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Viertes Kapitel - Die Ziele der Meditation

Viertes Kapitel

Die Ziele der Meditation

«Vereinigung wird durch Unterwerfung der psychischen Natur und durch Zügelung des Denk-Stoffes erreicht. Wenn dies vollbracht ist, erkennt sich der Yogi, wie er in Wirklichkeit ist».

Patanjali

(65)

Unter der Annahme, dass die in den vorausgegangenen Kapiteln dargelegten Theorien richtig sind, könnte eine klare Feststellung darüber wertvoll sein, welchem endgültigen Ziele der gebildete Mensch zustrebt, wenn er den Weg der Meditation beschreitet, und in welcher Weise sich Meditation von dem, was die Christen Gebet nennen, unterscheidet. Klares Denken ist für beide Punkte wesentlich, wenn wir praktische Fortschritte machen wollen, denn die dem Forscher bevorstehende Aufgabe ist nicht leicht; er wird mehr als nur vorübergehenden Enthusiasmus und zeitweiliges Streben nötig haben, wenn er diese Wissenschaft meistern und in ihrer Technik bewandert werden will. Wir wollen nun den zweiten Punkt zuerst betrachten und die beiden Methoden: Meditation und Gebet einander gegenüberstellen. Gebet kann vielleicht am besten mit einigen, uns allen wohlbekannten Worten von J. Montgomery beschrieben werden:

«Gebet ist der Seele ernstes Verlangen

Ausgesprochen oder nur gedacht,

Bewegung verborgenen Feuers,

Zitternd in der Brust».

Der darin enthaltende Gedanke ist der des Verlangens und der Bitte; und die Quelle dieses Verlangens ist das Herz. Es darf aber nicht vergessen werden, dass der Herzenswunsch der Erlangung sowohl jener (66) Besitztümer, nach denen die Persönlichkeit verlangt, als auch jenes himmlischen und transzendentalen Besitzes, den die Seele ersehnt, dienen kann. Was immer es auch sein mag, die zugrunde liegende Idee ist das Verlangen nach Erwünschtem und die Erwartung der Erfüllung; manches wird auch schliesslich erlangt, wenn der Glaube des Bittenden genügend stark ist.

Meditation unterscheidet sich vom Gebet darin, dass sie hauptsächlich auf einer richtigen Einstellung oder Richtunggebung des Denkvermögens beruht, woraus sich Anschauungen und Erkenntnisse ergeben, aus denen sich formuliertes Wissen entwickelt. In den Köpfen vieler besteht hinsichtlich dieser Unterscheidung grosse Unklarheit und Bianco von Siena sprach tatsächlich von Meditation, als er sagte: «Was ist Gebet anderes als direktes Hinwenden der Gedanken zu Gott».

Die in ihrer Wunschnatur polarisierten Volksmassen mit vorherrschend mystischer Neigung bitten um das, was sie brauchen; sie kämpfen im Gebet um die Erlangung ersehnter Tugenden, sie bitten eine erhörende Gottheit um Linderung ihrer Nöte; sie legen Fürsprache für jene ein, die ihnen lieb und teuer sind; sie belästigen (die himmlischen Mächte mit Bitten um jene - materiellen oder geistigen - Besitztümer, die sie zu ihrer Glückseligkeit als notwendig erachten. Sie erstreben und ersehnen Eigenschaften, Umstände und jene bestimmenden Faktoren, die ihr Leben erleichtern und ihnen eine vermeintliche Unabhängigkeit verschaffen würden, um mehr nützen zu können; sie beten in quälender Angst um Befreiung von Leiden und Krankheit und versuchen, Gott zur Erhörung ihrer Bitten zu veranlassen. Die Hauptmerkmale des Gebetes sind also Bitte, (67) Verlangen und Erwartung, wobei das Verlangen vorherrscht und das Herz beteiligt ist. Das emotionelle Wesen und die Gefühlsnatur des Menschen sind es also, die nach dem, was notwendig ist, trachten, und der Bereich dieser Bedürfnisse ist gross und echt. Es ist die Hinwendung des Herzens zu Gott.

Vier Arten des Gebetes können erkannt werden:

1. Das Gebet um materielles Wohlergehen und um Hilfe.

2. Das Gebet um Charakterstärke und Tugendhaftigkeit.

3. Das Gebet für andere, also Fürbitte.

4. Das Gebet um Erleuchtung und göttliche Erkenntnis.

Aus einem Studium dieser vier Gebetsarten ist zu ersehen, dass sie alle ihre Wurzeln im Verlangen haben und dass nur die vierte Art den Aspiranten dahin bringt, wo Gebet enden und Meditation beginnen kann. Seneca muss dies erkannt haben, als er sagte: «Kein anderes Gebet ist notwendig als die Bitte um eine gute Geistesverfassung, um Gesundheit (Unversehrtheit) der Seele».

