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Erstes Kapitel - Einführende Bemerkungen über Einweihung - Teil 1

Erstes Kapitel

Einführende Bemerkungen über Einweihung

Leitgedanke

«Es gibt ein [1] menschliches Verlangen nach Gott, es gibt aber auch ein Verlangen Gottes nach dem Menschen. Gott ist die höchste Idee, das wichtigste Anliegen und das grösste Verlangen des Menschen. Das Problem Gottes ist ein menschliches Problem, das Problem des Menschen ist ein göttliches Problem. ... Der Mensch ist das Gegenüber Gottes und der Gegenstand seiner Liebe, von welchem er die Erwiderung der Liebe erwartet. Der Mensch ist die andere Person des göttlichen Mysteriums. Gott bedarf des Menschen. Es ist Gottes Wille, dass nicht nur er selbst sei, sondern auch der Mensch, der Liebende und der Geliebte».

(«Geister, die um Christus ringen», engl., von Karl Pfleger, S. 236)

Erstes Kapitel

Einführende Bemerkungen über Einweihung.

1.
Wir sind dabei, von [3] einem religiösen Zeitalter in ein anderes überzugehen. Die geistige Richtung von heute wird ständig deutlicher. Die Herzen der Menschen sind niemals offener gewesen für spirituelle Eindrücke als zu dieser Zeit, und die Tür zum wahren Mittelpunkt der Wirklichkeit steht weit offen. Jedoch parallel mit dieser bedeutsamen Entwicklung geht eine Neigung in die entgegengesetzte Richtung, materialistische Philosophien und Lehren der Negation werden zunehmend vorherrschend. Für viele bleibt die ganze Frage der Gültigkeit der Christlichen Religion noch unentschieden. Man behauptet, dass das Christentum versagt habe und dass der Mensch das Evangelium mit seinen Folgerungen von Göttlichkeit und seinem Drängen nach Dienst und Opfer nicht benötige.

Ist das Evangelium historisch wahr? Ist es eine mystische Erzählung von grosser Schönheit und tatsächlichem Lehrwert, aber dessen ungeachtet nicht von lebenswichtiger Bedeutung für die intelligenten Menschen von heute, die auf ihre Verstandeskräfte und ihre Unabhängigkeit von altertümlichen gedanklichen Fesseln und verstaubten Überlieferungen so stolz sind? In bezug auf die Vollkommenheit des dargestellten Charakters Christi gab es niemals irgendwelche Zweifel. Die Feinde des Christentums bewundern seine Einzigartigkeit, seine grundlegende Tiefe und sein Verstehen der Menschenherzen. Sie erkennen die Intelligenz seiner Ideen und bezeugen diese in ihren eigenen Philosophien. Die Entwicklungen, die der Zimmermann von Nazareth in dem Ablauf des menschlichen Lebens hervorbrachte, seine sozialen und wirtschaftlichen Ideale und die Schönheit der Zivilisation, die auf der Grundlage der Sittenlehre der Bergpredigt gegründet werden [4] könnte, sind häufig von vielen betont worden, die sich weigern, seine Mission als einen Ausdruck von Göttlichkeit anzuerkennen. Obwohl vom rationalen Gesichtspunkt aus die Frage nach der historischen Zuverlässigkeit seiner Geschichte bisher ungelöst blieb, wird doch seine Lehre von der Vaterschaft Gottes und der Bruderschaft der Menschen von den besten Geistern der Menschheit gutgeheissen. Jene, die sich in der Welt der Ideen, des Glaubens und der lebendigen Erfahrung bewegen können, bezeugen seine Göttlichkeit und die Tatsache, dass man ihm sich nähern kann. Aber ein solches Zeugnis wird als mystisch, nutzlos und nicht beweisbar leicht übergangen. Individueller Glaube ist hiernach von keinem Wert für irgend jemand, ausgenommen den Glaubenden selbst, aber es besteht die Neigung, das Zeugnis zu verstärken, bis das Ergebnis solche Ausmasse annimmt, dass es schliesslich zum Beweis wird. Auf den «Weg des Glaubens» zurückzukehren, kann also eine lebendige Erfahrung anzeigen, kann allerdings auch eine Form von Selbsthypnose, ein «Weg des Entkommens» aus den Schwierigkeiten und Problemen des täglichen Lebens sein. Die Anstrengung, zu verstehen, zu experimentieren, Erfahrungen zu machen und das Erkannte und Geglaubte auszudrücken, fällt den meisten Menschen zu schwer, und dann fallen sie zurück in einen Glauben, der auf dem Zeugnis des Vertrauten beruht, als leichtester Weg aus dieser Sackgasse.

Das Problem der Religion und das Problem des orthodoxen Christentums sind nicht ein und dasselbe. Vieles, was wir heute an Unglauben, Kritik und Verneinung unserer sogenannten Wahrheiten um uns sehen, beruht auf der Tatsache, dass Religion weithin verdrängt worden ist durch das Glaubensbekenntnis; Doktrin hat den Platz der lebendigen Erfahrung eingenommen. Diese lebendige Erfahrung ist der Grundgedanke dieses Buches. Ein anderer Grund, warum die Menschheit zu dieser Zeit so wenig glaubt und so unglücklich bezweifelt, was sie glaubt, mag die Tatsache sein, dass die Theologen versucht haben, das Christentum aus seinem Platz in dem Plan der Dinge herauszuheben, und dass sie seine Stellung im grossen Zusammenhang göttlicher Offenbarung übersehen haben. Sie waren bestrebt, seine Einzigartigkeit zu betonen und es als einen völlig getrennten, isolierten Ausdruck spiritueller Religion zu betrachten. Dabei zerstören sie seinen Hintergrund, rütteln an seinen Grundlagen und machen es für den [5] ständig sich entwickelnden Verstand des Menschen schwierig, diese Darstellung anzunehmen. Schon Augustin sagt jedoch, dass «das, was die christliche Religion genannt wird, schon im Altertum bestanden hat, vom Beginn der Menschenrasse an, bis Christus sich verkörperte; zu welcher Zeit die wahre Religion, die schon bestand, Christentum genannt wurde». (Zitiert von Kingsland in «Religion im Licht der Theosophie»). Die Weisheit, die Verwandtschaft mit Gott zum Ausdruck bringt, die Richtlinien, die unsere Wanderschaft zum Vaterhaus zurück lenken, und die Lehre, die Offenbarung bringt, waren durch alle Zeiten hindurch immer die gleichen und sind identisch mit dem, was Christus lehrte. Die Gesamtheit innerer Wahrheiten, dieser Reichtum göttlicher Weisheit haben seit undenklichen Zeiten bestanden. Es ist die Wahrheit, die Christus offenbarte, aber er tat mehr als dies. Er offenbarte in sich und durch seine Lebensgeschichte, was diese Weisheit und dieses Wissen für den Menschen bedeuten könnte. Er stellte in sich den vollen Ausdruck der Göttlichkeit dar und wies seine Jünger an, dass sie hingehen und das Gleiche tun sollten.

