, hier und jetzt. Die Zeit ist vorüber, in der wir ein zukünftiges und kommendes Reich Gottes betonen. Die Menschen sind nicht länger interessiert an einem möglichen himmlischen Zustand oder einer wahrscheinlichen Hölle. Sie müssen dringend lernen, dass das Reich Gottes hier ist und sie selbst es auf Erden zum Ausdruck bringen müssen. Es besteht aus jenen, die den Willen Gottes bedingungslos erfüllen, wie Christus es tat, und die einander lieben können, wie Christus uns liebte. Der Weg in das Reich ist der Weg, den Christus ging. Er schliesst das Opfer des persönlichen Selbstes für das Gute in der Welt ein und den Dienst an der Menschheit anstatt des Dienstes an unseren eigenen Wünschen. Im Lauf der Verkündigung dieser neuen Wahrheiten über Liebe und Dienen verlor Christus sein Leben. Kanonikus Streeter sagt, dass «die Bedeutung und der Wert von Christi Tod aus ihrem inneren Wesen stammen. Sie sind der äussere Ausdruck frei gewählter Selbsthingabe ohne Murren, ohne Zurückhaltung, im höchsten Dienst an Gott und den Menschen. Das mit solcher Selbstopferung verbundene Leiden ist innerlich schöpferisch». (Buddha und Christus, engl., von B. H. Streeter, S. 215)

Ist es nicht vielleicht eine Tatsache, dass die Kreuzigung Christi mit den grossen Ereignissen, die ihr vorausgingen, dem Abendmahl und der Gethsemane-Erfahrung, eine Tragödie ist, die ihre Grundlage in dem Konflikt zwischen Liebe und Hass hat? Es ist nicht die Absicht dieses Buches, das Weltereignis, welches auf Golgatha stattfand, zu verkleinern. Aber wenn wir heute auf dieses Geschehen zurückblicken, beginnen wir eine gewisse Wahrheit zu ahnen, und zwar, dass wir dieses Opfer und diesen Tod in rein selbstsüchtigen Begriffen gedeutet haben. Wir befassten uns mit unserem individuellen Interesse daran. Wir haben die Wichtigkeit unserer individuellen Erlösung betont und legten dieser eine ungeheuere Bedeutung bei. Aber der Weltplan und was Christus durch [211] die Zeitalter hindurch für die Menschheit zu tun bestimmt war, und die Haltung Gottes den Menschen gegenüber, von den frühesten Zeiten, über die Zeit des Christuslebens in Palästina bis zur Gegenwart, sind von uns dem Glauben oder Unglauben an die Wirkung der Kreuzigung auf Golgatha untergeordnet worden, um unsere eigenen Seelen zu retten. In seinem Gespräch mit dem reuigen Dieb nahm Christus diesen jedoch, auf Grund seiner Erkenntnis des Göttlichen, in das Reich auf. Christus war da noch nicht gestorben, und das Blutopfer war noch nicht vollzogen. Es war beinahe, als wenn Christus die Verdrehung vorausgesehen hätte, mit der die Theologie seinen Tod auslegen würde, und als wenn er bestrebt gewesen wäre, diese richtigzustellen, indem er die Anerkennung des sterbenden Diebes zu einem der herausragenden Ereignisse bei seinem Tod machte. Er bezog sich nicht auf die Sündenvergebung durch sein Blut als Begründung für diese Aufnahme.

