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Sechstes Kapitel - Stadien der Meditation

Sechstes Kapitel

Stadien der Meditation - (Fortsetzung)

Milarepa war einer der Grossen, der sich schliesslich vom zweifachen Schatten löste und sich in den spirituellen Raum aufschwang, bis er das grosse Ziel erreichte, worin alle Doktrinen im Eins-Sein aufgehen. ... Nachdem er alle seine Ideen und Vorstellungen mit der Ersten Ursache verschmolzen hatte, hatte er die Illusion der Dualität überwunden.

Rechung (Aus dem Tibetanischen).

(119) Wir sind mit unserer Meditationsarbeit weitergegangen, und zwar in einem weltlichen Sinne, weil ja dabei das Denkvermögen eine Rolle spielt. Obwohl der Gegenstand des Meditationsprozesses vermutlich ein religiöser war, können die gleichen Resultate ebenso gut durch Verwendung eines rein weltlichen Themas als «Objekt» oder «Saatgedanke» erreicht werden. Die Erziehung des Denkens zu aufmerksamer Konzentration auf eine erwählte Idee bildete das Ziel. Wir haben uns daher mit dem befasst, was man richtigerweise als einen Teil des Erziehungsprozesses bezeichnen könnte.

Hier tritt die Verschiedenheit der östlichen und westlichen Methoden zutage. Die eine Schule lehrt ihre Studenten, vor allem die Herrschaft über das Denkinstrument zu erlangen, die Existenz dieses Instruments durch anfängliche Fehlschläge in dieser Kontrolle festzustellen und es dann durch Konzentration und Meditation mit Leichtigkeit dahin zu bringen, dass sich das Denken scharf und genau auf ein bestimmtes Ziel richtet. Eine andere Schule wieder stellt das Vorhandensein jenes Etwas, das Denkvermögen genannt wird, als Tatsache hin, stopft es ständig mit Informationen voll und drillt das Gedächtnis, damit der Studierende über den Erinnerungsschatz stets leicht verfügen könne. (120) Aus diesem Stadium kommen aber nur verhältnismässig wenige heraus und zu einer wirklichen Nutzniessung des Denkvermögens, etwa durch ein tiefes Interesse an irgend einer Wissenschaft oder für eine bestimmte Lebensrichtung; die meisten erlangen niemals die Kontrolle über das Denkvermögen. Unsere heutigen Erziehungsmethoden lehren den Studenten diese einleitende Technik nicht, und daraus entsteht die weitverbreitete Begriffsverwirrung über die Natur des Denkvermögens und über den Unterschied zwischen diesem und dem Gehirn.

Wenn es ausser dem Gehirn und den Gehirnzellen nichts anderes gäbe, dann wäre der Standpunkt des materialistisch eingestellten Denkers, dass das Denken gänzlich von der Qualität der Gehirnzellen abhängt, logisch und korrekt. Ludwig Fischer's Buch «AUFBAU DER GEDANKEN» bringt die Rolle, die das Gehirn bei diesem Vorgang spielt, sehr gut zum Ausdruck.

«Die Vollkommenheit der Wahrnehmungsprozesse hängt hauptsächlich von der Struktur und dem Funktionieren eines bestimmten Organes ab, das die verschiedenen Sinneseindrücke empfängt und miteinander verbindet, und das ferner die Spuren früherer Eindrücke teilweise bewahrt und sie indirekt wieder in Aktion treten lässt. Dieses Organ ist das Gehirn mit seinen Verästelungen und Hilfsorganen. Die Vollkommenheit des strukturellen Aufbaus und der Arbeitsweise dieses Organes ist bestimmend dafür, bis zu welchem Grad es uns gelingen kann, in einem wohlbedachten Versuch eine Darstellung des gesamten Komplexes hervorzurufen, indem wir die uns zur Verfügung stehenden speziellen Formen sinnlicher Wahrnehmung benützen.

«Das Gehirn ermöglicht uns Intuition und eine intellektuelle Wahrnehmung der Welt in ihrer vielfältigen Zusammensetzung. Die Art und Weise, wie dies zustandekommt, hängt von der ausserordentlich komplizierten inneren Struktur dieses Organes und dessen wechselseitiger Beziehung zu den anderen Teilen des Ganzen ab, einer Beziehung, die viele Abstufungen aufweist».