In die Reihe der Offenbarungen tritt das Christentum in seinem Ausdruckszyklus unter dasselbe göttliche Gesetz, das alle Manifestation beherrscht: das Gesetz zyklischer Erscheinung. Diese Offenbarung geht durch die Phasen aller FormManifestation oder Erscheinung; dann Wachstum und Entwicklung, und zuletzt (wenn die Periode ihrem Ende zugeht) Kristallisation und ein allmähliches, aber ständiges Betonen des Buchstabens und der Form, bis der Tod dieser Form unvermeidlich und ratsam wird. Doch der Geist lebt weiter und nimmt neue Formen an. Der Geist Christi ist unsterblich, und so, wie er in alle Ewigkeit lebt, muss auch das, zu dessen Sichtbarmachung er sich inkarnierte, leben. Von der Zelle im Mutterleib, dem Zustand des Kleinkindes, bis zu dessen Entwicklung zum Mann dem allen unterwarf er sich und unterzog sich jenen Prozessen, die das Schicksal jedes Gottessohnes sind. Wegen dieser Unterwerfung und, «weil er aus dem, was er erlitt, Gehorsam lernte» (Hebräer V/8), konnte er damit betraut werden, den Menschen Gott zu offenbaren und (dürfen wir es sagen?) Gott das Göttliche im Menschen. Denn das Evangelium [6] zeigt uns, dass Christus unaufhörlich diese Erkenntnis vom Vater aufruft. Die grosse Folge von Offenbarungen ist unser ganz unschätzbarer Besitz, und dazu gehört auch die christliche Religion. Gott hat sich niemals ohne Zeugen gelassen und wird es niemals tun. Die Stellung des Christentums als Erfüllung der Vergangenheit und eine Stufe in die Zukunft wird oft vergessen; und dies ist vielleicht einer der Gründe, weshalb man von einem Versagen des Christentums spricht und nach jener geistigen Offenbarung Ausschau hält, die so äusserst notwendig zu sein scheint. Wenn dieser Zusammenhang und der Platz des christlichen Glaubens darin nicht nachdrücklich betont wird, so könnte die Offenbarung kommen und unerkannt vorübergehen. «Es gab», wird uns gesagt, «in jedem alten Land, das Anspruch auf Zivilisation erhob, eine esoterische Lehre, ein System, das als Weisheit bezeichnet wurde, und jene, welche seinem Dienst geweiht waren, wurden zuerst Kluge oder Weise genannt. Pythagoras bezeichnete dieses System als ... die Gnosis oder das Wissen der Dinge, welche sind. Unter der erhabenen Bezeichnung WEISHEIT fassten die alten Lehrer, die Weisen Indiens, die Magier Persiens und Babylons, die Seher und Propheten Israels, die Hierophanten Ägyptens und Arabiens, die Philosophen von Griechenland und dem Westen alles Wissen zusammen, das sie als wesentlich göttlich ansahen. Ein Teil wurde als esoterisch, der Rest als exoterisch unterschieden. (H. P. Blavatsky: «Die Geheimlehre», engl., III, S. 55). Wir wissen viel von der exoterischen Lehre. Orthodoxes und theologisches Christentum ist darauf gegründet, wie alle orthodoxen Formulierungen der grossen Religionen. Wenn jedoch die innere Weisheitslehre vergessen, die esoterische Seite übersehen wird, dann verschwinden der Geist und die lebendige Erfahrung. Wir waren mit den Einzelheiten der äusseren Form des Glaubens beschäftigt, haben aber den inneren Sinn, der für den Einzelnen und auch für die Menschheit Leben und Erlösung bringt, kläglich vergessen. Wir sind eifrig gewesen, über Unwesentlichkeiten der überlieferten Auslegung zu streiten, und haben es unterlassen, das Geheimnis und die praktische Durchführung des christlichen Lebens zu lehren. Wir haben die doktrinären und dogmatischen Seiten überbetont und den Buchstaben vergöttert, während in der ganzen Zeit die Seele des Menschen nach dem Geist des Lebens [7] schrie, den der Buchstabe verhüllte. Wir haben uns um die historischen Aspekte der Evangelien gequält, um das Zeitelement und die wörtliche Genauigkeit der vielen Übersetzungen, während wir versäumten, die wirkliche Herrlichkeit von Christi Vollendung zu sehen, und die bedeutsame Lehre, die sie für den Einzelnen und die Menschheit enthält. Das Drama seines Lebens und seine praktische Anwendung in den Leben seiner Nachfolger hat man aus den Augen verloren durch die unangebrachte Bedeutung, die an gewisse Sätze geknüpft wurde, die er gesagt haben soll, während das, was er in seinem Leben zum Ausdruck brachte, und die Beziehungen, die er nachdrücklich betonte und als in seine Offenbarung eingeschlossen betrachtete, völlig ignoriert wurden.

Wir haben um den historischen Christus gekämpft und beim Kämpfen die Sicht verloren von seiner Botschaft der Liebe zu allen Wesen. Fanatiker streiten über seine Worte und vergessen, dass er das «fleischgewordene Wort» war. Wir diskutieren über die jungfräuliche Geburt Christi und vergessen die Wahrheit, welche diese Inkarnation lehren sollte. Evelyn Underhill sagt in ihrem sehr wertvollen Buch «Mystizismus» dass «die Inkarnation, welche für das volkstümliche Christentum gleichbedeutend ist mit der historischen Geburt und dem irdischen Leben Christi, für den Mystiker nicht nur dieses ist, sondern auch ein fortgesetzter kosmischer und persönlicher Vorgang».

Gelehrte verbrachten ihr Leben mit dem Nachweis, dass die ganze Geschichte nur ein Mythos ist. Es sollte jedoch herausgestellt werden, dass ein Mythos der zusammengefasste Glaube und das Wissen der Vergangenheit ist, uns überliefert zu unserer Führung und zum Bilden der Grundlage einer neuen Offenbarung, und dass sie eine Stufe zur nächsten Wahrheit bildet. Ein Mythos ist eine gültige und bewiesene Wahrheit, welche Stufe für Stufe die Kluft zwischen dem in der Vergangenheit gewonnenen Wissen, der gegenwärtig formulierten Wahrheit und den unendlichen und göttlichen Möglichkeiten der Zukunft überbrückt. Die alten Mythen und die alten Mysterien geben uns eine aufeinanderfolgende Darbietung der göttlichen Botschaft, wie sie entsprechend dem Bedürfnis der Menschen durch alle Zeiten von Gott ausgegangen ist. Die Wahrheit des einen Zeitalters wird der Mythos des nächsten, aber ihre Bedeutung und ihre Wirklichkeit bleiben unberührt, erfordern nur eine Neuauslegung in der Gegenwart.

Wir sind [8] frei zu wählen oder abzulehnen, aber lasst uns zusehen, dass wir mit offenen Augen wählen, mit jenem Scharfsinn und jener Weisheit, die das Kennzeichen derjenigen ist, die auf dem Pfad der Rückkehr ein beträchtliches Stück vorangekommen sind. Es ist Leben und Wahrheit und Vitalität im Evangelium, sie sollen durch uns wieder angewendet werden. Es ist Dynamik und Göttlichkeit in der Botschaft Jesu.