Das wirkliche Thema war die Entscheidung zwischen Liebe und Hass. Nur Johannes, der geliebte Apostel, der Jesus am engsten verbunden war, verstand ihn wirklich, und in seinen Episteln liegt die Betonung ganz auf Liebe; die gebräuchliche orthodoxe Auslegung ist nirgends zu finden. Gerade in der Stellung zu Liebe und Hass, im Verlangen, als Kinder Gottes zu leben, und in der Neigung, als gewöhnliche menschliche Wesen zu leben, liegt der Unterschied zwischen den Bürgern des Reichs Gottes und einem Mitglied der menschlichen Familie. Es war Liebe, die Christus auszudrücken bestrebt war, aber es sind Hass und Trennung und Krieg, die im Weltkrieg den Höhepunkt erreichten und die offizielle Wiedergabe seiner Lehre durch Zeitalter kennzeichnen. Christus starb, um uns aufmerksam zu machen, dass der Weg in das Reich Gottes der Weg der Liebe und des Dienens ist. Er diente und liebte und wirkte Wunder und sammelte um sich die Armen und Hungernden. Er speiste sie und suchte in jeder möglichen Weise die Aufmerksamkeit auf den Grundbegriff der Liebe zu lenken, als das Hauptmerkmal des Göttlichen, nur, um zu erfahren, dass dieses Leben des liebenden Dienstes ihm Leiden und schliesslich den Tod am Kreuz brachte.

Wir haben für die theologische Lehre von der jungfräulichen Geburt gekämpft. Wir haben für die Lehren der Erlösung, der Taufe und der Busse gekämpft. Wir haben für die Tatsache der [212] Unsterblichkeit und für deren Leugnung gekämpft und dafür, was der Mensch tun muss, um sich über den Tod zu erheben. Wir haben die halbe Welt als verloren und nur den gläubigen Christen für erlöst angesehen. Christus hat jedoch die ganze Zeit über gesagt, dass der Weg in das Reich über die Liebe führt, und dass durch die Tatsache der göttlichen Gegenwart und Immanenz jeder in das Reich aufgenommen werden kann. Wir haben nicht erkannt, dass «die stellvertretende Sühne das Harmonisieren der Disharmonie anderer durch die Kraft einer geistigen Gegenwart ist, welche die grosse Verwandlung zustandebringt. Das Übel wird absorbiert und in Gutes verwandelt oder ins Gleichgewicht gebracht». (Einige mystische Abenteuer, engl., von G. R. S. Mead, S. 161) Das ist das Bestreben Christi, und die Tatsache seiner Gegenwart ist das harmonisierende Mittel im Leben. Die Menschen werden nicht durch den Glauben an die Formulierung eines theologischen Dogmas erlöst, sondern durch die Tatsache seiner lebendigen Gegenwart, des lebendigen, unmittelbaren Christus. Dieses Erkennen der Tatsache von Gottes Gegenwart im Menschenherzen liegt der mystischen Vision zugrunde, und das Wissen um unsere Gotteskindschaft verleiht die Kraft, den Spuren des Erlösers von Bethlehem nach Golgatha zu folgen. Das Dasein jener in der Welt, die Christus als ihr Vorbild ansehen, und erkennen, dass sie dasselbe göttliche Leben besitzen, wird letztlich unser menschliches Leben neu gestalten, ebenso, wie die Bestätigung des grundlegenden Gesetzes des Gottesreichs, des Gesetzes der Liebe, schliesslich die Welt erlösen wird. Das Ersetzen des Lebens der Welt, des Fleisches und des Teufels durch das Christusleben wird dem Leben Sinn und Wert verleihen.