Meditation führt in das Mentalreich; an die Stelle des Verlangens tritt die praktische Vorbereitungsarbeit zu göttlicher Erkenntnis, und der Mensch, der seine lange Laufbahn und Lebenserfahrung mit der grundlegenden Qualität «Verlangen» begann, nun aber das Stadium der Verehrung der undeutlich erschauten göttlichen Wirklichkeit erlangt hat, verlässt jetzt die mystische Welt und kommt in die des Intellekts, der Vernunft und schliesslichen Erkenntnis und Anschauung. Gebet und disziplinierte Selbstlosigkeit bringen den Mystiker hervor; Meditation und planvoller, disziplinierter Dienst den Wissenden. Wie wir früher gesehen haben, empfindet der Mystiker göttliche Wahrheiten, erhascht (auf dem Höhepunkt seiner Aspiration) die mystische Vision (68) und sehnt sich unaufhörlich nach ständiger Wiederholung des ekstatischen Zustandes, in den ihn sein Gebet, seine Anbetung und Verehrung versetzt haben. Gewöhnlich ist er ganz ausserstande, diese Einweihung nach Belieben zu wiederholen. Père Poulain vertritt in «Des Graces d'Oraison» die Ansicht, dass ein Zustand nur dann als mystisch anzusehen ist, wenn der Seher unfähig ist, diesen selbst herbeizuführen. In der Meditation ist das Gegenteil der Fall und der erleuchtete Mensch ist durch Wissen und Verstehen imstande, nach Belieben das Reich der Seele zu betreten und an dessen Leben und Bewusstseinszuständen intelligent teilzuhaben. Zu der einen Methode gehört das emotionelle Wesen und sie basiert auf dem Glauben an einen Gott, der gewähren kann. Die andere hat mit der mentalen Natur zu tun und beruht auf dem Glauben an die Göttlichkeit des Menschen selbst, obwohl sie die mystischen Voraussetzungen der anderen Gruppe keineswegs verneint.

Man kann feststellen, dass die Worte Mystiker und mystisch ziemlich frei und ungenau gebraucht werden und nicht nur den reinen Mystiker mit seinen Visionen und Gefühlsreaktionen bezeichnen, sondern auch jene, die bereits in das Reich reiner Erkenntnis und Gewissheit übergehen. Sie umfassen Zustände, die auf reiner Aspiration und Devotion beruhend unerwartet und immateriell sind, sowie auch solche, die das Ergebnis methodischer intelligenter Annäherung an die Wirklichkeit sind, und deren Wiederholung nach Gesetzen, die dem Wissenden bekannt sind, möglich ist. Bertrand Russell befasst sich mit diesen beiden Gruppen in äusserst interessanter Weise, obwohl er den Ausdruck Mystiker in beiderlei Hinsicht gebraucht. Seine Worte bilden eine faszinierende Einleitung zu unserem Thema.

(69) «Mystische Philosophie ist zu allen Zeiten und in allen Teilen der Welt durch gewisse Überzeugungen gekennzeichnet, wofür die eben betrachteten Doktrinen ein anschauliches Beispiel sind.

Das ist zuerst der Glaube an Innenschau im Gegensatz zum analytischen, logisch-folgernden Wissen; der Glaube an einen plötzlichen, alles ergründenden, zwingenden Weg der Weisheit im Gegensatz zum langsamen, fehlbaren Studium der äusseren Erscheinungen seitens einer Wissenschaft, die sich ausschliesslich auf die Sinneswahrnehmung verlässt. ...

Die mystische Innenschau beginnt mit dem Gefühl eines entschleierten Mysteriums, einer verborgenen, nun plötzlich über jeden Zweifel erhaben gewordenen Weisheit. Endgültiger Überzeugung geht das Gefühl der Gewissheit und der Enthüllung voraus. Diese endgültigen Überzeugungen, zu denen Mystiker gelangen, sind das Resultat reflektiver Betrachtung der im Moment der Innenschau gewonnenen, nicht gleich verständlichen Erfahrung. ...

Das erste und direkte Ergebnis der momentanen Erleuchtung ist der Glaube an die Möglichkeit einer Erkenntnisart, die man Offenbarung, Innenschau oder Intuition nennen könnte im Gegensatz zu Gefühl, Vernunft und Analyse, die als blinde Führer zum Morast der Illusion angesehen werden. Eng verbunden mit diesem Glauben besteht die Vorstellung von einer hinter dieser Erscheinungswelt stehenden und von ihr vollkommen verschiedenen Realität. Diese Realität wird oft mit einer an Anbetung grenzenden Bewunderung verehrt; sie wird als immer und überall nahe empfunden, durch die Sinneseindrücke leicht verschleiert, bereit - für das empfängliche Gemüt - in ihrer Herrlichkeit sogar durch die offensichtliche Torheit und Sündhaftigkeit des Menschen zu strahlen. Der Dichter, der Künstler und der Liebende suchen diese Herrlichkeit; die bezaubernde Schönheit, der sie nachgehen, ist der schwache Abglanz dieser Sonne. Der Mystiker aber lebt im vollen Licht der Vision. Wonach andere dunkel streben, das weiss er aus einer Erkenntnis, neben der alles andere Wissen Unwissenheit ist.

Das zweite Hauptmerkmal der Mystik ist der Glaube an Einheit und die Weigerung, irgendwo einen Gegensatz oder eine Teilung zuzugeben. 

Ein drittes Kennzeichen beinahe aller mystischen Metaphysiker ist die (70)  Verneinung der Wirklichkeit der Zeit; es ist das Ergebnis der Verneinung der Teilung; wenn alles eine Einheit ist, muss der Unterschied zwischen dem Vergangenen und dem Zukünftigen illusorisch sein. 

Die letzte der mystischen Doktrinen, die wir zu betrachten haben, ist die Überzeugung, dass alles Böse blosser Schein ist, eine durch die Teilungen und Gegensätzlichkeiten des analytischen Intellekts hervorgerufene Illusion. Die Mystik behauptet nicht, dass solche Dinge wie z. B. Grausamkeit gut seien, verneint aber deren Realität; sie gehören jener niederen Erscheinungswelt an, von der wir durch die Innenschau der Vision befreit werden sollen».

