Navigieren durch die Kaptitel von diesem Buch

Drittes Kapitel - Das Wesen der Seele

Drittes Kapitel

Das Wesen der Seele

«Die Philosophen sagen, die Seele sei doppelgesichtig; ihr nach aufwärts gewandtes Antlitz betrachtet allezeit Gott, und das andere schaut ein wenig herab, um die Sinne zu unterweisen; das nach aufwärts gewandte Antlitz, die Vollendung der Seele, besteht in Ewigkeit und hat mit Zeit nichts zu schaffen; es weiss nichts von Zeit oder Körper».

Meister Eckehart.

(49) Bei der Erörterung der Technik, durch die wie behauptet wird - der gebildete Intellektuelle zum intuitiven Wissenden werden kann, ist es durchaus angebracht, die Hypothesen darzulegen, auf denen die Wissenschaft der Meditation beruht. Dabei müssen die verschiedenen Aspekte (der Natur oder der Göttlichkeit, welcher immer von beiden vorgezogen wird), deren Ausdrucksform der Mensch ist, erkannt werden; die grundlegende Verbindung aber, die ihn als integrierte Einheit zusammenhält, darf nie vergessen werden. Der Mensch ist ein integriertes, zu einer Einheit verbundenes Wesen, aber die Existenz bedeutet für manche mehr. Für einige ist sie eine rein animalische Existenz; für viele stellt sie die Gesamtheit der Gefühls- und Sinnes-Erfahrung dar; für andere wiederum ist sie all dies plus mentale Wahrnehmung, durch die das Leben sehr bereichert und vertieft wird. Für wenige (die Auslese der menschlichen Familie) bedeutet Sein die Erkenntnis der Fähigkeit, Kontakte zu registrieren, die sowohl universell und subjektiv, als auch individuell und objektiv sind. Keyserling sagt:

«Wenn wir vom Wesen eines Menschen im Gegensatz zu seinen Fähigkeiten sprechen, meinen wir seine vitale Seele; und wenn wir sagen, dieses Wesen bestimmt und entscheidet, so meinen wir damit, dass alle seine Äusserungen von individuellem Leben durchdrungen sind, dass jede einzelne Wesensäusserung (50) Persönlichkeit ausstrahlt und dass diese Persönlichkeit letzten Endes eine Verantwortung trägt».

Es muss hier als unerlässliche Bedingung festgestellt werden, dass nur verantwortungsbewusste, denkende Menschen für die Anwendung solcher Regeln und Unterweisungen reif sind, mit deren Hilfe sie den Übergang bewerkstelligen und zu jenem Bewusstseinszustand gelangen können, der das Kennzeichen des erleuchteten Mystikers und des intuitiven Wissenden ist. Die schönen Zeilen aus Dr. Winslow Hall's Illuminanda weisen auf dieses Ziel hin:

«In allen Menschen liegt verborgen Licht, doch in wie wenigen

Ist es hervorgebrochen, so wie es eigentlich sollte,

Erhellend aus dem Innern die Lampe unsres Fleisches

Entzündend kosmisch' Feuer in geistverwandten Seelen!

Bei Gott wie wenige! Und unser ist die Schuld;

Denn wir ersticken grob und ohne Unterschied

Gedankenlos und oft im Zorn

Den Funken Gottes, der in jedem Kinde glänzt.

Doch alle Kinder haben in ihrem Wesen etwas von Gott,

Und wenn man ihnen ihre Freiheit liesse,

Würd' Gott sich bald entfalten, knospen, blühn,

Würd' sie in Farb' und Form gestalten, bis als vollkomm'ne Blumen

Sie erblühten in voll entfalteter Lieblichkeit».