Das Empfinden eines Fehlens von Liebe bildet das Hauptproblem in der Todespein im Garten. Es war das Vorgefühl des schweren Kampfes mit den irdischen Kräften, das Christus ermächtigte, sich der Gemeinschaft aller seiner Brüder anzuschliessen. Die Menschen hatten ihn enttäuscht, ebenso, wie sie uns enttäuschen. In dem Augenblick, als er Verstehen am meisten brauchte und all die Stärke, die Kameradschaft gibt, verliessen ihn seine Nächsten und Teuersten oder schliefen, ohne seiner seelischen Qual gewahr zu werden. «Der Prometheus-Konflikt ist der sich im menschlichen [213] Denken abspielende Streit zwischen dem Sehnen nach Verständnis und dem vertrauteren unmittelbaren Drang jener lebhaften Neigungen und Wünsche, die bedingt sind durch das Wohlwollen und die Unterstützung von Mitmenschen, Wünsche für das Glück unserer Lieben, für die Linderung von Schmerz und Enttäuschung im Denken derer, die den inneren Traum nicht begreifen können, und für die angenehme Bestätigung weltlicher Ehrungen. Dieser Konflikt ist der Felsen, an dem das religiöse Denken scheitert und mit sich entzweit wird». (Psychologie und prometheischer Wille, engl., von W. H. Sheldon, S. 85, 86) Christus scheiterte nicht an diesem Felsen, doch er hatte Augenblicke höchster Verzweiflung, in denen er nur im Wissen um die Vaterschaft Gottes Trost fand und in der sich daraus ergebenden Bruderschaft der Menschen. «Vater», sagte er. Aus diesem Gefühl der Einheit mit Gott und seinen Mitmenschen heraus setzte er das Abendmahl ein, um jenen Gemeinschaftsdienst zu schaffen, dessen Symbolik in der theologischen Praxis so unselig verlorengegangen ist. Der Grundton jenes Gemeinschaftsdienstes war Kameradschaft. «Es ist nur dies, dass Jesus Gemeinschaft unter uns schafft. Er tut das nicht als Symbol ... insoweit als wir miteinander und mit ihm den gleichen Willen haben, das Reich Gottes über alles zu stellen und für diesen Glauben und diese Hoffnung zu dienen, soweit besteht Gemeinschaft zwischen ihm und uns allen menschlichen Generationen, die in denselben Gedanken lebten und leben». (Das Mysterium des Reichs Gottes, von Albert Schweitzer, S. 56)

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1. «Vater, vergib ihnen, sie wissen nicht, was sie tun». (Lukas XXIII/34)

2. «Heute noch sollst du mit mir im Paradiese sein». (Lukas XXIII/43)

3. «Weib, siehe, das ist dein Sohn! ... Siehe, das ist deine Mutter!» (Joh. XIX/26)

4. «Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?» (Matth. XXVII/46)

5. «Mich [214] dürstet». (Joh. XIX/28)

6. «Es ist vollbracht». (Joh. XIX/30)

7. «Vater, in deine Hände empfehle ich meinen Geist». (Lukas XXIII/46)

Der Gedanke an das Reich bestimmt alles, was er am Kreuz sagte. Das WORT DER KRAFT, das vom Kreuz herabströmte, wurde diesmal nicht vom Vater, sondern von Jesus Christus selbst gesprochen. Christus sprach ein siebenfältiges Wort, in dem er für uns das WORT der feierlichen Einführung des Reichs Gottes zusammenfasste. Jede seiner Äusserungen hat bezug auf das Reich, nicht den gewöhnlichen, unbedeutenden, individuellen oder selbstbezogenen Sinn, den wir ihnen so oft zugeschrieben haben. Was bedeuten diese sieben Worte? Wir wollen sie betrachten und uns dabei vergegenwärtigen, dass die Gründe, aus denen sie hervorgingen, die Offenbarung des Reichs Gottes auf Erden brachten.

In jedem Fall sind die sieben Aussagen entweder in individueller Beziehung zu der vermutlich angesprochenen Person oder in persönlicher Beziehung zu Christus selbst gedeutet worden. Wir haben die Bibel immer in dieser Art gelesen, in Gedanken an diese persönliche Bedeutung. Aber diese Worte Christi sind von zu grosser Wichtigkeit, um so ausgelegt zu werden. Sie haben einen viel weiteren Sinn als den, der ihnen gewöhnlich gegeben wird. Das Wunderbare in allem, was er sagte, ist, dass es verschieden ausgelegt werden kann (wie es das Wunder aller heiligen Schriften ist). Die Zeit ist gekommen, da der Sinn, den Christus gab, von uns, im Licht des Reichs Gottes und mit einem weiteren Begriffsinhalt als dem rein individuellen, allgemeiner verstanden werden sollte. Seine Worte waren WORTE DER KRAFT, anrufend und hervorrufend, machtvoll und dynamisch.