Der mystische Weg jedoch ist eine Vorbereitung zum Wege der Erkenntnis; und dort, wo der Mystiker in Anbetung der Vision und Sehnsucht nach dem Geliebten stehen bleibt, nimmt der nach wahrer Erkenntnis Strebende die Aufgabe auf und führt sie weiter. Dr. Bennett von der Yale-Universität sagt am Schlusse seines Buches über Mystik: «Der Mystiker wartet am Ende seiner Vorbereitung einfach auf eine Erscheinung und ein Ereignis, das er vorsichtigerweise nicht ausführlich beschreibt; er wartet aber auch im vollen Bewusstsein, dass seine eigene Anstrengung ihn so weit als möglich gebracht habe und dass sie nun durch etwas von aussen Kommendes gekrönt werden müsse». Dieser Gedanke verweist die ganze Idee in das Reich sinnlicher Wahrnehmung; es liegt aber etwas mehr darin: Direkte Erkenntnis. Ein Verstehen der Gesetze, welche dieses neue Reich des Seins beherrschen. Er unterwirft sich einer neuen Verfahrensweise und jenen Massnahmen und Losungsworten, die zum Tor führen und dessen Öffnen bewirken. Gerade hier trägt die Meditation (71) ihren Teil bei und das Denken setzt ein, um seine neue Funktion des Enthüllens auszuüben. Die vom Mystiker ersehnte Vereinigung, die er empfindet und kurz und flüchtig erlebt hat, wird durch die Meditation endgültig und kann zweifellos nach Belieben wieder erlangt werden. Vater Joseph Maréchal führt in seinem bemerkenswerten Buch aus, dass:

«Das Symbol vergeht, das Bild verblasst, Raum verschwindet, Vielfalt vermindert wird, Vernunft schweigt, das Gefühl der Ausdehnung sich verdichtet und dann zusammenbricht; intellektuelle Aktivität ist gänzlich in ihrer Intensität konzentriert; sie erfasst ohne Vermittlung in souveräner Gewissheit der Intuition das Sein, Gott. 

Das menschliche Denken ist also eine Fähigkeit, nach der Intuition zu suchen - das heisst nach der Assimilation des Seins, des reinen einfachen Seins, das unumschränkt eins ist, ohne einen Unterschied zwischen Essenz und Existenz, zwischen Möglichem und Wirklichem zu machen».

Dem Denken Zügel anzulegen und es auf seine neue Aufgabe als Offenbarer des Göttlichen zu lenken, ist jetzt das Ziel des überzeugten Mystikers. Um dies mit Erfolg und Glück durchzuführen, bedarf er klarer Vision seines Zieles und erleuchteten Verstehens der Ergebnisse, (72) die sich schliesslich zeigen sollen. Er muss sich über seine Kräfte und Fähigkeiten, die er zur Erreichung seiner Bestrebungen einsetzt, vollkommen klar werden und muss auch seine Fehler und Mängel richtig einschätzen. Er sollte zu einer möglichst abgewogenen Meinung über sich selbst und die gegebenen Umstände kommen. Gleichlaufend damit sollte er auch eine ebenso ausgeglichene Auffassung über das Ziel und ein Verständnis für die wundervollen Erkenntnisse und Gaben erlangen, die ihm zuteil werden, wenn er sein Interesse von den Dingen, die jetzt seine ganze Aufmerksamkeit und seine Gefühle in Anspruch nehmen. abwendet und auf die mehr esoterischen Werte und Normen konzentriert.

Wir haben darauf hingewiesen, dass Meditation ein Vorgang ist, bei dem das Denkvermögen auf die grosse Wirklichkeit gerichtet wird, und der bei richtiger Anwendung den Menschen in ein anderes Naturreich, einen anderen Bewusstseins- und Seins-Zustand sowie in eine andere Dimension führen kann. Das Ziel der Vollendung hat sich in höhere Gedanken- und Erkenntnisbereiche verlagert. Worin bestehen nun die endgültigen Resultate dieser neuen Einstellung?

Es soll vor allem festgestellt werden, dass Meditation jene Wissenschaft ist, die uns befähigt, zu einem direkten Erleben Gottes zu gelangen. Das, worin wir leben, uns bewegen und unser Sein haben, ist nicht mehr bloss Gegenstand der Aspiration oder das Symbol einer göttlichen Möglichkeit. Wir erkennen Gott als die Ewige Ursache und die Quelle all dessen, was ist, einschliesslich unserer selbst. Wir erkennen das Ganze. Wir werden eins mit Gott durch Einswerdung mit unserer eigenen unsterblichen Seele, und wen dieses ungeheure Ereignis stattfindet, erkennen wir, dass das Bewusstsein der individuellen Seele das Bewusstsein des Ganzen ist und dass Getrenntheit und Teilung, Unterschiede und die Begriffe von mein und dein, von Gott und einem Kinde Gottes im Wissen und Erkennen der Einheit aufgegangen sind. Dualismus wich der Einheit. Darin besteht der Weg der Vereinigung. Die integrierte Persönlichkeit wurde durch einen ordnungsgemässen Vorgang der Seelen-Entfaltung übertroffen und ein bewusstes Einssein zwischen dem niederen oder persönlichen Selbst (73) und dem höheren oder göttlichen Selbst zustandegebracht. Diese Dualität muss Zuerst erkannt und später überwunden werden, bevor das wirkliche Selbst im Bewusstsein des Menschen zum Höchsten Selbst wird. Man hat behauptet, dass diese beiden Teile des Menschen während langer Zeiten nichts miteinander gemein gehabt hätten; es sind dies die spirituelle Seele und die Formnatur, aber sie sind (und hier liegt die Lösung des menschlichen Problems) durch das Denkprinzip ewig miteinander verbunden. In einem uralten Buche der Hindus, der Bhagavad Gita, lesen wir die folgenden, bedeutungsvollen Worte:

«Wer sein kleines Ich überwunden hat, der ist sein eigener Freund. für jenen

aber, der vom Selbst weit entfernt ist, ist sein kleines Ich ein böser Feind».