(121) Wenn unbewusste Vorstellung und sinnliche Wahrnehmung samt der daraus folgenden vernunftgemässen Erklärung und dem darauf einsetzenden Mentalprozess ihren Ursprung im Gehirn haben, dann hat Dr. Sellars recht, wenn er in seinem Buche: EVOLUTIONÄRER NATURALISMUS sagt, dass man das Denkvermögen als eine «physische Kategorie» ansehen kann, und dass «wir damit jene Nervenprozesse meinen sollten, die ihren Ausdruck in einem intelligenten Verhalten finden».

Dieser Gedanke aber befriedigt die Mehrzahl der Denker keineswegs, und die meisten von ihnen die anderen Schulen als den rein materialistischen angehören setzen etwas Höheres als bloss Materie voraus und betrachten das Denkvermögen als vom Gehirn verschieden; sie vertreten die Hypothese, dass das Denken eine subjektive, substanzielle Wirklichkeit sei, die das Gehirn als ihr letztes Ausdrucksmittel benützen und es beeindrucken kann, um jene Begriffe und Intuitionen zum Ausdruck zu bringen, die ein Mensch bewusst verwenden kann. Das, was wir hier betrachten, ist keineswegs eine übernormale Fähigkeit oder ein besonderes Instrument einiger Begabter; das Denkvermögen sollte von allen gebildeten Menschen verwendet werden, und am Ende des Erziehungsprozesses (der in den schöpferischen Jahren weiterläuft) sollte der Mensch im Besitz einer Fähigkeit sein, die er versteht und nach Belieben anwendet. Dr. McDougall führt in PSYCHOLOGIE, DIE WISSENSCHAFT VOM VERHALTEN aus, dass unsere (gewöhnlich unbewusste) mentale Aktivität entweder unternormal, normal oder übernormal sein kann. Im ersteren Falle haben wir den Idioten oder Schwachsinnigen; im zweiten Falle den intelligenten (122) Durchschnittsbürger, dessen Denken ein Zuschauer oder eigentlich ein Filmapparat ist, der alle Vorkommnisse registriert; und endlich finden wir jene Seelen, deren Bewusstsein erleuchtet ist und deren Denkvermögen das wahrnimmt, was den meisten verborgen ist. Mit dieser letzten Klasse haben wir aber bis jetzt nichts zu tun; sie ist das Produkt der Endstadien der Meditation-Kontemplation und Illumination. Konzentration und Meditation aber betreffen eindeutig die Vielen, die Normalen.

Im Osten und auch von vielen Menschen des Westens wird das Denkvermögen als vom Gehirn getrennt und von diesem verschieden angesehen. Dr. C. Lloyd Morgan zitiert in HERVORTRETENDE EVOLUTION Descartes, der feststellt, dass es «tatsächlich körperliche Substanz (res extensa) und mentale oder Denksubstanz (res cogitans) gibt; zu ihrem Dasein aber bedürfen beide der Übereinstimmung mit Gott.  Abgesehen von dieser gemeinsamen Abhängigkeit von Gott ist keine der beiden Substanzen von der anderen abhängig».  Er fasst seinen eigenen Standpunkt in einem anderen Buch LEBEN, DENKEN UND GEIST wie folgt zusammen:

«Geist ist vom Leben und Denkvermögen keineswegs trennbar, und diese auch nicht von ihm. Was uns zur reflektiven Kontemplation gegeben ist, ist ein Weltplan natürlicher Ereignisse. Ich glaube, dass dieser Weltplan eine Manifestation göttlicher Absicht ist. Auch wir sind Manifestationen des Geistes, der sich in uns "offenbart". Jeder von uns IST Leben, Denken und Geist ein Beispiel für Leben als ein Ausdruck des Weltenplanes, für Denken als ein andersartiger Ausdruck dieses Weltenplanes und für Geist insoweit, als die Substanz dieses Weltplanes in uns offenbar wird. ... Diese Offenbarung ist nur eine teilweise, da ein jeder von uns nur ein (123) individuelles Beispiel für das ist, was in vollständiger Manifestation universal ist».