Wenn jemand das erste Wort am Kreuz betrachtet, so wird ihm als erstes bewusst, dass Jesus den Vater bat, jenen, die ihn gekreuzigt hatten, zu vergeben. Augenscheinlich betrachtete er seinen Tod am Kreuz nicht als hinreichend dafür. Das Vergiessen des [215] Blutes bewirkte keine Vergebung der Sünden, sondern es war notwendig, Gott um Vergebung für die begangene Sünde zu bitten. Zwei Tatsachen gehen aus diesem Wort hervor, nämlich die Vaterschaft Gottes und die Tatsache, dass, wenn aus Unwissenheit Unrecht getan wird, sich der Mensch nicht schuldig und daher nicht strafbar macht. Sünde und Unwissenheit sind häufig synonyme Begriffe, doch die Sünde als solche wird von denen, die wissen (und nicht unwissend sind), erkannt. Mit diesem Wort am Kreuz sagt uns Christus zweierlei:

1. Dass Gott unser Vater ist, und dass wir uns ihm nähern durch Christus. Es ist der in uns verborgene Mensch des Herzens, der unerkannte Christus, der sich an den Vater wenden kann. Christus hatte dieses Recht erworben durch seine bewiesene Göttlichkeit und weil er durch die dritte Einweihung, die Verklärung, hindurchgegangen war. Wenn auch wir verklärt sein werden (nur der verklärte Christus kann gekreuzigt werden), dann können auch wir den Vater anrufen und den Geist aufrufen, der Gott, das Leben in allen Formen ist, rechte Beziehungen herzustellen und jene Vergebung zustandezubringen, welche die wahre Essenz des Lebens selbst ist.

2. Dass Vergebung das Resultat des Lebens ist. Diese Wahrheit anzunehmen, fällt dem westlichen Gläubigen schwer. Er ist so gewohnt, sich auf die Tätigkeit Christi in ferner Vergangenheit zu stützen. Vergebung ist jedoch ein Ergebnis lebendiger Vorgänge, die Ausgleich bringen, Rückerstattung verursachen und jenen Zustand schaffen, in dem ein Mensch nicht länger unwissend ist und daher eine Vergebung nicht benötigt. Leben und Erfahrung tun das für uns, und nichts kann den Vorgang aufhalten. Nicht ein theologisches Glaubensbekenntnis führt uns zu Gott, sondern die Einstellung zum Leben und die Einstellung zum Christus im menschlichen Herzen. Wir lernen durch Schmerz und Leiden (also durch Erfahrung), nicht zu sündigen. Wir zahlen den Preis für unsere Sünden und hören auf, sie zu begehen. Wir erreichen schliesslich den Punkt, wo wir nicht länger unsere früheren Fehler oder unsere vergangenen Sünden begehen. Durch Schmerz und Qual lernen wir, dass auf die Sünde Vergeltung folgt und sie Leiden [216] verursacht. Aber das Leiden hat seinen Nutzen, wie Christus wusste. In seiner Person war er nicht nur der historische Jesus, den wir kennen und lieben, sondern er war auch für uns das Symbol für den kosmischen Christus, Gott, leidend durch die Leiden seiner Geschöpfe.

Gerechtigkeit kann Vergebung sein, wenn die Tatsachen des Falles richtig verstanden werden, und in dieser Bitte des gekreuzigten Erlösers erkennen wir das Gesetz der Gerechtigkeit und nicht jenes der Vergeltung, einer Handlung gegenüber, vor der die ganze Welt voller Entsetzen steht. Dieses Vergeben ist das unendlich lange Wirken der Seele in der Materie oder Form. Der orientalische Gläubige nennt es Karma. Der westliche Gläubige spricht vom Gesetz von Ursache und Wirkung. Beides betrifft jedoch das Bemühen eines Menschen um die Errettung seiner Seele und das beständige Zahlen des Preises durch den Unwissenden für begangene Fehler und sogenannte Sünden. Ein Mensch, der absichtlich gegen Einsicht und Wissen sündigt, ist selten. Die meisten «Sünder» sind einfach Unwissende. «Sie wissen nicht, was sie tun».