Das Christentum ist für uns heute eine Gipfelreligion. Es ist die grösste der letzten göttlichen Offenbarungen. Vieles davon muss inzwischen als Mythos angesehen werden, weil es zweitausend Jahre zurückliegt; die klaren Umrisse der Geschichte sind verdunkelt und werden ihrer Natur nach häufig als symbolisch betrachtet. Jedoch hinter Symbol und Mythos steht Wirklichkeit, eine wesentliche, dramatische und praktische Wahrheit.

Unsere Aufmerksamkeit ist durch das Symbol und die äussere Form angeregt worden, während die Bedeutung verborgen blieb und darin versagte, unser Leben genügend zu beeinflussen. Bei unserem kurzsichtigen Buchstabenstudium ging uns die Bedeutung des WORTES selbst verloren. Wir müssen hinter das Symbol gehen, zu dem, was es verkörpert, und müssen unsere Aufmerksamkeit von der Welt der äusseren Form hinwenden zu jener der inneren Wirklichkeiten. Hermann Keyserling sagt dies mit folgenden Worten: «Der Vorgang, auf dem Gebiet der geistigen Einstellung von der Ebene des Buchstäblichen zu jener der inneren Bedeutung vorzudringen, kann durch eine einzige Vorstellung dargelegt werden. Er besteht im «Durchschauen» des Phänomens. Jede lebendige Erscheinung ist zuerst und zuletzt ein Symbol; denn das Wesen des Lebens ist Bedeutung. Aber jedes Symbol als der letzte Ausdruck eines Bewusstseinszustand ist in sich durchscheinend für ein anderes, tieferes, und so weiter in Ewigkeit. Denn alle Dinge sind im Lebenszusammenhang innerlich verwandt, und ihre Tiefen wurzeln in Gott.

Deshalb kann keine spirituelle Form jemals ein letzter Ausdruck sein; jeder Sinn, wenn er durchdrungen ist, wird automatisch der mehr buchstäbliche Ausdruck eines tieferen, und damit gewinnt das alte Phänomen eine neue und andere Bedeutung. Die katholische, protestantische, griechisch-katholische Religion, Islam und Buddhismus können im Prinzip auf dem Plan dieses Lebens fortdauern, wie sie immer waren, und dennoch etwas gänzlich Neues bedeuten». (Hermann Keyserling: Die Wiederherstellung der Wahrheit, engl., S. 91/92).

Die einzige Entschuldigung für dieses Buch ist, dass es einen Versuch [9] darstellt, zu dem tieferen Sinn durchzudringen, der den grossen Ereignissen im Leben Christi zugrunde liegt, und das schwachwerdende Streben der Christen zu erneuertem Leben und Interesse zu bringen. Wenn gezeigt werden kann, dass der in den Evangelien offenbarte Bericht sich nicht nur auf jene göttliche Gestalt bezieht, die eine Zeitlang unter den Menschen weilte, sondern dass sie auch für den zivilisierten Menschen heute eine praktische Bedeutung und einen Sinn hat, dann wird ein Ziel gewonnen, ein Dienst und eine Hilfe geleistet. Es ist möglich, dass wir uns heute bei unserer weiter fortgeschrittenen Entwicklung und der Fähigkeit, uns durch feinere Schattierungen des Bewusstseins auszudrücken, die Lehre mit klarerer Vision und zu weiserem Gebrauch der angedeuteten Lektion aneignen können. Dieser grosse Mythos gehört zu uns. Deshalb lasst uns mutig sein und dieses Wort in seiner wahren und rechten Bedeutung gebrauchen. Ein Mythos ist imstande, in der Erfahrung des Menschen eine Tatsache zu werden; denn ein Mythos ist eine Tatsache, die bewiesen werden kann. Die Mythen sind unsere Grundlage, aber wir müssen versuchen, sie im Licht der Gegenwart neu auszulegen. Durch selbsteingeleitete Versuche können wir ihre Gültigkeit beweisen, durch Erfahrung sie als herrschende Kräfte in unserem Leben erkennen und, indem wir sie zum Ausdruck bringen, können wir ihre Wahrheit anderen gegenüber darlegen. Das ist das Thema dieses Buches, das die Tatsachen der Evangelien behandelt, jener fünffach aufeinanderfolgende Mythos, der uns die Offenbarung der Göttlichkeit in der Person Jesu Christi lehrt. Sie bleibt ewige Wahrheit im kosmischen Sinn und im historischen Geschehen sowie in ihrer praktischen Anwendung auf den Menschen.

Dieser Mythos unterteilt sich in fünf grosse Episoden:

1. Die Geburt in Bethlehem

2. Die Taufe im Jordan

3. Die Verklärung auf dem Berge Karmel

4. Die Kreuzigung in Golgatha

5. Die Auferstehung und Himmelfahrt

Ihre Bedeutung für uns und ihre Neuauslegung in modernen Begriffen ist unsere Aufgabe.

Eine [10] Wende und ein Höhepunkt ist erreicht worden in der Menschheitsgeschichte, und der Mensch verdankt dies dem Einfluss des Christentums. Als ein Glied der menschlichen Familie hat er eine Ebene der Integration erreicht, die in der Vergangenheit unbekannt war, mit Ausnahme der wenigen Erwählten jeder Nation. Der Mensch ist, wie die Psychologen gezeigt haben, eine Gesamtsumme physischer Organismen von Lebenskraft, psychischen Zuständen, gefühlsmässigen Bedingungen und von mentaler, gedanklicher Reaktion. Er ist jetzt bereit, dass ihm seine nächste Stufe, seine weitere Entfaltung und Entwicklung angezeigt wird. Dies erwartet er, und wir sollten ständig bereit sein, die Gelegenheit wahrzunehmen. Die Tür zu einer Welt höheren Seins und Bewusstseins steht weit offen für den Weg zum Reich Gottes, auf den deutlich hingewiesen wird. Viele sind in der Vergangenheit in dieses Reich hineingeschritten und dort zu einer Welt neuen Seins und Verstehens erwacht, die für die Menge ein versiegeltes Geheimnis ist. Die Herrlichkeit des gegenwärtigen Zeitpunkts liegt in der Tatsache, dass viele Tausende so vorbereitet sind, und (die nötige Instruktion vorausgesetzt) in die Geheimnisse Gottes eingeweiht werden könnten. Eine neue Entfaltung im Bewusstsein ist nun möglich, ein neues Ziel ist aufgerichtet und regiert das Denken vieler Menschen. Wir sind als Menschheit endgültig auf dem Weg zu einem neuen Wissen, zu frischeren Erkenntnissen und zu einer tieferen Welt der Werte. Was auf der äusseren Ebene der Erfahrung geschieht, ist bezeichnend für ein ähnliches Geschehen in der feineren Welt der Bedeutung. Für diese müssen wir uns vorbereiten.