Gott offenbart seine Absicht durch die Aktivität der Form. In gleicher Weise offenbart Er sich durch die Tätigkeit des Denkens, das seinerseits das auf Empfang eingestellte Gehirn beeindruckt. Später wiederum wird das Denkvermögen für eine Erleuchtung empfänglich, die vom Geistaspekt ausstrahlt, und das wollen wir kurz betrachten. Wir nähern uns hier sehr dem orientalischen Standpunkt, der einen Denkstoff annimmt, der von aussen her durch die Sinne, die Gefühle und andere Denker zur Tätigkeit veranlasst wird. Diese intensive Tätigkeit des Denkstoffes muss durch Konzentration und Meditation zielbewusst unwirksam gemacht werden, wenn das Denkvermögen in jenen Zustand versetzt werden soll, in dem es auf ein anderes Wahrnehmungsgebiet gerichtet und konzentriert werden kann. Für den Esoteriker besteht das Ziel der Meditation (in den späteren Stadien) darin, sein Denken dahin zu bringen, dass es auf keinerlei äussere Tätigkeiten mehr reagiert, ganz gleich, ob sie von hoher oder niederer Art sind; er sollte vielmehr anfangen Eindrücke aufzunehmen, die von jenem sich ständig manifestierenden Faktor herkommen, den wir (mangels besserer Bezeichnung) das Denken Gottes, das Universale Denken nennen. Dieses Denkvermögen zeichnet sich durch einen Sinn für Ganzheit und Synthese aus.

Die ganze Geschichte der Menschheitsentwicklung kann vom Gesichtspunkt dieser Grundidee der Existenz eines grossen Planes betrachtet werden; und man kann beobachten, wie sich das Hauptaugenmerk darauf richtet, dass im Menschen ein Bewusstsein über ein Universum (124) heranwächst, das die Offenbarung eines grossen Lebens und einer Gottheit ist, und innerhalb dessen die Menschheit ihre Rolle spielt. Ludwig Fischer lenkt unsere Aufmerksamkeit auf die Tatsache, dass alle unsere Fähigkeiten «auf das mysteriöse und unbewusste Etwas gegründet sind das unser intellektuelles Leben zur Gänze beherrscht»; und er weist auf das notwendige Vorhandensein von etwas hin, das er das nicht-rationale Element in den Antworten nennt, die wir auf die vielseitigen Fragen des Alltags geben. Seine Schlussfolgerungen hinsichtlich der grundlegenden Situation, der ein Mensch im Zusammenhang mit dem Denken und Fortschreiten in höhere, über der Vernunft liegende Reiche ins Auge sehen muss, sind wahr und gewichtig. Er sagt:

«Es gibt nur einen Weg des Vorwärtsschreitens. Diesen Weg weist die Intuition von Denkern mit einer überdurchschnittlichen instinktiven Feinfühligkeit; die analytische Vernunft folgt, festigt die Position und macht die Strasse für die übrige Menschheit gangbar. Der Vormarsch ins Unbekannte beginnt mit einer Hypothese, und eine solche ist nichts anderes, als ein mehr oder weniger nicht-rationales, intuitiv erlangtes Gebilde. Einmal aufgestellt, wird die Hypothese samt all ihren stillschweigenden Folgerungen mit dem Erfahrungswissen verglichen, so dass sie - wenn möglich - erprobt und vernunftgemäss erklärt werden kann».

Wir haben nun in unserem Studium der Gedankenkontrolle jene Stufe erreicht, von der aus wir nur mehr auf Grund einer Hypothese weitergehen können. Es ist aber nur für den materialistischen Denker eine Hypothese, denn die erreichten Schlussergebnisse und der erfasste Erkenntnisbereich sind von vielen Tausenden aller Zeiten als Wahrheit und bewiesene Tatsache schriftlich niedergelegt worden.

Wir haben hier eine alte, erprobte Methode umrissen, derzufolge - wie (125) behauptet wird - das Denkvermögen erfasst und nach Belieben benützt werden kann, und wir haben einen Weg gewiesen, wie jene Faktoren, die bis jetzt die gedankliche Aufmerksamkeit an sich gerissen haben, ausgeschaltet werden können und wie die Erschliessung eines neuen Wahrnehmungsgebietes möglich wird. Bevor wir die Unterweisungen fortsetzen, wäre es gut, wenn wir die Hypothese, auf der wir nun weiterbauen wollen, definieren würden. Sie kann folgendermassen beschrieben werden:

Es gibt ein Reich der Seele, oft das Reich Gottes genannt, das in Wirklichkeit nur ein anderes Naturreich, ein fünftes Reich, ist. Der Eintritt in dieses Reich ist ein ebenso natürlicher Vorgang, wie es der Übergang des evolvierenden Lebens von einem Naturreich in ein anderes im Verlauf der Evolution gewesen ist. Wenn die Sinne und all das, was sie übermitteln, in dem «gemeinsamen Sinn» vereinigt werden, - eine Bezeichnung, die Mystiker wie Meister Eckehart dem Denkvermögen gaben bereichern sie dieses Denkvermögen und eröffnen ihm viele Gewahrseinszustände. Wenn aber diese Tätigkeiten unwirksam gemacht werden können, und wenn das reichhaltige und sensitive Denkvermögen auf sich selbst eingestellt werden kann, wird es zu einem feinfühligen Apparat (einem sechsten Sinn, wenn man will) der «die Dinge des Reiches Gottes» in sich aufnimmt und dem Menschen in tiefer Meditation Bewusstseinszustände und Erkenntnisbereiche eröffnet, die ihm bisher verschlossen waren, die aber genau so einen Teil des Ganzen und des Weltinhaltes bilden, wie irgendein anderes Forschungsgebiet. Das also ist unsere Hypothese, auf der wir weiterbauen wollen. Instinktive Wahrnehmung im Menschen ist intellektueller Erkenntnis gewichen. Wäre es nun nicht möglich, dass diese intellektuelle Wahrnehmung ihrerseits durch ein intuitives Gewahrwerden übertroffen und verdrängt werden könnte?

(126) Zur Erläuterung des Themas dieses Buches dürften sich an dieser Stelle einige grundlegende Thesen als notwendig und wertvoll erweisen. Es sind deren drei:

Erstens: Wir stellen fest, dass wir in dem langen Evolutionsprozess, der den Menschen aus dem tierischen Stadium in das menschliche gebracht hat, nun jene Stufe erreicht haben, auf welche der, Mensch eigenbewusst oder selbst-bezogen ist. Er steht im Mittelpunkt seiner eigenen Welt, und das Universum dreht sich um ihn. Alles Geschehen bezieht sich auf ihn und seine Angelegenheiten, sowie auf den Nutzen des Lebens und der Umstände für ihn, als den wichtigen Faktor.

Zweitens: In dem Masse, als der Mensch an Erkenntnis und intellektueller Bewusstheit zunimmt, arbeiten Gehirn und Denkvermögen harmonisch zusammen. Das erstere wird einfach zum Werkzeug oder Instrument der geschulten Instinkte und des kontrollierten Denkens. Dieses Denken schöpft aus dem, was «der Inhalt des Unterbewussten» genannt wurde, aus dem aktiven Gedächtnis, und aus der Umwelt das, was zur Weiterführung des Lebensprozesses in einer bedürfnisreichen Welt erforderlich ist. Der Mensch wird zu einem leistungsfähigen und nützlichen Wesen und nimmt seinen Platz im Menschheitskörper als bewusste Zelle ein. Er beginnt, Gruppenbeziehungen zu erkennen. Aber es bleibt noch mehr zu tun übrig.

Drittens: Seit dem frühesten Stadium menschlicher Existenz bis zu dem des hochgradig harmonisch funktionierenden Menschen gab es immer ein Bewusst-Sein von etwas Anderem, von einem jenseits menschlicher Erfahrung liegenden Faktor, einem Ziel oder einem Suchen nach einer Gottheit. Dieses subtile und undefinierbare (127) Gewahrsein kommt unvermeidlich zum Vorschein, bringt den Menschen ständig weiter voran und drängt ihn zur Suche nach dem, was ihm anscheinend weder das Denken (so wie er es kennt) noch die Umstände und die Umwelt zu geben vermögen. Man kann dies die Suche nach Gewissheit, ein Erstreben mystischer Erfahrung oder einen religiösen Impuls nennen. Wie immer wir es auch nennen mögen, es ist unfehlbar da.

Diese drei Thesen beschreiben in groben Umrissen den Weg, den der Mensch in seinem Bewusstsein gegangen ist. Sie schildern die Situation, in der wir heute eine grosse Anzahl menschlicher Wesen antreffen - tüchtig, intellektuell, gut informiert, verantwortungsvoll, gleichzeitig aber auch unzufrieden. Sie blicken fragend in die Zukunft oder sehen die Unvermeidbarkeit des Todes vor sich; sie möchten gerne zu einem umfassenderen Bewusstsein kommen und über geistige Dinge und die letzte Wirklichkeit Gewissheit erlangen. Dieser Drang nach einem umfassenderen Verstehen und Wissen zeigt sich heute in grossem Masse, und das evolutionäre Wachstum, wie es bereits besteht, hält offensichtlich weiter an; das muss auch so sein, wenn ein weiterer Bewusstseinsbereich oder -Zustand zu den bereits erreichten hinzukommen soll.