Dann wandte sich Christus einem Sünder zu, einem Menschen, der in den Augen der Welt schuldig war und der selbst die Richtigkeit des Urteils und seiner Bestrafung anerkannte. Er behauptete, dass er die gerechte Strafe für seine Sünden empfinge, aber da war etwas im Wesen Jesu, was ihm auffiel und ihn zu der Bemerkung drängte, dass dieser dritte Übeltäter «nichts Böses getan habe». Zweierlei brachte ihm die Zulassung ins Paradies. Er erkannte die Göttlichkeit Christi an. «Herr», sagte er, und er hatte auch eine Vorstellung von der Aufgabe Christi, der Gründung eines Reichs. «Denke an mich, wenn du in dein Reich kommst!» Die Bedeutung seiner Worte ist ewig und allgemein gültig, denn der Mensch, der das Göttliche erkennt und gleichzeitig empfänglich ist für das Reich, ist bereit, Nutzen zu ziehen aus den Worten: «Heute noch wirst du mit mir im Paradies sein!»

Im ersten Ausspruch am Kreuz geht Jesus auf die Unwissenheit und Schwäche der Menschen ein. Er selbst war hilflos wie ein kleines Kind, und in seinen Worten bezeugte er die Tatsache der ersten Einweihung und wies auf die Zeit hin, als er ein «Kind in [217] Christo» war. Die Parallelen zwischen den beiden Ereignissen sind bemerkenswert.

Die Unwissenheit, Hilflosigkeit und das sich daraus ergebende schlechte Verhalten der Menschen rufen in Jesus die Bitte hervor, dass ihnen Vergebung gewährt werden möge. Doch wenn die Erfahrungen des Lebens ihre Rolle gespielt haben, ist da wieder das «Kind in Christo», das nichts weiss von den Gesetzen des geistigen Reichs, jedoch befreit ist von der Dunkelheit und Unwissenheit des Menschenreichs.

Im zweiten Wort am Kreuz finden wir die Anerkennung des Taufereignisses, das Reinheit und Befreiung durch Reinigung mit den Wassern des Lebens bedeutet. Die Wasser der Taufe des Johannes befreien von der Knechtschaft des Persönlichkeitslebens. Aber die Taufe, der Christus durch die Kraft seines eigenen Lebens unterzogen wurde, und der auch wir durch das Leben des Christus in uns unterworfen sind, war die Taufe des Feuers und des Leidens, die ihren Höhepunkt der Schmerzen am Kreuz findet. Dieser Höhepunkt des Leidens ist bei dem Menschen, der bis ans Ende durchhalten konnte, sein Eintritt ins «Paradies» ein Wort, das Seligkeit bedeutet. Drei Worte sind gebräuchlich, um die Kraft, sich zu freuen, auszudrücken: Glück, Freude und Seligkeit. Glück hat rein physische Bedeutung; es betrifft unser physisches Leben und alles, was damit zusammenhängt. Freude ist das Wesen der Seele und spiegelt sich im Glück wider. Aber Seligkeit ist vom Wesen Gottes selbst. Sie ist ein Ausdruck der Göttlichkeit und des Geistes. Glück kann als die Belohnung der neuen Geburt betrachtet werden, weil es physische Bedeutung hat, und es ist sicher, dass Christus das Glück kannte, obwohl er ein «Mann des Leidens» war. Die der Seele eigene Freude erreicht ihre Vollendung in der Verklärung. Obwohl Christus mit dem «Leiden vertraut» war, kannte er den Wesenskern der Freude, denn «die Freude des Herrn ist unsere Stärke», und es ist die Seele, der Christus in jedem menschlichen Wesen, die Kraft, Freude und Liebe ist. Er kannte auch Seligkeit, denn bei der Kreuzigung war Seligkeit, die der Lohn des Sieges der Seele ist, seine Belohnung.

So haben wir in diesen zwei WORTEN DER KRAFT: «Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun», und «Heute noch sollst du mit mir im Paradies sein» die Bedeutung der beiden ersten Einweihungen zusammengefasst.