Wir haben gesehen, dass die christliche Offenbarung die Lehren der Vergangenheit in sich vereinigte. Dies sagt Christus selbst mit den Worten: «Ich bin nicht gekommen, das Gesetz und die Propheten aufzuheben, sondern sie zu erfüllen». (Matth. V/17) Er verkörperte die ganze Vergangenheit und offenbarte dem Menschen die höchste Möglichkeit. Die Worte von Dr. Nicholas Berdyaev in «Die Freiheit und der Geist» (engl., S. 889) werfen Licht darauf:

«Die christliche Offenbarung ist universell, und alles Ähnliche in anderen Religionen ist nur ein Teil dieser Offenbarung. Das Christentum ist nicht einfach eine Religion derselben Ordnung wie die anderen; sie ist wie Schleiermacher sagt die Religion der Religionen. Was macht es aus, wenn innerhalb des Christentums [11] das vermeintlich so verschieden ist von anderen Glaubensbekenntnissen, nichts ursprünglich ist, ausser dem Kommen Christi und seiner Persönlichkeit. Ist es nicht geradeso, dass in diesem besonderen Punkt die Hoffnung aller Religionen erfüllt ist?»

Jeder grosse Zeitabschnitt und jeder Weltzyklus wird durch die liebevolle Güte Gottes seine Religion der Religionen haben, in der sie alle Offenbarungen der Vergangenheit zusammenfasst und die Hoffnung der Zukunft anregt. Die weltweite Erwartung von heute zeigt, dass wir am Rand einer neuen Offenbarung stehen. Diese wird in keiner Weise unser göttliches geistiges Erbe verneinen, sondern sie wird zu den Wundern der Vergangenheit eine klare Schau der Zukunft hinzufügen. Sie wird zum Ausdruck bringen, was göttlich ist, was aber bis jetzt unoffenbart war. Es ist deshalb möglich, dass ein Verstehen einiger der tieferen Bedeutungen der Evangelien die modernen Sucher befähigen wird, die weiteren Zusammenhänge zu erfassen.

Einige dieser tieferen Folgerungen werden erwähnt in einem vor vielen Jahren veröffentlichten Buch des erfahrenen Christen Dr. Campbell Morgan: «Die Krisen Christi». Den fünf hauptsächlichen Ereignissen im Leben des Erlösers, um welche die ganzen Evangelien aufgebaut sind, gibt er eine umfassende und allgemeine Auslegung, wenn er darauf hinweist, dass Christus nicht nur in der Tat und in Wahrheit durch diese dramatischen Erfahrungen hindurchgegangen ist, sondern dass er mit dem bestimmten Befehl von uns ging, «wir sollten seinen Fussspuren folgen» (I. Petrus 2/21). Ist es nicht möglich, dass diese grossen Tatsachen in der Erfahrung Christi, diese fünf verpersönlichten Aspekte des universalen Mythos, für uns als Einzelmenschen mehr als ein historisches und persönliches Interesse haben könnten? Ist es nicht möglich, dass sie manche Erfahrung und manches eingeleitete Bemühen verkörpern, durch welche nun viele Christen hindurchgehen werden und so seinem ausdrücklichen Befehl gehorchen, in ein neues Leben einzutreten? Müssen wir nicht alle wiedergeboren werden, getauft im Geiste und verklärt auf dem Berge der lebendigen Erfahrung? Steht nicht die Kreuzigung vielen von uns bevor und führt zur [12] Auferstehung und Himmelfahrt? Und ist es nicht auch möglich, dass wir diese Worte in einem zu engem Sinn, mit sentimentalen und alltäglichen Folgerungen ausgelegt haben, während sie für jene, die bereit sind, einen besonderen Weg und ein rascheres Folgen in den Fussspuren des Sohnes Gottes zeigen? Dies ist einer der Punkte, die uns angehen und mit denen dieses Buch sich befassen will. Wenn diese tiefere Bedeutung gefunden werden kann, und wenn das Drama der Evangelien in einer besonderen Weise das Drama jener Seelen wird, die bereit sind, dann werden wir die Auferstehung der Grundzüge des Christentums sehen und die Wiederbelebung der Form, die so schnell kristallisiert.

2.
Es ist interessant sich zu erinnern, dass andere Lehren ausserhalb des Christentums diese fünf wichtigen Krisen ausdrücklich hervorgehoben haben, die wenn es so gewünscht wird im Leben jener Menschen eintreten, die in ihrer wesentlichen Göttlichkeit stehen. Die Hindulehre und der buddhistische Glaube haben sie als Entwicklungskrisen ausdrücklich betont, denen wir am Ende nicht entkommen können; und ein rechtes Verständnis der Beziehungen dieser grossen Weltreligionen untereinander wird schliesslich auch ein besseres Verstehen dieser Ereignisse bringen. Die Religion des Buddha, obwohl der von Christus vorausgegangen, drückt die gleichen Grundwahrheiten aus, jedoch in anderer Art formuliert, was uns dessen ungeachtet zu einer breiteren Auslegung des Christentums helfen kann.

«Buddhismus und Christentum haben ihren Ursprung in zwei erleuchteten Augenblicken der Geschichte: dem Leben Buddhas und dem Leben Christi. Buddha gab seine Lehre, um die Welt zu erleuchten, Christus gab sein Leben. Es liegt nun an den Christen, diese Lehre zu erkennen. Vielleicht ist der wertvollste Teil der Lehre von Buddha die Auslegung seines Lebens (Religion im Entstehen, engl., von A. N. Whitehead, S. 55).

Die Lehre Laotses kann auch dem gleichen Zweck dienen. Religion muss schliesslich zusammengefasst werden, gesammelt aus [13] vielen Quellen und zusammengesetzt aus vielen Wahrheiten. Es ist berechtigt anzunehmen, dass, wenn man zu dieser Zeit einen Glauben zu wählen hätte, man das Christentum wählen würde, weil das zentrale Problem des Lebens ist, an unserer Göttlichkeit festzuhalten und diese zu manifestieren. Im Leben Christi haben wir die vollständigste und vollendetste Darstellung und ein Beispiel von Göttlichkeit, erfolgreich auf Erden gelebt und so gelebt, wie die meisten von uns leben müssen, nicht in Zurückgezogenheit, sondern im vollen Auf und Ab von Sturm und Drang.

Vertreter aller Glaubensbekenntnisse kommen heute zu Diskussionen zusammen, um eine Plattform von solcher Allgemeingültigkeit und Wahrheit herauszufinden, dass sich auf ihr alle Menschen einigen könnten und auf ihr sich die kommende Weltreligion zu gründen vermöchte. Diese könnte vielleicht in einer klareren Auslegung und dem Verstehen jener fünf hervorstechenden Episoden und ihrer praktischen und einzigartigen Beziehung nicht nur zum Einzelnen, sondern zur Menschheit als ganzem gefunden werden. Diese Verwirklichung wird uns bestimmter an die Vergangenheit binden, uns in der Wahrheit verankern, die war; sie wird uns unser unmittelbares Ziel und unsere Pflicht zeigen, die, wenn recht verstanden, uns in den Stand setzen wird, göttlicher zu leben, angemessener zu dienen und damit den Willen Gottes auf Erden zur Verwirklichung zu bringen. Ihre innere Bedeutung und unsere individuelle Beziehung zu ihnen sind wesentlich.