Und St. Paulus sagt in seinem verzweifelten Aufschrei praktisch dasselbe:

«Ich bin mir ja bewusst, dass in mir, das heisst in meinem Fleische, nicht das Gute wohnt. Der Wille zum Guten ist zwar da aber es fehlt am Vollbringen. ... Wenn ich das Gute tun will, liegt mir das Böse näher. Dem inneren Menschen nach habe ich zwar Freude am Gesetz Gottes. Aber ich nehme in meinen Gliedern ein anderes Gesetz wahr, das im Streite liegt mit dem Gesetz meines Geistes. Es macht mich zum Gefangenen unter dem Gesetz der Sünde, das in meinen Gliedern herrscht. Ich unglückseliger Mensch! Wer erlöst mich von diesem todgeweihten Leibe.

Dieses wirkliche Selbst ist Gott Gott, der Triumphator, Gott der Schöpfer, Gott der Erretter (Erlöser) des Menschen. Es ist mit den Worten des Hl. Paulus «Christus in uns, die Hoffnung auf Herrlichkeit»; dies wird in unserem Bewusstsein zur Tatsache und ist nicht nur eine ersehnte Theorie.

(74) Meditation verursacht die Umwandlung unseres Glaubens in festgestellte Tatsachen und unserer Theorie in bewiesene Erfahrung. Die Behauptung des Hl. Paulus bleibt Begriff und Möglichkeit nur solange, bis durch Meditation das Christusleben erweckt ist und zum beherrschenden Faktor im täglichen Leben wird. Wir bezeichnen uns als göttlich und als Söhne Gottes. Wir wissen um jene, die ihre Göttlichkeit vor der Welt unter Beweis gestellt haben, die in den vordersten Reihen menschlicher Vollendung stehen und die für jene Vollkommenheiten, die über unsere Leistungsfähigkeit hinausgehen, Zeugnis ablegten. Wir nehmen in uns sowohl Bestrebungen wahr, die uns zu Erkenntnissen hintreiben, als auch innere Eingebungen, welche die Menschheit auf der Evolutionsleiter hinauf bis zur gegenwärtigen Stufe einer sogenannten gebildeten Menschheit getrieben haben. Ein göttlicher Drang hat uns von der Stufe des Höhlenbewohners bis zu unserer modernen Zivilisation geführt; vor allem aber wissen wir um jene, die eine Vision himmlischer Dinge an denen wir teilhaben möchten besitzen oder dies von sich behaupten, und die von einem direkten Weg in das Zentrum göttlicher Wirklichkeit Zeugnis geben, dem zu folgen sie uns nacheifern. Man sagt, dass es möglich sei, direkte Erfahrung zu erlangen, und dass der Grundton unserer modernen Zeit in die Worte: «Von der Autorität zur Erfahrung» zusammengefasst werden könne. Auf welche Weise können wir wissen? Wie können wir diese direkte Erfahrung erlangen, unabhängig von jeder Vermittlung? Die Antwort lautet, dass es eine von unzähligen Tausenden angewandte Methode und ein wissenschaftliches Verfahren gibt, das von Denkern aller Zeiten formuliert und angewandt wurde, wodurch sie Wissende wurden.

(75) Der Erziehungsprozess hat seine Hauptaufgabe durch die Vorbereitung des Denkvermögens auf die Meditationstätigkeit vielleicht schon geleistet. Er hat uns ja gelehrt, dass wir einen solchen Apparat besitzen und er hat uns einige seiner Anwendungsmöglichkeiten aufgezeigt. Die Psychologen haben uns viel über unsere mentalen Reaktionen und instinktmässigen Gewohnheiten mitgeteilt. Jetzt muss der Mensch von seinem Instrument bewusst Besitz ergreifen und aus den Anfangsstadien des Erziehungsprozesses in jenen inneren Arbeitsraum hinübergehen, wo es möglich ist, für sich selber Gott als das Ziel aller Erziehung festzustellen. Wer sagt doch, die Welt sei kein Gefängnis, sondern ein geistiger Kindergarten, wo Millionen verwirrter Kinder Gott zu buchstabieren versuchten? Das Denkvermögen schickt uns bei unserem Bemühen, die Wahrheit herauszufinden, dahin und dorthin, bis der Tag kommt, an dem wir uns erschöpft in uns selbst zurückziehen und zu meditieren beginnen, um dann endlich zu Gott zu finden. Wie Dr. Overstreet sagt: «All unser ewiges Suchen findet dann seine Erklärung und seinen Sinn. Es ist Gott, der in uns selbst wirkt. Dann entdecken wir die beständigeren Werte oder, indem wir sie erschaffen, erheben wir Gott zum Gesetz unseres eigenen Lebens».