Das ist das Ziel des Meditationsprozesses - Menschen zum Licht zu führen, das in ihnen selbst leuchtet, und sie zu befähigen, in diesem Licht das grosse Licht zu sehen. Dieses Offenbarungswerk basiert in bezug auf Konstitution und Natur des menschlichen Wesens auf ganz bestimmten Theorien. Die Entwicklung und Vervollkommnung der Denkfähigkeit im Menschen mit ihrem Scharfsinn und (51) Konzentrationsvermögen gibt dem Westen heute die Gelegenheit, diese Theorien auf die Probe zu stellen. Ein intelligentes Experiment ist natürlich jetzt in Ordnung. «Die neue Synthese von Denkprinzip und Seele» - sagt Keyserling, «muss, wenn sich Entscheidendes ereignen soll, dem Denken, dem höchsten Grad von Intellektualität entspringen».

Dazu ist aber ein klares Verstehen dreier Punkte notwendig, auf denen der orientalische Standpunkt basiert, die, wenn sie der Wahrheit entsprechen, den Standpunkt des Studenten orientalischer Meditationstechnik bekräftigen; man darf aber dabei nicht das chinesische Sprichwort vergessen, das sagt: «Wenn ein verkehrter Mann die rechten Mittel gebraucht, so wirkt das rechte Mittel verkehrt». Diese drei Voraussetzungen sind:

Erstens: In jeder menschlichen Form ist eine Seele, und diese Seele benützt die niederen Aspekte des Menschen einfach als Ausdrucksmittel. Das Ziel des Evolutionsprozesses besteht darin, die Herrschaft der Seele über dieses Instrument zu stärken und zu vertiefen. Ist dieses vollkommen, dann haben wir eine göttliche Inkarnation.

Zweitens: Wir nennen die Gesamtheit dieser niederen Aspekte - nach deren Entfaltung und Harmonisierung - die Persönlichkeit. Diese Einheit setzt sich aus den mentalen und emotionalen Seinszuständen, der vitalen Energie und dem physischen Reaktionsapparat zusammen, und diesen «maskieren» oder verbergen die Seele. Nach der östlichen Philosophie entwickeln sich diese Aspekte der Reihe nach und schrittweise, und erst nach Erlangung einer relativ hohen Entfaltungsstufe wird es (52) dem Menschen möglich, die Aspekte zu koordinieren und später mit der innewohnenden Seele bewusst zu vereinen. Darauf folgt die Herrschaft der Seele und eine ständig intensiver werdende Wesensäusserung der Seele. Dieser Vorgang wird manchmal symbolisch als «Licht in einer Lampe» dargestellt. Zuerst strahlt die Lampe kein Licht aus, allmählich aber macht sich dessen Gegenwart bemerkbar, bis die Bedeutung der Worte Christi klar wird. Er sagte: «Ich bin das Licht der Welt», und Er gebot Seinen Jüngern: «Lasset euer Licht leuchten, so dass es die Menschen sehen können.»

Drittens: Wenn das Leben der Seele unter dem Gesetz der Wiederverkörperung die Persönlichkeit in den Zustand einer integrierten und koordinierten Einheit versetzt hat, dann beginnt zwischen diesen beiden eine intensivere Wechselwirkung. Diese Wechselwirkung wird durch Selbstdisziplin, einen aktiven Willen zu geistigem Sein, selbstlosen Dienst (denn in dieser Weise manifestiert sich die gruppenbewusste Seele) und Meditation erreicht. Die Krönung des Werkes ist die bewusste Verwirklichung der Vereinigung - in christlicher Terminologie die Einswerdung genannt.

Diese drei Hypothesen müssen auf jeden Fall wenigstens versuchsweise angenommen werden, wenn dieser Erziehungsprozess durch Meditation eine Wirkung haben soll. In Webster's Dictionary wird der Begriff Seele im Einklang mit diesen Theorien folgendermassen definiert:

«Eine Wesenheit, verstanden als die Essenz, die Substanz oder bewirkende Ursache individuellen Lebens, besonders eines in psychischen Tätigkeiten manifestierten Lebens; Träger individueller (53) Existenz, dem Wesen nach vom Körper getrennt und gewöhnlich als für sich bestehen könnend angenommen».