Es ist für uns ein wertvoller Gewinn und eine Bereicherung unseres Bewusstseins, wenn wir uns zeitweilig die Einheit und Gleichartigkeit der Lehre vergegenwärtigen, wie sie im Osten und im Westen gegeben wurde. Das vierte Ereignis im Leben Christi, die Kreuzigung, findet zum Beispiel eine Parallele in der Vierten Einweihung der orientalischen Lehre, die der Grosse Verzicht genannt wird. Es gibt eine Initiation, die in der Terminologie des Buddhismus «das Eintreten in den Strom» genannt wird, und im Leben Jesu ein Ereignis, das wir «die Taufe im Jordan» nennen. Die Geschichte von Christi Geburt in Bethlehem hat ihre Parallele praktisch in jedem Detail der Leben früherer Gottesboten. Diese erwiesenen Tatsachen sollten in uns die Erkenntnis wecken, dass, obwohl viele Botschafter sind, es nur eine Botschaft gibt. Doch diese Tatsache schmälert in keiner Weise die einzigartige Aufgabe Christi und [14] die einzigartige Funktion, zu deren Erfüllung er erschien.

Es ist interessant, auch daran zu denken, dass die zwei erhabenen Wesen Buddha und Christus ihr Siegel auf beide Hemisphären gesetzt haben Buddha, der Lehrer des Ostens, Christus, der Erlöser des Abendlandes. Wie immer auch unsere persönlichen Folgerungen hinsichtlich ihrer Beziehung zum Vater im Himmel oder zueinander sein mögen, so steht doch die Tatsache ausser allem Zweifel, dass sie ihren besonderen Zivilisationen die Offenbarung von Göttlichkeit brachten, und dass sie in höchst bedeutsamer Weise schliesslich zusammenwirkten zum Segen der Menschheit. Ihre beiden Systeme sind voneinander abhängig: Buddha bereitete die Welt vor für die Botschaft und Mission Christi.

Beide verkörperten in sich gewisse kosmische Prinzipien, und durch ihr Werk und Opfer strömten gewisse göttliche Kräfte durch und auf die Menschheit. Das Werk des Buddha und die von ihm ausgesandte Botschaft regte die Intelligenz an, zu Weisheit zu werden. Weisheit ist ein kosmisches Prinzip und eine göttliche Kraft, die Buddha verkörperte.

Aber die Liebe kam in die Welt durch Christus, und durch sein Wirken verwandelte er Emotion in Liebe. «Gott ist die Liebe». Das Verständnis dafür, dass Christus die Liebe Gottes offenbarte, macht die Grösse der Aufgabe klar, welche er unternahm, einer Aufgabe, weit über die Kräfte eines der Lehrer oder Boten hinausgehend, die ihm vorausgegangen waren. Buddha «goss», als er Erleuchtung erlangte, eine Flut von Licht über das Leben und über unsere Weltprobleme, und dieses intelligente Verstehen der Ursachen des Weltelends versuchte er als die Vier edlen Wahrheiten zu formulieren. Diese sind, wie den meisten von uns bekannt ist:

1. Alles Bestehende in der Welt der Erscheinungen ist untrennbar von Kummer und Leid.

2. Die Ursache des Leidens ist das Verlangen nach der Existenz in der Welt der Erscheinungen.

3. Das Aufhören des Leidens erfolgt durch Überwindung des Verlangens nach der Existenz in der Welt der Erscheinungen. [15]

4. Der Weg zur Beendigung des Leidens ist der edle «Achtfache Pfad», auf dem: Rechter Glaube, rechte Absicht, rechtes Sprechen, rechtes Handeln, rechtes Leben, rechtes Streben, rechtes Denken und rechte Konzentration zum Ausdruck gebracht werden.

Er stellte ein Gebäude von Glauben, Dogma und Lehre auf, das viele Tausende im Lauf der Jahrhunderte befähigt hat, das Licht zu sehen. Christus und seine Jünger sind heute, wie vor zweitausend Jahren, mit der Aufgabe beschäftigt, den Menschen Erleuchtung und Erlösung zu bringen. Inzwischen sind Stürme über die Weltillusion hinweggebraust, und das Denken der Menschen hat insgesamt eine zunehmende Klarheit erreicht. Deshalb kann der Mensch durch die Botschaft Buddhas zum ersten Mal die Ursache seiner ewigen Unzufriedenheit, seines beständigen Widerwillens und Unbefriedigtseins und seiner endlosen Sehnsucht begreifen. Durch Buddha kann er lernen, dass der Weg zur Befreiung durch Loslösung, Leidenschaftslosigkeit und Unterscheidungskraft zu finden ist. Dies sind die ersten Stufen auf dem Weg zu Christus.

Durch die Botschaft Christi tauchten drei allgemeine Begriffe im menschlichen Bewusstsein auf:

Erstens, dass der Einzelmensch als Individuum einen Wert hat. Dies war eine Wahrheit, welche die allgemeine östliche Lehre von der Wiedergeburt zu verneinen neigte. Es war genügend Zeit, Gelegenheiten kehrten endlos wieder, der Entwicklungsprozess würde das Seine tun. Lasst die Menschheit insgesamt deshalb mit der Flut treiben, schliesslich wird alles gut. Die allgemeine Haltung des Ostens verfehlte daher, den höchsten Wert jedes Individuums zu betonen. Doch Christus kam, das Werk jedes Individuums nachdrücklich zu kennzeichnen: «Lasset euer Licht leuchten vor den Menschen, damit sie eure guten Werke sehen!» (Matth. V/16)

Zweitens, der Menschheit als ganzes war die Gelegenheit geboten, einen riesigen Schritt vorwärts zu tun, sich der «neuen Geburt» zu unterziehen: die erste Einweihung zu nehmen. Damit werden wir uns im nächsten Kapitel befassen.

Der dritte [16] Begriff, der durch Christus gelehrt wurde, war jener, der die praktische Durchführung im neuen Zeitalter verkündete, die kommen musste, wenn die individuelle Erlösung und die neue Geburt richtig verstanden sein würde. Dies war die Botschaft oder der Befehl, unseren Nächsten wie uns selbst zu lieben (Matth. XIX/19). Individuelle Anstrengung, Gruppengelegenheit und Identifikation mit dem Nächsten dies war die Botschaft des Christus.

In Buddhas Lehre sind es die drei Wege, auf denen die niedere Natur umgewandelt und vorbereitet werden kann, ein bewusster Ausdruck von Göttlichkeit zu sein. Durch Loslösung lernt der Mensch, sein Interesse und sein Bewusstsein von den Angelegenheiten der Sinne zurückzuziehen und auf die Lockungen der niederen Natur nicht zu hören. Loslösung legt dem Menschen einen neuen Rhythmus auf. Durch das Verstehen der Lektion über LEIDENSCHAFTSLOSIGKEIT wird er immun gegen die Leiden der niederen Natur, wie er auch sein Interesse löst von zweitrangigen, unwesentlichen Dingen und es auf höhere Wirklichkeiten richtet. Durch Ausübung der UNTERSCHEIDUNG lernt das Denken das Gute, Schöne und Wahre zu wählen. Diese drei Praktiken, die zu einer veränderten Haltung gegenüber dem Leben und der Wirklichkeit führen, werden, wenn vernünftig angewendet, die Herrschaft der Weisheit bringen und den Schüler für das Christusleben vorbereiten.