Andererseits aber können wir Meditation als jene Methode definieren, durch die man die Herrlichkeit des entschleierten Selbstes in der Weise erreicht, dass man eine Erscheinungsform nach der anderen verwirft. Erziehung wird jedoch nicht nur in unseren Schulen und Universitäten erworben; die höchste Schule ist und bleibt die Lebenserfahrung selbst, und die Lektionen, die wir lernen, werden von uns selber dadurch verursacht, dass wir uns mit einer Reihe von Formen identifizieren Formen des Vergnügens, Formen jener, (76) die wir lieben, Formen des Verlangens, der Erkenntnis die Liste ist endlos. Was sind aber Formen anderes als Ersatzmittel, die wir erschaffen und dann als Gegenstände unserer Verehrung hochhalten, oder als jene Ideen über Glück und Wahrheit, die andere erschaffen haben und denen wir endlos nachjagen, nur um darauf zu kommen, dass sie sich vor unseren müden Augen in Nebel auflösen? Wir suchen Befriedigung in Erscheinungsformen aller Art, nur um sie in Staub und Asche zerfallen zu sehen, bis wir jenes Etwas jenes Unfassbare und doch unendlich Wirkliche finden, das ihnen allen ihr Dasein verlieh. Wer alle Formen nur als Symbole der Wirklichkeit ansieht, ist auf dem rechten Wege, das unverschleierte Selbst zu erhaschen. Doch bedarf es dazu mentaler Fassungskraft und gelenkter Intuition. Vielleicht hatte Sir James Jeans einen Schimmer davon erhascht, als er sagte:

«Phänomene erreichen uns maskiert im Gefüge von Zeit und Raum; sie stellen chiffrierte Botschaften dar, deren letzte Bedeutung wir nicht eher verstehen sollen, als bis wir herausgefunden haben, wie wir sie aus ihrer Zeit-Raum-Umhüllung herausschälen müssen».

Der Mensch ist ein Punkt göttlichen Lichtes, verborgen in einer Anzahl Hüllen, wie Licht in einer Laterne verborgen ist. Diese Laterne kann entweder geschlossen und finster, oder offen und strahlend sein. Sie kann entweder ein den Menschen scheinendes Licht, oder ein verhülltes Ding und daher für andere nutzlos sein. In dem grundlegenden Werk über Meditation, den Yoga Sutras von Patanjali, die ich in meinem Buche «Das Licht der Seelen» frei übertragen und kommentiert habe, wird uns versichert, dass durch richtige Disziplin und Meditation (77) «das, was das Licht verdunkelt, allmählich entfernt wird» und dass, «wenn die geistige Intelligenz ... sich im Denkvermögen (mind-stuff) widerspiegelt, Wahrnehmung des Selbstes erlangt wird».

Zu irgend einem Zeitpunkt in der Geschichte eines jeden Menschen tritt eine bedeutungsvolle Krise ein, wenn durch richtig angewandte Intelligenz das Licht empfunden werden und mit dem Göttlichen unweigerlich ein Kontakt erfolgen muss. Das betont Patanjali, wenn er sagt: «Die Übertragung des Bewusstseins von einem niederen Vehikel in ein höheres ist ein Teil des schöpferischen und evolutionären Werdeganges».

Langsam und schrittweise wird direkte Erkenntnis möglich, und die hinter jeder Form verborgene Herrlichkeit kann offenbar werden. Das Geheimnis besteht darin, zu wissen, wann diese Zeit gekommen ist und den Moment dieser Gelegenheit zu erfassen. Meister Eckehart sagt:

«Wenn die Seele all ihrer Hüllen entblösst wäre, würde sich Gott ihr ganz unverhüllt zeigen, sich selbst gebend, nichts zurückbehaltend. Solange aber die Seele nicht all ihre Schleier - wie dünn diese auch sein mögen - von sich geworfen hat, ist sie nicht fähig, Gott zu schauen».

So lehren also Ost und West die gleichen Grundideen in der gleichen Symbologie. Meditation stellt daher einen ordnungsgemässen Vorgang dar, durch den der Mensch Gott findet. Sie ist ein wohlerprobtes und viel gebrauchtes Verfahren, das unfehlbar das Göttliche enthüllt. Die bedeutsamen Worte sind hier: «ordnungsgemässer Vorgang». Es sind da bestimmte Regeln (78) zu befolgen, gewisse, ganz klare Massnahmen zu treffen und gewisse Entwicklungsstadien durchzumachen, bevor ein Mensch die Früchte der Meditation ernten kann. Sie ist auch - wie wir gesehen haben - ein Teil des evolutionären Prozesses und ist wie alles in der Natur langsam aber sicher und in ihren Ergebnissen unfehlbar. Für den, der willens ist, sich den Regeln zu unterwerfen und nach dieser Methode zu arbeiten, gibt es keine Enttäuschung. Meditation verlangt Selbstkontrolle in allen Belangen, und wenn die Meditationsarbeit selbst nicht von den anderen Erfordernissen des «ordnungsgemässen Vorganges» (wie Selbstbeherrschung und aktiver Dienst) begleitet ist, wird sie ihr Ziel verfehlen. Fanatismus wird nicht verlangt. Dies kommt in der Bhagavad Gita klar zum Ausdruck:

«Diese innerliche Vereinigung wird aber nicht demjenigen zuteil, der ein Fresser ist oder sich durch übermässiges Fasten schädigt; auch nicht jenem, der zuviel schläft oder fortwährend wachend ist. Wer mässig isst, sich der Erholung widmet, geregelt arbeitet, schläft und wacht, für den wird Meditation zum Zerstörer aller Leiden».