Gerade hier, an diesem Punkte, bieten alle grossen Weltreligionen dem Menschen einen Erkenntnisweg und eine Entfaltungsmöglichkeit, die das Werk der Entwicklung beschleunigen kann und wird. Dr. Otto sagt in DIE IDEE ÜBER DAS HEILIGE, dass der Mensch «durch Nachdenken und Aussprache über die Sache vermittels des eigenen Denkvermögens weitergeführt und geleitet werden muss, bis er jenen (128) Punkt erreicht, wo das "Numenon" sich in ihm zwangsweise zu regen beginnt und ins Leben und Bewusstsein tritt».

Das Wort «Numenon» stammt wie man uns sagt vom lateinischen Wort «numen» und bedeutet übernatürliche, göttliche Macht; es bedeutet «ein besonderes, nicht auf Vernunft beruhendes, religiöses Wahrnehmen oder Erfassen, sowie den Gegenstand dieser Wahrnehmung auf allen Ebenen, von den ersten, dunklen Regungen an, wo man Religion kaum als vorhanden bezeichnen kann, bis zu den höchsten Formen geistiger Erfahrung».

Sein Übersetzer, Dr. Harvey, Professor der Philosophie am Armstrong College, fügt hinzu, dass sich im Menschen ein «zunehmendes Erkennen eines Objektes, einer Gottheit entwickelt ... sozusagen eine Reaktion auf den Ansturm "des Göttlichen" auf das menschliche Denken, wie es sich unklar oder klar offenbart. Die primäre Tatsache ist die, dass das menschliche Denken vor einem Etwas steht, dessen Wesensart nur allmählich erfahren wird, das aber von Anfang an als eine transzendente Gegenwart, als das "Jenseitige" empfunden wird, auch wenn es zugleich als das "Innere" des Menschen erfühlt wird».

Durch Aufmerksamkeit dem Lebenszweck gegenüber, durch Konzentration auf das Lebenswerk, durch reges Interesse an jenen Wissenschaften, welche die Aufmerksamkeit unserer besten Denker erwecken, und durch Meditation, wie sie von einigen wenigen auf religiösem Gebiet geübt wird, sind viele an einem Punkt (129) angelangt, wo zweierlei geschieht: Die Vorstellung von etwas Heiligem, vom Sein, und von der Beziehung zu diesem Sein tritt als beherrschender Faktor in das Leben. Ausserdem beginnt dann das Denkvermögen eine neue Aktivität zu bekunden. Anstatt die von den Sinnen übermittelten Kontakte aufzuzeichnen und im Gedächtnis zu speichern und anstatt all jene Informationen aufzunehmen, die durch Bücher und das gesprochene Wort tagtäglich zukommen, wendet es sich neuer Erkenntnis zu und beginnt, neue Informationsquellen zu erschliessen. Instinkt und Intellekt haben das ihre getan; nun beginnt die Intuition ihre Rolle zu spielen.

Bis hierher hat uns die Meditationsarbeit geführt, die wir betrachtet, und wofür Gedächtnisschulung und Aufnahme von Weltwissen uns vorbereitet haben. All dies hatte seine Zeit. Für viele Tausende ist aber nun eine neue Bestrebung an der Reihe. Wäre es nicht denkbar, dass für all diese Seelen, die jetzt in die Welterfahrung hineingeboren werden, die alte Erziehungsmethode mit ihrer Gedächtnisschulung, ihren Büchern und Vorträgen, und mit ihrer Aneignung sogenannter Tatsachen unzureichend ist? Wenn ja, müssen wir für diese entweder eine neue Methode formulieren oder die jetzige Technik abändern, um so für die Neuorientierung des Denkvermögens Zeit zu gewinnen, wodurch es dem Menschen möglich wird, über mehr Wissensgebiete als bisher unterrichtet zu sein. Auf diese Weise werden wir die Wahrheit der Worte Mr. Chaplin's in seinem kleinen Buch DIE SEELE beweisen, nämlich dass «die körperlichen Prozesse ihre Bedeutung durch die Seele erlangen».