Webster fügt folgenden Kommentar hinzu, der auf unser Thema angewandt werden kann, nämlich, dass «manche Vorstellungen, wie die Fechner's, dass die Seele der ganze einheitliche geistige Vorgang in Verbindung mit dem ganzen einheitlichen körperlichen Prozess sei, zwischen dem idealistischen und dem materialistischen Gesichtspunkt die Mitte zu halten scheinen».

Dr. Radhakrishnan von der Universität in Kalkutta vertritt den strikt orientalischen Standpunkt hierzu wie folgt:

«Alle organischen Wesen besitzen ein Prinzip der Selbstbestimmung, dem allgemein die Bezeichnung "Seele" gegeben wird. Dem genauen Wortsinn nach ist "Seele" jedem Wesen eigen, das Leben in sich hat, und die verschiedenen Seelen sind ihrem Wesen nach grundsätzlich identisch. Die Verschiedenheiten kommen durch die physischen Lebensformen zustande, die das Leben der Seele verdunkeln und behindern. Die Beschaffenheit der Körper, denen die Seelen innewohnen, ist für deren verschiedene Verdunkelungsgrade verantwortlich. ... Das Ego ist die psychologische Einheit jenes Stromes bewussten Erlebens, der das darstellt, was wir als das innere Leben eines empirischen Selbstes kennen.

Das empirische Selbst ist eine Mischung von freiem Geist und Mechanismus, von purusha und prakriti. ... Jedes Ego besitzt innerhalb des groben, im Tode sich auflösenden materiellen Körpers einen subtilen Körper, der aus dem psychischen Apparat einschliesslich der Sinne besteht».

Diese Seele - so wird berichtet - ist ein Fragment der Weltseele, ein Funke der einen Flamme, im Körper eingekerkert. Sie ist jener Lebensaspekt, (54) der dem Menschen - so wie allen Erscheinungsformen - Leben oder Sein und Bewusstsein verleiht. Sie ist der lebenswichtige Faktor, jenes integrierende, zusammenhaltende Etwas, das den Menschen (zusammengesetzt und doch geeint, wie er eben ist) zu einer denkenden, empfindenden und strebenden Wesenheit macht. Der Intellekt im Menschen ist jener Faktor oder jene Art von Seelen-Bewusstheit, die ihn befähigt, die richtige Einstellung zu seiner Umgebung während der Entwicklungszeit seiner Persönlichkeit zu gewinnen, ihn aber später durch richtige Meditation mit der vom Mechanismus losgelösten Seele in Verbindung bringt und ihn daher in einen neuen Zustand der Seinswahrnehmung führt.

Das Verhältnis der Seele zur Weltseele ist das eines Teiles zum Ganzen, und eben diese Beziehung samt den daraus folgenden Erkenntnissen ist es, die sich zu jenem Gefühl des Einsseins mit allen Wesen und mit der höchsten Realität, von der die Mystiker seit jeher Zeugnis abgelegt haben, entwickelt. Ihr Verhältnis zum Menschen ist das der bewussten Wesenheit zu ihrem Ausdrucksmittel, des Denkers zu seinem Denkinstrument, des Empfindenden zum Bereich der Sinnes-Erfahrung, des Handelnden zu seinem physischen Körper, - dem einzigen Kontaktmittel zu jenem besonderen Tätigkeitsgebiet, zur Welt des physischen Lebens. Diese Seele äussert sich durch zwei Energiearten, nämlich sowohl durch das vitale Prinzip oder Fluidum, den Lebensaspekt, als auch durch die Energie der reinen Vernunft. Diese Energien sind während der Lebenszeit im physischen Körper konzentriert. Der Lebensstrom konzentriert sich im Herzen und benützt den Blutkreislauf, die Arterien und Venen, zur Belebung jedes Teiles des Organismus; (55) der andere Strom, der intellektueller Energie, konzentriert sich im Gehirn und benützt den Nervenapparat als sein Ausdrucksmittel. Im Herzen also ist der Sitz des Lebensprinzips, während im Kopf der des vernünftigen Denkens und des spirituellen Bewusstseins ist, welch letzteres durch den rechten Gebrauch des Denkvermögens erreicht wird. Dr. Lloyd Morgan sagt im Zusammenhang mit dem Wort «Seele»:

«Jedenfalls hat das, was landläufig unter "Seelen-Theorie" verstanden wird, seine Wurzeln im Dualismus. Und das, was manche Menschen meinen, wenn sie von einer "Psychologie der Seele" sprechen, ist keine dualistische Philosophie. ... In einem gewissen Sinn kann man aber nach entsprechender Definition von der Seele sagen, dass sie für jene Stufe mentaler Entfaltung charakteristisch ist, auf der eine Vorstellung über Geist im Bereich reflektiver Beziehung besteht».

Im gleichen Buch sagt er an früherer Stelle, dass «jeder von uns Leben, Denkvermögen und Geist ist ein Beispiel für Leben als ein Ausdruck des Weltplanes, für Denken als ein anderer Ausdruck dieses Weltplanes und für Geist insofern, als die Substanz dieses Weltplanes in uns geoffenbart wird. Der Weltplan wiederum ist ganz und gar von der niedrigsten bis zur höchsten Ausdrucksform (56) eine Manifestation Gottes; in jedem einzelnen von uns ist Gott als Geist teilweise offenbart».

«Dass eine Regierung des Universums besteht, kann nicht geleugnet werden. Ein Etwas hat die Wirkungsweise der Naturgesetze, die ordnungsgemässe Umformung von Materie und Energie beschlossen und veranlasst das auch weiterhin. Dieses Etwas mag die "Krümmung des Kosmos", "blinder Zufall" oder "universelle Energie", mag "ein in fernen Himmeln lebender Jehova" oder ein "alldurchdringender Geist" sein, eins aber steht fest, es muss etwas sein. Von irgendeinem Gesichtspunkt aus ist also die Frage: Gibt es einen Gott? sofort im bejahenden Sinne zu beantworten».

So gelangt der Mensch nun dadurch, dass er sich selbst findet und seine eigene Natur versteht, zu jenem Mittelpunkt in sich selbst, der eins ist mit allem, was ist; er stellt fest, dass er mit einem Apparat ausgerüstet ist, der ihn mit den verschiedenen Manifestationen, durch die sich die Gottheit auszudrücken sucht, in Berührung bringen kann. Er besitzt einen vitalen, (57) auf universelle Energie reagierenden Körper und das Vehikel (Ausdrucksmittel, Instrument) für die beiden Arten von Seelen-Energie, auf die ich mich im Vorhergehenden bezog. Über den Vitalkörper, dessen Beziehung zu dieser universellen Energie und über die sieben Kontaktpunkte im physischen Organismus habe ich ausführlich in meinem Buche: «Die Seele und ihr Instrument» geschrieben; ich will hier also darauf nicht näher eingehen, sondern nur einen Absatz daraus anführen:

«Hinter dem objektiven Körper steht eine subjektive, aus ätherischer Materie bestehende Form, die als Konduktor (Stromleiter) des Lebensenergie-Prinzips oder des Prana fungiert. Dieses Lebensprinzip ist der Kraftaspekt der Seele, die ihre Form vermittels des Ätherkörpers belebt, ihr besondere Qualitäten und Eigenschaften verleiht, ihr ihre Wünsche einprägt und sie schliesslich durch die Tätigkeit des Denkvermögens leitet. Durch das Gehirn spornt die Seele den Körper zu bewusster (gelenkter) Aktivität an, und durch das Herz werden alle Körperteile von Leben durchflutet.