Meditation kann mit vollem Recht als ein Teil des natürlichen Entwicklungsprozesses angesehen werden, der den Menschen auf dem Pfad der Evolution von einem kaum über dem Tierzustand liegenden Niveau bis zu seiner gegenwärtigen Position mentaler Errungenschaft, wissenschaftlicher Leistung und göttlicher Rastlosigkeit geführt hat. Sein Bewusstseinszentrum hat sich ständig verlagert und seine Aufmerksamkeit hat sich ständig auf immer grössere Kontaktbereiche konzentriert. Der Mensch ist bereits aus dem rein tierischen und körperlichen Seinszustand in den intensiver Gefühls- und Sinneswahrnehmung übergegangen; in diesem Stadium befinden sich derzeit (79) Millionen. Millionen anderer aber schreiten darüber hinaus und entfalten sich in einem höheren Wahrnehmungsbereich, den wir die Welt der Gedanken nennen. Eine andere, zahlenmässig viel kleinere Gruppe wieder geht in eine Sphäre über, wo ein universaler Kontakt möglich wird. Diese nennen wir die Wissenden der Menschheit. Durch alle angewandten Methoden zieht sich der goldene Faden göttlicher Absicht, und die Art und Weise, nach der die Transferierung des menschlichen Bewusstseins in das der Seelen-Erkenntnis und Seelen-Wahrnehmung zustande kommt, ist eben die Meditation.

Dieser Vorgang der Entschleierung des Selbstes durch Verneinung der Formseite des Lebens und der daraus folgenden Unfähigkeit der verschiedenen Hüllen, dieses Selbst weiter zu verbergen, kann sowohl als Transmutation (Umwandlung) wie auch als Transferierung (Übertragung) des Bewusstseins bezeichnet werden.

Transmutation ist die Änderung und Umleitung der Energien des Denkvermögens, der Gefühle und der physischen Natur, so dass sie der Offenbarung des wirklichen Selbstes und nicht bloss zur Offenbarung der psychischen und körperlichen Natur dienen.

Wir wissen z. B., dass wir fünf Hauptinstinkte besitzen, die wir mit allen Tieren gemeinsam haben. Wenn diese Instinkte zu selbstsüchtigen und persönlichen Zwecken gebraucht werden, steigern sie das körperliche Leben, stärken die Form- oder materielle Natur und tragen so immer mehr zur Verhüllung des Selbstes, des geistigen Menschen, bei. Sie müssen daher in ihre höheren Entsprechungen umgewandelt werden, denn jede tierische Eigentümlichkeit hat ihr geistiges Urbild. Der Instinkt der Selbsterhaltung muss schliesslich der Erkenntnis der Unsterblichkeit weichen, und der Mensch (80) wird «immer im Ewigen weilend» die Erde bewohnen und seine Bestimmung erfüllen. Der Instinkt, der das niedere Selbst veranlasst, sich vorzudrängen und seinen Weg aufwärts zu erzwingen, wird sich später einmal in ein Herrschen des höheren oder geistigen Selbst verwandeln. Das Selbstbewusstsein des kleinen oder niederen Selbstes wird dem des höheren Selbstes Platz machen. Sexualität als animalischer und alle tierischen Formen machtvoll beherrschender Instinkt wird einer höheren Anziehungskraft weichen und wird in ihrer edelsten Form die bewusste Anziehung und Vereinigung der Seele mit ihrem Instrument zustandebringen, während der Herdeninstinkt in Gruppenbewusstsein verwandelt werden wird. Ein fünfter Instinkt, der Drang zu fragen und zu forschen, das Kennzeichen aller Denker auf hoher oder niederer Ebene, wird der intuitiven Wahrnehmung und Einsicht Platz machen; auf diese Weise wird das grosse Werk seiner Vollendung zugeführt werden, und der spirituelle Mensch wird seine Schöpfung, das menschliche Wesen, beherrschen und dessen Eigenschaften und Merkmale in den Himmel erheben.

Durch Meditation wächst die spirituelle Erkenntnis im Denken, und ausgehend vom gewöhnlichen Wissen erweitern wir ständig unser begriffsmässiges Verstehen, bis Wissen in Wahrheit übergeht. Das ist dann direkte Erkenntnis Gottes durch mentale Fähigkeit, so dass wir das werden, was wir sind und unser göttliches Wesen manifestieren können. Tagore definiert an einer Stelle Meditation als «das Eindringen in eine grosse Wahrheit, bis wir in ihrem Besitz sind»; Wahrheit und Gott sind sinnverwandte Begriffe. Das Denken sagt man erkenne zweierlei: die äussere Welt mittels der fünf Sinne und des Gehirns, und die Seele (81) und ihre Welt durch das, was wir ein nach innen gerichtetes Denken und dessen intensive Konzentration auf ein neues und ungewöhnliches Kontaktgebiet nennen können. Dann «wird der Denkstoff (chitta), der sowohl den Erkennenden (das Selbst) als auch das Erkennbare widerspiegelt, allwissend ... er wird zum Instrument des Selbstes und fungiert als einigendes Organ».

Dem wahrhaft Meditierenden werden dann alle Dinge offenbar. Er wird die verborgenen Dinge der Natur, die Geheimnisse des Lebens des Geistes verstehen. Er wird auch wissen, wieso er weiss. Auf diese Weise bringt Meditation die Vereinigung oder Einswerdung zustande.