Die Eroberung des Reiches der Seelen zeichnet sich dem Menschen in undeutlichen Umrissen ab. Der Zeitpunkt, an dem das Wort Psychologie seine ursprüngliche Bedeutung wieder erlangen wird, steht nahe bevor. Die Erziehung (130) wird dann zwei Aufgaben haben. Sie wird einerseits den Menschen befähigen, seine weltlichen Kontakte mit grösstem Nutzeffekt zu handhaben und jenen Apparat intelligent zu gebrauchen, den zu erklären die Behavioristen sich so angestrengt haben; und sie wird ihn andererseits auch in jenes Reich einführen, von dem die Mystiker stets gezeugt haben und zu dem das richtig benützte Denkvermögen der Schlüssel ist.

Im vorigen Kapitel befassten wir uns mit der Methode, nach welcher der Mensch die Beherrschung seines Instrumentes, des Denkvermögens, beginnen und lernen kann, seine Gedanken auf ein gewähltes Thema oder auf eine Idee so zu konzentrieren, dass er alle äusseren Begriffsinhalte ausschalten und das Tor zur Erscheinungswelt vollkommen abschliessen kann. Wir werden nun erwägen, auf welche Art und Weise er sein konzentriertes Denken immer höher bringen kann (um in Ausdrücken der Mystiker zu sprechen), bis selbst das Denkvermögen versagt und er auf einem Gedankenhöhepunkt angelangt ist, von wo aus eine neue Welt erschaut werden kann. Der bis zu diesem Stadium fortgeschrittene Meditationsprozess war von intensiver Aktivität erfüllt, und es gab keinen Zustand der Ruhe, Negativität oder passiven Empfänglichkeit. Der physische Körper war vergessen und das Gehirn in einen Zustand positiver Empfangsbereitschaft versetzt worden, jederzeit aber zu neuer Tätigkeit bereit, falls das Denken seine Aufmerksamkeit wiederum abwärts wenden würde. Wir dürfen nicht vergessen, dass wir beim Gebrauch solcher Worte, wie «aufwärts», «abwärts», «abwärts» und «tiefer» in Symbolen sprechen. Eines der ersten Dinge, die ein Mystiker lernt, ist, dass im Bewusstsein keine Dimensionen existieren und dass «innen» und «aussen», «höher» und «tiefer» nur bildliche Redewendungen (131) sind, um gewisse Ideen über klar erkannte Gewahrseinszustände anzudeuten.

Der nun erreichte Höhepunkt bringt uns an die Schwelle des Transzendentalen, und von jetzt an gehen wir auf dem Boden der Hypothese weiter. Das Berührbare und das Objektive sinken zeitweilig in Vergessenheit und beschäftigen nicht länger unsere Aufmerksamkeit; auch Empfindung irgendwelcher Art ist nicht mehr unser Ziel. Jede Art Gefühl muss während dieser Zeit ausgeschaltet sein. Kleine Verdriesslichkeiten und dergleichen, ebenso Kummer und Sorgen werden vergessen, desgleichen auch Freude, denn wir suchen nicht die «Tröstungen der Religion». Die Aufmerksamkeit konzentriert sich im Denkvermögen, und die einzigen wahrgenommenen Reaktionen sind mentaler Art. Während der «Meditation mit einem Saatgedanken» oder einem Objekt hat das Denken das Bewusstsein beherrscht, jetzt aber muss sogar das verschwinden. Ein mystischer Schriftsteller drückt es so aus: «Wie soll ich das Denken aus dem Denkvermögen entfernen?» Denn da mein angestrebtes Ziel weder Empfindung noch Gefühl ist, ist es auch nicht das Denken. Hier liegt das grösste Hindernis für die Erlangung von Intuition und für den Zustand der Illumination. Es wird nicht mehr der Versuch gemacht, im Denkvermögen dauernd etwas festzuhalten, noch gibt es überhaupt etwas, das gründlich durchdacht werden soll. Vernunftschlüsse müssen beiseite gelassen werden, und die Ausübung einer höheren und bisher wahrscheinlich ungewohnten Fähigkeit muss an deren Stelle treten. Der Saatgedanke hat unsere Aufmerksamkeit in Anspruch genommen und unser Interesse erweckt, und dies hielt bis zur Überleitung in die Phase der Konzentration an. Diese verlängert sich in der Folge zur Kontemplation, deren Resultat die Erleuchtung ist. Hier haben wir eine kurze Zusammenfassung des ganzen Vorganges Anziehung (Attraktion), Interesse, (132) konzentrierte Aufmerksamkeit und fortgesetzte, auf ein einziges Ziel gerichtete Betrachtung oder Meditation.