Es existiert noch ein anderer «Körper», der aus der Gesamtsumme aller emotionalen Zustände, Stimmungen und Empfindungen zusammengesetzt ist. Dieser Körper reagiert auf die physische Umwelt eines Menschen, also auf Eindrücke, die ihm durch die fünf Sinne über das Gehirn und den Ätherkörper übermittelt werden. Auf diese Weise wird dieser Körper zu rein selbstsüchtiger und persönlicher Tätigkeit veranlasst; er kann aber auch dazu geschult werden, in erster Linie auf das Denken zu reagieren, wobei man dieses, wie es so selten der Fall ist, als den Interpreten des spirituellen Selbst, der Seele, ansieht. Dieser, durch Empfindungen und Wünsche charakterisierte Emotionalkörper wirkt in den meisten Fällen (58) auf den physischen Körper äusserst machtvoll ein. Letzterer wird vom Esoteriker als reiner Automat angesehen, der durch die Wunschnatur zum Handeln veranlasst und durch die Vitalenergie mit Tatkraft erfüllt wird.

In dem Masse, als die Menschheit in der Entwicklung fortschreitet, entsteht ein anderer «Körper»; der Denk-Körper entfaltet seine Tätigkeit und übernimmt allmählich eine aktive und natürliche Kontrolle. Gleich dem physischen und emotionellen Organismus wendet sich dieser mentale Mechanismus anfangs gänzlich der Aussenwelt zu und wird durch die über die Sinne aus der äusseren Welt kommenden Eindrücke aktiv. Dadurch dass er immer positiver wird, beginnt er langsam, aber sicher die anderen Erscheinungs-Aspekte des Menschen zu beherrschen, bis die Persönlichkeit in allen vier Aspekten vervollständigt und als funktionierende Wesenheit auf der physischen Ebene vereinheitlicht ist. Wenn dies eintritt, ist ein Krisenpunkt erreicht, von dem aus neue Entwicklungen und Entfaltungen möglich werden.

Während dieser ganzen Zeit wirken die beiden Energien der Seele - Leben und Denken - durch die Vehikel, ohne dass dem Menschen deren Herkunft und Absicht bewusst wird. Als Ergebnis dieses Wissens ist er nun ein intelligentes, aktives, hochwertiges menschliches Wesen. Aber wie Browning es ausdrückt: «Im vollendeten Menschen beginnt erneut ein Hinstreben zu Gott», und er wird durch eine göttliche Unrast zu bewusster Wahrnehmung und zu bewusstem Kontakt mit seiner Seele getrieben jenem unsichtbaren Faktor, den er wohl verspürt, persönlich aber nicht wahrnimmt. Nun beginnt für ihn ein Prozess der Selbsterziehung und intensiven Erforschung seines wahren Wesens. (59) Seine Persönlichkeit, die sich nach aussen zur Welt des physischen, emotionellen und mentalen Lebens hinwandte und ihr Hauptaugenmerk nur dorthin richtete, macht nun eine geistige Umstellung durch und wendet sich dem inneren Selbst zu. Sie konzentriert sich subjektiv und hat die Hervorbringung jenes «Tieferen Seins», von dem Keyserling spricht, zum Ziel. Bewusste Vereinigung mit der Seele wird gesucht und zwar nicht nur vom Empfindungs- und Sinnesstandpunkt des hingebungsvollen Gläubigen und Mystikers aus; unmittelbares Erleben wird gesucht. Erkenntnis des göttlichen Selbstes und mentale Vergewisserung der Tatsache des innewohnenden Sohnes Gottes wird das Ziel aller Bemühungen. Dies ist nicht die Methode des mystischen Schwärmers, der durch die zwingende Liebe seiner emotionellen Natur nach Gott suchte; es ist vielmehr die Methode intellektueller Annäherung und Unterordnung der ganzen Persönlichkeit im Streben nach geistigen Wirklichkeiten. Alle rein mentalen Menschentypen und alle wahrhaft harmonischen Persönlichkeiten sind im Grunde des Herzens Mystiker und sind zu irgend einer Zeit oder in irgend einer Inkarnation durch das mystische Stadium gegangen. Wenn der Intellekt zunimmt und das Denkvermögen sich entwickelt, mag dies vorübergehend in den Hintergrund treten und für einige Zeit in den Bereich des Unterbewusstseins verbannt werden. Schliesslich aber wird der Nachdruck unvermeidlich auf den Willen zu wissen gelegt, und der Lebensdrang (unbefriedigt von den äusseren und sichtbaren Erscheinungsformen) richtet sich auf ein Erkennen der Seele und den Gebrauch des Denkvermögens zur Erfassung geistiger Wahrheit.