Auf diese Belehrung der Menschheit folgt das Wirken Christi mit der Menschheit, woraus Verständnis kommt für den Wert des Individuums und seine selbst unternommenen Anstrengungen zur Freiheit und zur Erleuchtung, mit dem Endziel von Gruppenliebe und Gruppenwohl. Wir lernen, uns selbst zu vervollkommnen in Übereinstimmung mit dem Befehl Christi: «Seid vollkommen. ... (Matth. V/48), um etwas zum Wohl der Gruppe beizutragen und um so Christus vollkommen zu dienen. So wird jene geistige Wirklichkeit, von der Paulus spricht als: «Christus in euch, die Hoffnung auf Herrlichkeit» (Col. I/27) im Menschen frei und kann sich in vollem Ausdruck zeigen. Wenn dieses Ideal von genügend Menschen erfasst ist, kann die ganze menschliche Familie zum erstenmal vor dem Tor stehen, das zum Pfad des Lichts führt, und das [17] Christusleben wird aufblühen im Menschenreich. Die Persönlichkeit verblasst dann, überstrahlt vom Glanz der Seele, welche wie die aufsteigende Sonne die Dunkelheit vertreibt, die Lebenssituation offenbart und die niedere Natur zum Strahlen bringt. Dies führt zu Gruppentätigkeit, und das Selbst, wie es gewöhnlich verstanden wird, verschwindet; das geschieht bereits. Das Endergebnis des Wirkens Christi ist für uns sichtbar in seinen Worten im Johannes-Evangelium XVII wiedergegeben, die zu lesen für uns alle wertvoll wäre.

Persönlichkeit, Einweihung, Einswerdung in diesen drei Worten kann die Botschaft Christi ausgedrückt werden. Als er auf Erden weilte, fasste er es in den Worten zusammen: «Ich und der Vater sind eins» (Joh. X/30). Dieses grosse Wesen, Christus, gab uns durch den Vorgang der fünf grossen Einweihungen ein Bild von den Stufen und der Methode, durch welche die Einswerdung mit Gott erlangt werden kann. Dieser Satz gibt uns den Schlüssel zum Verständnis der ganzen Evangelien und bildet das Thema dieses Buches.

Buddha           Die Methode            Loslösung

Leidenschaftslosigkeit

Unterscheidung

Christus           Das Ergebnis           Individualismus

Initiation (Einweihung)

Identifikation (Einswerdung)

Christus lebte sein Leben in jenem kleinen, aber bedeutsamen Streifen Landes, den wir Palästina, das Heilige Land nennen. Er kam, um uns die Möglichkeit individueller Zielerlangung zu beweisen. Er erschien (wie alle grossen Lehrer durch die Zeitalter hindurch) aus dem Orient und wirkte in diesem Land, das wie eine Brücke zwischen der östlichen und der westlichen Hemisphäre zu sein scheint und zwei völlig verschiedene Zivilisationen scheidet. Moderne Denker würden gut tun zu überlegen, dass das Christentum eine überbrückende Religion ist. Hierin liegt seine grosse [18] Bedeutung. Das Christentum ist die Religion jener Übergangsperiode, die das Zeitalter selbstbewusster, individualistischer Existenz mit einer zukünftigen gruppenbewussten geeinten Welt verbindet. Es ist vor allem eine Religion der Spaltung, die dem Menschen seine Dualität aufzeigt und dadurch den Grund legt für seine Anstrengungen, die Einheit oder das Einswerden zu erreichen. Die Verwirklichung dieser Dualität ist ein höchst notwendiges Stadium in der Entfaltung des Menschen, und der Zweck des Christentums ist, dies zu offenbaren, wie auch den Kampf zwischen dem in einer Person vereinigten niederen und höheren Menschen, und die Notwendigkeit zu betonen, dass der niedere, fleischliche Mensch durch den höheren, geistigen Menschen erlöst werden muss. Paulus spricht dies in den Worten aus, die uns allen so vertraut sind: «... dass er einen neuen Menschen aus den zweien in sich selber schüfe und Frieden machte, und dass er beide in Gott in einem Leibe versöhnte durch das Kreuz, und ihre Feindschaft tötete». (Eph. II/15, 16). Dies war seine göttliche Mission, und dies ist die Lehre des Evangeliums.

Christus vereinigte daher in sich nicht nur die Vergangenheit, «das Gesetz und die Propheten», sondern er gab diese Darstellung der Wahrheit, die eine Brücke über die Kluft zwischen der östlichen Religion und Philosophie und unseren westlichen materialistischen, wissenschaftlichen Bestrebungen schlagen sollte, die beide göttliche Ausdrücke der Wirklichkeit sind. Gleichzeitig stellte er den Menschenwesen die Vollendung der Aufgabe vor, die jeder Mensch in sich selbst durchführen könnte, indem er jene wesentliche Dualität überbrückt, die seine Natur ist, und die Einswerdung des Göttlichen und des Menschlichen Zustand bringt wobei zu helfen die Aufgabe aller Religionen ist. Jeder von uns hat «aus zwei Menschen einen neuen zu machen und so Friede zu schaffen»; denn Friede ist Einheit und Synthese.

Christus brachte seine Lehre und Botschaft nicht nur zu den Einzelmenschen, sondern auch zu den Völkern, wobei er ihnen die Hoffnung auf zukünftige Welteinheit und Weltfrieden verhiess. Er kam zum Beginn jenes astronomischen Zeitalters, welches wir das «Fischezeitalter» nennen, denn während dieser Periode von ungefähr 2000 Jahren geht unsere Sonne durch das Tierkreiszeichen der Fische. Daher die häufige Beziehung auf Fische und das Erscheinen [19] des Symbols eines Fisches in der christlichen Literatur, einschliesslich des Neuen Testamentes. Dieses Fische-Zeitalter steht zwischen dem der vorhergehenden jüdischen Befreiung (den 2000 Jahren, in denen die Sonne das Zeichen des Widders oder Bockes durchlief) und dem Wassermannzeitalter, in welches die Sonne sich jetzt anschickt, hinüberzugehen. Das sind astronomische Tatsachen, denn ich spreche hier nicht von astrologischen Folgerungen. In der Periode, als die Sonne im Widder stand, finden wir das häufige Erscheinen des Widders oder Sündenbocks in der Lehre des Alten Testamentes und das Halten des Passah-Festes. Im christlichen Zeitalter verwenden wir das Fischesymbol, sogar indem wir am Karfreitag Fisch essen. Das Symbol des Wassermann-Zeitalters, wie es in den alten Sternkarten erscheint, ist das eines Mannes, der einen Wasserkrug trägt. Die Botschaft dieses Zeitalters ist die der Einheit, der Vereinigung und unserer Verwandtschaft als Brüder, weil wir alle Kinder eines Vaters sind. Auf dieses Zeitalter bezog sich Christus in der Anweisung an seine Jünger, als er ihnen sagte, in die Stadt zu gehen: «Wenn ihr in die Stadt eintretet, so werdet ihr einen Mann treffen, welcher einen Krug Wasser trägt. Folgt ihm in das Haus, in welches er eintreten wird!» (Lukas XXII/7 und 10) Dies taten sie, und das grosse heilige Fest des Abendmahls wurde später in diesem Haus gehalten. Dies bezieht sich ohne Zweifel auf die künftige Zeit, in der wir in jenes Haus im Tierkreis eintreten, das «der Wasserträger» genannt wird, in welchem wir alle an einem Tische sitzen werden und das Abendmahl miteinander halten sollen. Die christliche Ordnung kommt zwischen den zwei grossen Weltzyklen, und wie Christus in sich die Botschaft der Vergangenheit vollendete und die Lehre für die Gegenwart gab, so, wies er auf jene Zukunft von Einheit und Verstehen hin, die unser unausweichliches Ziel ist. Wir sind heute am Ende des Zeitalters und treten ein in die Wassermanneinheit, wie er voraussagte. Der «Obere Raum» ist ein Symbol jenes Höhepunkts von Zielerreichung, auf den wir uns als Menschheit rasch zubewegen. Eines Tages wird der grosse Kommunionsdienst gehalten werden, von welchem jeder Abendmahlsdienst die Vorhersage ist. Wir gehen langsam hinein in dieses neue Zeichen. Mehr als zweitausend Jahre werden seine Kräfte und Einflüsse auf die [20] Menschheit einwirken und die neuen Menschentypen schaffen, die neue Bewusstseinserweiterung begünstigen und die Menschen zu einer praktischen Verwirklichung von Bruderschaft führen.