Der Mystiker des Westens mag von Eins-Sein sprechen, während sein orientalischer Bruder von Raja-Yoga, von Vereinigung und Befreiung spricht; beide aber meinen das gleiche. Sie meinen, dass das Denken und die Seele (der Christus in uns oder das Höhere Selbst) als Einheit, als harmonisches Ganzes funktionieren und so den Willen des innewohnenden Gottes in vollkommener Weise zum Ausdruck bringen. René Guénon bringt in seinem Buch: Der Mensch und sein Werdegang über das Wort «Vereinigung» folgende interessante Kommentare, deren Anführung hier am Platz ist:

«Die Erkenntnis dieser Identität kommt durch Yoga zustande, also durch die innige und wesentliche Vereinigung des Seins mit dem göttlichen Prinzip oder, wenn man es vorzieht, mit dem Universellen. Die richtige Bedeutung des Wortes Yoga ist tatsächlich «Vereinigung» und nichts anderes. ... Es sollte beachtet werden, dass man diese Erkenntnis nicht so genau als eine «Errungenschaft» oder als das «Zustandebringen eines vorher nicht existenten Resultates» (nach Shankaracharya) ansehen sollte, denn obwohl die in Rede stehende Vereinigung in dem hier (82) gemeinten Sinne in Wirklichkeit noch nicht vollzogen wurde, besteht sie nichtsdestoweniger der Anlage oder vielmehr dem Wesen nach; es bedarf lediglich dessen, dass der Mensch tatsächlich ein Bewusstsein darüber erlangt, was seit Ewigkeit wirklich besteht».

Durch den ordnungsgemässen Stufenweg des Meditationsprozesses kommt allmählich und stetig eine Beziehung zwischen der Seele und ihren Instrumenten zustande, bis einmal die Zeit kommt, da sie buchstäblich eins werden. Dann dienen die Hüllen einfach dazu, das Licht des innewohnenden Gottessohnes zu offenbaren; der physische Körper steht unter der unmittelbaren Herrschaft der Seele, denn das erleuchtete Denkvermögen übermittelt dem physischen Gehirn, wie wir später sehen werden, Seelenerkenntnis; die gereinigte emotionelle Natur spiegelt einfach die Liebes-Natur der Seele wider, so wie das Denkvermögen die Absichten Gottes widerspiegelt. Auf diese Weise werden die bisher unorganisierten und unterschiedlichen Seiten des menschlichen Wesens vereint und vereinheitlicht und werden zu einander und zur Seele, ihrem Schöpfer, ihrer Energiequelle und bewegenden Kraft in harmonische Beziehung gebracht.

Diese Wissenschaft der Vereinigung bedingt die Disziplinierung des Lebens und ein experimentelles System harmonischen Zusammenwirkens. Ihre Methode ist die der konzentrierten Aufmerksamkeit, Gedankenkontrolle oder Meditation und ist eine Entwicklungsart, durch die wir die Vereinigung mit der Seele erreichen und innerer Bewusstseinszustände gewahr werden.

Dies finden wir in den bekannten Worten Brownings zusammengefasst:

«Wahrheit liegt tief in uns; sie entspringt nicht

Aus äusseren Dingen, was immer ihr auch glauben mögt.

(83) In unserem Innersten

Wohnt Wahrheit in Fülle; und rundherum

Wall um Wall, das grobe Fleisch umschliesst sie.

Doch um zu erkennen,

Muss man den Weg nach aussen hin öffnen,

Damit das eingekerkerte Leuchten herausströmen kann,

Nicht aber versuchen, ein Licht hereinzubringen,

Das angeblich draussen ist».

Die ganze Wissenschaft der Meditation dient dazu, den Menschen zu befähigen, in äusserer Manifestation das zu werden, was er innerer Wirklichkeit nach ist, und ihn dazu zu bringen, sich mit seinem Seelenaspekt und nicht nur mit seinen niederen Haupteigenschaften zu identifizieren. Es ist ein rasches Verfahren zur Entfaltung des logisch denkenden Bewusstseins, das aber in diesem Falle selbst auferlegt und veranlasst sein muss. Durch Meditation wird das Denkvermögen als Instrument zur Beobachtung ewiger Zustände benützt und wird mit der Zeit zum Instrument der Erleuchtung, durch das die Seele oder das Selbst dem physischen Gehirn Wissen übermittelt.

Meditation führt endlich auch zur Erleuchtung. Meister Eckehart sagt in seinem Buch der im vierzehnten Jahrhundert geschriebenen Predigten:

«Drei Arten von Menschen erschauen Gott. Die erste erschaut ihn im Glauben; sie weiss von ihm nicht mehr, als sie durch ein Getrenntsein herausfinden kann. Die zweite erblickt Gott im Licht der Gnade, jedoch nur als Erfüllung ihres Verlangens, Süsse, Andacht (Devotion), Innerlichkeit und andere derartige Dinge zu gewähren. ... Die dritte erschaut ihn im göttlichen Lichte».

(84) Dies ist das durch Meditation sich offenbarende Licht, mit dem wir zu arbeiten lernen. Das Herz der Welt ist Licht, und in diesem Licht werden wir Gott schauen. In diesem Licht finden wir uns selbst, in ihm werden alle Dinge offenbar. Patanjali sagt, dass «wenn die Mittel zur Vereinigung ständig angewandt würden und Unreinheit überwunden ist, eine Aufhellung stattfindet, die bis zur vollen Erleuchtung führt. Das Denken strebt dann nach immer mehr Erleuchtung über die wahre Natur des Selbstes».

Als Ergebnis der Meditation strahlt dann das Licht auf. Diese «Erleuchtung geht schrittweise vor sich und entfaltet sich Stufe um Stufe».