Nun kommen [218] wir zu der ausserordentlichen und viel diskutierten Episode zwischen Christus und seiner Mutter, zusammengefasst in den Worten: «Weib, siehe deinen Sohn!» und dann die Worte, die er zu dem geliebten Apostel sprach: «Siehe deine Mutter!» Was bedeuteten diese Worte? Unter Christus standen die zwei Menschen, die ihm am meisten bedeuteten, und aus aller Qual der Kreuzigung heraus gab er ihnen eine besondere Botschaft, die sie zueinander in Beziehung brachte. Unsere Überlegungen zu den vorhergegangenen Einweihungen mögen uns ihre Bedeutung klar machen. Johannes versinnbildlicht die Persönlichkeit, die Vollkommenheit erreicht und die von göttlicher Liebe erleuchtet wird, dem Hauptmerkmal der Seele, der zweiten Person der göttlichen Dreieinigkeit, dem Sohn Gottes, dessen Natur Liebe ist. Wie wir gesehen haben, stellt Maria, die dritte Person der Dreieinigkeit, den Materie-Aspekt der Natur dar, der den Sohn hegt und ernährt und ihn in Bethlehem zur Welt bringt. Indem Christus die symbolische Bedeutung dieser zwei Personen verwendet, bringt er sie in diesen Worten zueinander in Beziehung und sagt praktisch: Sohn, erkenne, wer dich in Bethlehem zur Welt bringen wird, erkenne, wer das Christusleben beherbergt und behütet! und zu seiner Mutter: Erkenne, dass in der entfalteten Persönlichkeit das Christuskind verborgen ist. Materie oder die Jungfrau Maria wird durch ihren Sohn verherrlicht. Deshalb haben die Worte Christi eine bestimmte Beziehung zu der dritten Einweihung, der Verklärung.

So bezieht sich Christus in seinen ersten drei Worten vom Kreuz auf die ersten drei Einweihungen und erinnert an die sich durch ihn offenbarende Synthese und an die Stufen, die wir ersteigen müssen, wenn wir seinen Spuren folgen wollen. Es ist auch möglich, dass der gekreuzigte Erlöser daran dachte, dass Materie selbst, weil göttlich, unendlicher Leiden fähig ist, und er mochte sich mit jenen Worten die Erkenntnis abringen, dass, wie Gott in der Person seines Sohnes leidet, er ebenso mit der gleichen Qual in der Person der Mutter jenes Sohnes leidet, der materiellen Form, die ihm zur Geburt verholfen hat. Christus steht auf halbem Weg zwischen den beiden, der Mutter und dem Vater. Dies ist sein Problem, und darin ist das Problem jedes menschlichen Wesens zu finden. Christus verbindet den Materie-Aspekt mit [219] dem Geist-Aspekt; die Vereinigung dieser beiden bringt den Sohn hervor. Dies ist das Problem der Menschheit und ihre Gelegenheit.

Das vierte Wort vom Kreuz lässt uns teilnehmen an einem der intimsten Augenblicke im Leben Christi, einem Augenblick, der, wie die drei vorangegangenen Worte, eine bestimmte Beziehung zu dem Reich hat. Man zögert immer, in diese Episode im Leben Christi einzudringen, denn es ist eine der tiefsten, geheimsten und vielleicht heiligsten Phasen seines Erdenlebens. Wir lesen, dass für drei Stunden «Dunkelheit die Erde bedeckte». Dies ist ein äusserst bedeutsames Zwischenspiel. Allein, am Kreuz, in der Finsternis, stellte er sinnbildlich alles dar, was in diesen tragischen und qualvollen Worten verkörpert war. Die Zahl Drei ist eine der wichtigsten und heiligsten Zahlen. Sie steht für Göttlichkeit und auch für die vollkommen gewordene Menschheit. Christus, der vollkommene Mensch, hing «drei Stunden» am Kreuz, und in dieser Zeit war jeder der drei Aspekte seiner Natur bis zur höchsten Vorstellungsfähigkeit und daraus folgendem Leiden angespannt. Am Ende entrang sich dieser dreifachen Persönlichkeit der Schrei: «Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?»