Es ist interessant zu erwähnen, wie es kam, dass die Energien, die sich auf unserem Planten auswirkten, als die Sonne in Aries, dem Widder, stand, in der religiösen Symbologie den Nachdruck auf Ziege, Bock oder Widder hervorbrachten, und wie in unserem gegenwärtigen Zeitalter der Fische diese Einflüsse unsere christliche Symbolik gefärbt haben, so dass der Fisch im Neuen Testament und in unserer eschatologischen Symbolik vorherrscht. Die neu hereinkommenden Strahlen, Energien und Einflüsse müssen gewiss dazu bestimmt sein, die gleichen Wirkungen zu haben, nicht nur im Reich der physischen Erscheinungen, sondern auch in der Welt geistiger Werte. Die Atome des menschlichen Gehirns sind im Begriff, «erweckt» zu werden wie niemals zuvor, und jene Millionen von Zellen, welche, wie uns gesagt wird, im menschlichen Gehirn noch untätig und schlafend sind, werden zur Funktion gebracht werden und jene intuitive Einsicht mit sich bringen, welche die kommende geistige Offenbarung kennzeichnen wird.

Heute ist die Welt im Begriff, sich auf diese neuen Einflüsse umzustellen, und in dem Prozess der Neuausrichtung ist eine Periode des zeitweiligen Chaos unvermeidlich. Das Christentum wird nicht verdrängt werden, es wird überstiegen, nachdem seine Vorbereitungsarbeit erfolgreich zuende geführt wurde, und Christus wird uns die nächste Offenbarung von Göttlichkeit geben. Wenn das, was wir jetzt von Gott wissen, alles ist, was wir wissen können, dann ist die Göttlichkeit nur eine begrenzte Sache. Wie die neue Formulierung der Wahrheit sein wird, wer kann es sagen? Aber das Licht ergiesst sich langsam in die Herzen und Gemüter, und in dieser leuchtenden Strahlung werden sie die neuen Wahrheiten schauen und zu einer anderen Formulierung der uralten Weisheit kommen. Durch die Linse erleuchteten Denkens wird der Mensch in Kürze Aspekte der Göttlichkeit sehen, die bisher unbekannt waren. Könnte es nicht Eigenschaften und Merkmale der göttlichen Natur geben, die bisher völlig unerkannt und unbekannt sind? Könnten da nicht gänzlich beispiellose Offenbarungen von Gott kommen, für welche wir keine Worte und passenden Ausdrucksmittel haben? Die alten Mysterien, die kurz vorher wiedereingesetzt werden sollten, müssen im Licht des Christentums neu [21] gedeutet und neu angepasst werden, um den modernen Bedürfnissen zu entsprechen, damit wir jetzt in die Heilige Stätte als intelligente Menschen eintreten können und nicht mehr wie Kinder den dramatischen Geschichten und Vorgängen zusehen, in denen wir als Einzelmenschen keine bewusste Rolle spielen. Christus lebte uns die dramatische Folge der fünf Einweihungen vor und lud uns ein, seinen Fussspuren zu folgen. Dafür hat uns die vergangene Ära vorbereitet, und wir können nun durch den Vorgang der Einweihung in verständnisvoller Weise in das Reich Gottes eintreten. Die Tatsache, dass der historische Christus existiert und auf Erden geweilt hat, ist für uns die Garantie unserer eigenen Göttlichkeit und für das Erreichen des Ziels. Die Tatsache des mythischen Christus, der von Zeitalter zu Zeitalter erscheint, beweist, dass Gott sich niemals ohne Zeugen gelassen und dass es immer Menschen gegeben hat, die das Ziel erreicht haben. Die Tatsache des kosmischen Christus, manifestiert als das Drängen nach Vollkommenheit in allen Naturreichen, beweist das Dasein Gottes und ist unsere ewige Hoffnung. Der Mensch steht an den Pforten der Einweihung.

3.
Immer hat es Tempel, Mysterien und heilige Stätten gegeben, wo der echte Anwärter finden konnte, was er suchte, und wo er die nötige Anweisung für den Weg bekam, den er gehen sollte. Der alte Prophet sagt: «... ein Höhenweg wird da sein und ein Weg, welcher der Pfad der Heiligkeit heissen wird, dass kein Unreiner darauf gehen darf; und derselbe wird für sie sein, dass man darauf gehe, dass auch die Toren nicht irren mögen» (Jesaja XXXV/8).

Es ist ein Weg, der von dem, was aussen liegt, zu jenem führt, das innen wohnt. Er offenbart Stufe für Stufe das innere Leben, das jede Form und jedes Symbol verhüllt und verbirgt. Er stellt dem Aspiranten gewisse Aufgaben, die zum Verstehen führen, und erzeugt eine Einschliesslichkeit und Weisheit, die seine tiefempfundenen Bedürfnisse befriedigen. Er geht von der Stufe des Fragens über zu dem, was die Tibeter die «gerade Wissenschaft» [22] nennen. Auf diesem Pfad werden Vision und Hoffnung zur Wirklichkeit. Einweihung reiht sich an Einweihung, von denen jede den Eingeweihten näher zu dem Ziel vollständiger Einheit führt. Jene, die in der Vergangenheit in dieser Weise arbeiteten, kämpften und erreichten, bilden eine lange Kette von der fernsten Vergangenheit bis in die Gegenwart; denn die Eingeweihten sind noch bei uns, und die Tür steht noch weit offen. Durch die Vermittlung dieser Hierarchie des Erreichens werden Menschen Stufe um Stufe auf der langen Leiter gehoben, die von der Erde zum Himmel reicht, um schliesslich vor dem Einweihenden zu stehen, und in diesem hohen Augenblick werden sie finden, dass es Christus selbst ist, der sie nun grüsst; der vertraute Freund, der sie durch Beispiel und Lehre vorbereitet hat, empfängt sie jetzt in der Gegenwart Gottes. Diese Erfahrung ist allen Suchern in allen Zeiten einheitlich zuteil geworden. Nachdem man im Osten gegen das Rad der Wiedergeburt mit seinen ständig wiederholten Leiden und Qualen sich auflehnt, und der Westen revoltiert gegen die scheinbare ungeheure Ungerechtigkeit des einen sorgenvollen Lebens, das der Christ sich zugeteilt fühlt, haben die Menschen sich nach innen gewandt, um dort Licht und Frieden und Befreiung zu finden, die sie so inbrünstig wünschen.