Damit aber wollen wir uns später näher befassen.

Durch Meditation entfalten sich als Folge aller vorangehenden Faktoren die Kräfte der Seele. Jedes Vehikel, durch das sich die Seele äussert, trägt latent in sich gewisse eigene Wirkungskräfte, die Seele aber, der Quell all dieser Wirkungskräfte, besitzt sie in ihrer reinsten und edelsten Form. Das physische Auge z.B. ist das Organ des körperlichen Sehens. Hellsehen ist das gleiche Wirkungsvermögen, das sich in der Welt der Illusion, des Empfindens und Fühlens manifestiert, also in der Welt, die wir als die psychische ansehen. In der Seele aber tritt dieselbe Fähigkeit als reine Wahrnehmung und unfehlbare geistige Vision zutage. Die höheren Entsprechungen der niederen physischen und psychischen Anlagen werden durch Meditation zu (85) wirksamer Tätigkeit gebracht und treten also an die Stelle der niederen Ausdrucksformen.

Diese Kräfte entfalten sich normal und auf natürlichem Wege. Dies geschieht aber nicht deshalb, weil sie gewünscht und bewusst entfaltet werden, sondern weil in dem Masse, als der innere Gott die Kontrolle übernimmt und Seine Körper beherrscht, Seine Kräfte und Fähigkeiten auf der physischen Ebene in Erscheinung treten und die möglichen Anlagen sich dann als erkannte Wirklichkeiten erweisen.

Der wahre Mystiker befasst sich nicht mit den Kräften und Fähigkeiten, sondern allein mit dem Besitzer dieser Anlagen. Er konzentriert sich auf das Selbst und nicht auf die Wirkungskräfte dieses Selbstes. In dem Masse, wie er immer mehr mit der Wirklichkeit, die er selbst ist, verschmilzt, werden die Kräfte der Seele normal, sicher und nutzbringend sich zu entfalten beginnen. Diesen Vorgang gibt Meister Eckehart mit folgenden Worten wieder:

«Die niederen Kräfte der Seele sollten ihren höheren, und ihre höheren Gott angepasst werden; ihre äusseren Sinne den inneren, und diese der Vernunft; das Denken der Intuition, Intuition dem Willen, und alles zusammen der Einheit ...».

Die Worte Dr. Charles Whitby's, des Übersetzers des Buches René Guénon's: Der Mensch und sein Werdegang, passen zu diesem Kapitel über die Ziele des Meditationsprozesses. Er bezieht sich auf das

« ... überwältigende Zeugnis der gegenseitig bestätigten Übereinstimmung der westlichen, der Hindu-, Moslem- und fernöstlichen esoterischen Traditionen in allen wesentlichen Punkten. Die Wahrheit, die wir so voreilig als unerreichbar bezeichnen, erwartet uns hier (86) in unveränderter, unwandelbarer Majestät, vor flüchtigen, spöttischen Blicken wohl verschleiert, aber ernsten, unvoreingenommenen Suchern in immer grösserem Ausmasse sichtbar. Nach Plotin steigt die Kontemplation, die im Wesentlichen das Leben eines jeden Individuums und der Gesamt-Menschheit ausmacht, allmählich und in einer natürlichen, unvermeidlichen Stufenfolge von der Natur zur Seele empor, von der Seele zum reinen Intellekt, vom Intellekt zum höchsten "Einen". Wenn dem so ist, kann oder eigentlich muss früher oder später dem gegenwärtig herrschenden Vorurteil des fortschrittlicheren Repräsentanten westlicher Gedanken und Wissenschaft gegenüber psychischen oder quasi-psychischen Dingen eine gleich ernste Aufmerksamkeit für Dinge höherer und sogar höchster Bedeutung folgen».

Daraus kann man ersehen, dass die Forderungen nach Meditation sehr gewichtig sind, und die Zeugenschaft der Mystiker und Eingeweihten aller Zeiten bestätigt diese Befürwortung. Die Tatsache, dass andere Vollendung erlangt haben, ermutigt und interessiert uns wohl, aber das allein genügt nicht, solange wir uns nicht selbst zu einem endgültigen Schritt entschliessen. Dass es eine Technik und eine Wissenschaft der Vereinigung gibt, die auf der richtigen Handhabung des Mentalkörpers und seinem rechten Gebrauch beruhen, mag zutiefst wahr sein; diese Erkenntnis jedoch ist zwecklos, solange der gebildete Denker nicht die Folgerungen daraus zieht. Er muss sich über die darin inbegriffenen Werte klar werden und darauf ausgehen, die Tatsache des Denkvermögens, dessen zweifache Beziehung (einerseits zur Seele, andererseits zur äusseren Umgebung) und schliesslich seine Fähigkeit zu beweisen, dieses Denkvermögen nach Belieben und eigener (87) . Wahl gebrauchen zu können. Dies bedingt die Entwicklung des Denkvermögens zur Einheitsschau oder zum gesunden Menschenverstand und die Beherrschung der Denkkraft in bezug auf die Welt irdischen Lebens, der Emotionen und Gedanken. Dazu gehört auch die Fähigkeit, sein Denkvermögen nach Belieben auf die Welt der Seele richten zu können und es als Mittler zwischen Seele und physischem Gehirn fungieren zu lassen. Die erste Beziehung wird durch gesunde Methoden äusserer Erziehung und Bildung entwickelt und gefördert; letztere wird durch Meditation, eine höhere Form des Erziehungsprozesses, ermöglicht.