Kopf und Herz vereinigen sich in ihrem Bestreben. Denken und reine Vernunft verschmelzen mit Liebe und Hingabe (60) in einer völligen Umstellung der Persönlichkeit auf einen neuen Wahrnehmungsbereich. Neue Bewusstseinszustände werden empfunden, eine neue Erscheinungswelt wird allmählich wahrgenommen und es beginnt dem Aspiranten zu dämmern, dass sein Lebensbrennpunkt und sein Bewusstsein über alle früheren Bestrebungen hinauswachsen können. Er erkennt, dass er mit Gott gehen, im Himmel weilen und einer neuen Welt innerhalb der bekannten äusseren Formen teilhaftig werden kann. Er fängt an, sich als bewusster Bürger eines anderen Naturreiches, des spirituellen, zu betrachten, das genau so real und lebendig, genau so geordnet und phänomenal ist wie irgend ein uns bekanntes. Er nimmt ständig den Standpunkt der Seele ihrem Instrument, dem menschlichen Körper gegenüber, ein. Er betrachtet sich nicht länger als einen Menschen, der von seinen Gefühlen beherrscht, durch Energie angetrieben und durch sein Denken gelenkt wird, sondern erkennt sich als das Selbst, das mit Hilfe des Denkvermögens denkt, durch die Emotionen empfindet und bewusst handelt. Wenn dieses Bewusstsein sich festigt und dauerhaft wird, ist die Entwicklung in seinem Falle beendet, das grosse Einswerden vollbracht und die Vereinigung zwischen dem Selbst und seinem Ausdrucksvehikel hergestellt. So inkarniert sich bewusst ein himmlischer Sohn Gottes.

Durch die Erziehungsarbeit in all ihren vielen Zweigen ist die Koordinierung der Persönlichkeit ausserordentlich beschleunigt worden. Die Geistesverfassung der Menschheit geht stetig der Vollendung entgegen; und diese Menschheit ist durch ihre riesigen Gruppen gebildeter und mental-konzentrierter Individuen zur Selbstbestimmung und Seelen-Lenkung herangereift. Nun kann die intensive (61) Ausbildung des Einzelmenschen - wie sie im östlichen System gelehrt wird - in Angriff genommen werden. Die Erziehung und neue geistige Einstellung des fortgeschrittenen Menschen muss in unserer Massenerziehung ihren Platz finden. Dafür tritt dieses Buch ein und deshalb wurde es geschrieben. Wie kann nun der Mensch seine Seele finden und sich der Tatsache ihrer Existenz vergewissern? Wie kann er sich den Bedingungen des Seelen-Lebens neu anpassen und anfangen, bewusst und gleichzeitig als Seele und als Mensch zu funktionieren? Was muss er tun, um diese unbedingt notwendige Vereinigung der Seele mit ihrem Instrument zu erreichen, wenn er seine drängenden Naturtriebe jemals befriedigen will? Wie kann er wissen und nicht bloss glauben, hoffen und streben?

Die erfahrene Stimme östlicher Weisheit bringt uns dafür ein Wort: Meditation. Selbstverständlich erhebt sich hier die Frage: «Ist das alles?» und die Antwort lautet: «Ja». Wenn Meditation richtig befolgt wird und wenn Ausdauer der Leitgedanke des Lebens ist, dann wird ein immer stärkerer Kontakt mit der Seele hergestellt. Die Ergebnisse dieses Kontaktes wirken sich in der Erlangung von Selbstdisziplin, Läuterung und einem Leben geistigen Strebens und Dienens aus. Meditation im östlichen Sinne ist wie wir sehen werden - ein ausgesprochen mentaler Prozess, der zu seelischem Wissen und zur Erleuchtung führt. Es ist eine Tatsache in der Natur: «Wie der Mensch denkt, so ist er».