Christus gibt uns vom ganzen Vorgang durch seine eigene Lebensgeschichte, die um diese grossen Einweihungen aufgebaut ist ein deutliches Bild. Diese sind unser universelles Erbe und die herrliche, für manche die unmittelbare Gelegenheit. Es sind:

1. DIE GEBURT ZU BETHLEHEM, zu welcher Christus den Nikodemus aufrief, indem er zu ihm sagte: «Es sei denn, dass ein Mensch von neuem geboren werde, so kann er das Reich Gottes nicht sehen» (Joh. III/3).

2. DIE TAUFE IM JORDAN. Dies ist die Taufe, auf welche Johannes der Täufer hinweist, indem er uns sagt, dass die Taufe durch den Heiligen Geist und durch Feuer uns durch Christus gespendet werden muss. (Matth. III/11)

3. DIE VERKLÄRUNG. Vollendung ist hier zum ersten Mal aufgezeigt worden, wobei den Jüngern die göttliche Möglichkeit solcher Vollkommenheit bewiesen wurde. Der Befehl [23] ergeht an uns: Ihr sollt vollkommen sein, wie euer Vater im Himmel vollkommen ist! (Matth. V/48).

4. DIE KREUZIGUNG. Sie wird im Orient DER GROSSE VERZICHT genannt mit ihrer Lehre des Opfers und ihrem Ruf nach dem Tod der niederen Natur. Dies war auch die Aufgabe, die Paulus kannte, und das Ziel, zu dem er strebte: «Ich sterbe täglich», (I. Kor. XV/31) sagte er, denn nur, wenn man sich praktisch täglich dem Tod unterzieht, kann man dem schliesslichen Tod begegnen und ihn ertragen.

5. DIE AUFERSTEHUNG und HIMMELFAHRT, der endliche Triumph, der den Eingeweihten befähigt zu singen und die Bedeutung der Worte zu erkennen: «O Tod, wo ist dein Stachel? O Grab, wo ist dein Sieg? (I. Korinther XV/55)

Dies sind die fünf grossen dramatischen Ereignisse der Mysterien. Dies sind die Einweihungen, durch welche alle Menschen eines Tages hindurchgehen müssen. Die Menschheit steht heute auf dem Prüfungspfad. Der Weg der Läuterung wird von den Massen beschritten, und wir sind im Begriff, uns von Übel und Materialismus zu reinigen. Wenn dies beendet sein wird, werden sich viele bereit finden, sich für die erste Einweihung vorzubereiten und sich der Neuen Geburt zu unterziehen. Die Weltjünger bereiten sich für die zweite Initiation, die Taufe, vor, und für diese muss die Gefühls- und Wunschnatur bereinigt werden und ihre Zueignung an das Leben der Seele erfolgen. Die Eingeweihten in der Welt stehen vor der Einweihung der Verklärung. Kontrolle des Denkens und rechte Ausrichtung auf die Seele mit einer vollständigen Umwandlung der integrierten Persönlichkeit liegt vor ihnen.

In unserer Zeit wird viel Törichtes im Zusammenhang mit den Einweihungen gesprochen, und die Welt ist voll von Menschen, die behaupten, sie seien Eingeweihte. Sie versäumen daran zu denken, dass kein Eingeweihter einen Anspruch erhebt oder über sich selbst spricht. Jene, die den Anspruch erheben, Eingeweihte zu sein, leugnen ihn zugleich. Jüngern und Eingeweihten wird gelehrt, einschliessend in ihrem Denken zu sein und sich nicht abzusondern in ihrem [24] Verhalten. Sie stellen sich niemals abseits von der übrigen Menschheit, indem sie irgendeinen Rang geltend machen und sich dadurch automatisch selbst erhöhen. Die Erfordernisse sind nicht so einfach, wie sie in manchen esoterischen Büchern dargestellt werden. Wenn man einige von ihnen liest, möchte man meinen, der Aspirant hätte die hauptsächlichsten Erfordernisse erfüllt, wenn er ein gewisses Mass von Toleranz, Güte, Hingabe, Sympathie, Idealismus, Geduld und Ausdauer erreicht hat. Diese sind in der Tat an erster Stelle wichtig, aber zu diesen Eigenschaften muss intelligentes Verstehen und eine geistige Entfaltung hinzukommen, die zu einer klugen und vernünftigen Mitwirkung an den Plänen für die Menschheit führt. Es ist das Gleichgewicht von Kopf und Herz, das gefordert wird, und der Intellekt muss Ergänzung und Ausdruck in und durch Liebe finden. Dies erfordert eine äusserst sorgfältige Neu-Ausrichtung. Liebe, Gefühl und Verehrung werden oft miteinander verwechselt, wahre Liebe ist eine Eigenschaft der Seele und ist alles-einschliessend; unsere Beziehung zu Gott und zu allen anderen besteht aus wahrer Liebe. «Denn die Liebe Gottes geht über alles menschliche Denken, das Herz des Ewigen ist wundervoller Art», lautet die alte Hymne, und drückt dadurch aus, dass Liebe, diese Eigenschaft der Gottheit, auch die verborgene Eigenschaft jedes Gottessohnes ist. Gefühl ist emotional und unbeständig, Devotion kann fanatisch und grausam sein, aber Liebe fügt zusammen und verschmilzt, versteht, deutet und verbindet alle Formen und alle Ausdrucksformen, alle Ursachen und alle Rassen in einem flammenden Herzen der Liebe, das von keiner Trennung, Unterteilung und Disharmonie weiss. Diesen göttlichen Ausdruck in unserem täglichen Leben hervorzubringen, verlangt das Äusserste, was in uns ist. Ein Eingeweihter zu sein, erfordert alle Kraft von jeder Seite unserer Natur. Es ist keine leichte Aufgabe. Den unvermeidlichen Prüfungen gegenüberzustehen, vor die jeder unzweifelhaft gestellt wird, der den Pfad betritt, den Christus ging, erfordert Mut seltener Art. Vernünftig und weise mit dem Plan Gottes zusammenzuarbeiten, seinen Willen in dem göttlichen Willen aufgehen zu lassen, muss nicht nur die tiefste Liebe des Herzens, sondern auch die grösste Entschlusskraft des Denkens zur Tätigkeit rufen.