Worin bestehen nun die Resultate des Meditationsvorganges bis jetzt? Man kann sie wie folgt aufzählen:

1. Reorganisation des Denkvermögens und dessen neue geistige Einstellung.

2. Konzentration der menschlichen Aufmerksamkeit auf die Gedankenwelt anstatt auf die Empfindungswelt; der Anziehungskraft durch die Sinne wird der Boden entzogen.

3. Entwicklung der Fähigkeit, sich als Vorbereitung zur Meditation augenblicklich konzentrieren zu können und dann das Denkvermögen unverrückbar auf den erwählten Gegenstand konzentriert zu halten. Evelyn Underhill definiert diese Fähigkeit wie folgt:

«Wenn die vollkommene Konzentration, diese leidenschaftliche Einstellung des Selbstes auf einen einzigen Punkt, in der Einheit des Geistes und in den Banden der Liebe' auf reale und übersinnliche Dinge angewandt wird, dann stellt sie in der technischen Sprache der Mystik den Zustand der Meditation oder Sammlung dar und ... ist die notwendige Vorstufe zur reinen Kontemplation».

III. DAS STADIUM DER KONTEMPLATION

Wir betreten jetzt einen Erkenntnisbereich, der durch zwei Dinge sehr beeinträchtigt wird: durch die Verwendung von Worten, die der Ausdrucksverleihung Grenzen setzen und sie verzerren, sowie durch die Schriften der Mystiker selbst, die obschon sie voller Wunder und Wahrheit sind vom Symbolismus ihrer Rasse und ihres Zeitalters, sowie von der Qualität ihrer Gefühle und ihrer Emotion (133) individuell beeinflusst sind. Die Mystiker schwanken in der Regel zwischen Momenten höchster Erleuchtung oder Vision und den «nebligen Niederungen» intensiven Fühlens und Verlangens hin und her. Entweder erfahren sie die tiefe Freude und Ekstase der nur einen flüchtigen Augenblick dauernden Anschauung, oder die Pein des Wunsches nach Fortsetzung dieses Erlebnisses. In den meisten Fällen scheint es kein Gefühl der Sicherheit oder Gewissheit für eine Wiederholung zu geben, sondern nur ein Sehnen nach einem solchen Grad von Heiligkeit, dass dieser Zustand immer währen möchte. Auf Grund der uralten Praxis und ordnungsmässigen Meditation, die uns in letzter Zeit aus dem Osten zukam, scheint es möglich zu sein, dass man durch die Kenntnis der Methode und durch ein Verstehen des Vorganges sogar über die mystische Erfahrung hinausgelangen und Wissen über göttliche Dinge, sowie Einswerden mit der innewohnenden Gottheit nach Belieben erlangen kann. Die Menschenrasse besitzt nun die notwendige mentale Ausrüstung und kann dem Weg des Mystikers den des bewussten Intellektuellen hinzufügen.

Zwischen dem Zustand verlängerter Konzentration, den wir Meditation nennen, und dem der Kontemplation, der einer gänzlich verschiedenen Kategorie angehört, gibt es ein Übergangsstadium, das von den orientalischen Studenten «Meditation ohne Saatgedanken» oder «ohne Gegenstand» genannt wird. Es ist noch nicht Kontemplation; es ist aber auch kein Gedankenprozess mehr. Dieser ist vorbei, während das nachfolgende Stadium noch nicht erreicht wurde. Es ist eine Periode gedanklicher Beständigkeit und des Wartens. Fr. Nouet beschreibt diesen Zustand vielleicht ebenso gut wie jeder andere mit folgenden Worten:

(134) «Wenn der Betende in der Meditation beträchtliche Fortschritte gemacht hat, geht er unmerklich auf Gefühlsgebet über, das zwischen Meditation und Kontemplation liegend, wie das Morgengrauen zwischen Nacht und Tag von beiden etwas besitzt. Anfänglich enthält es noch mehr von der Meditation, DENN ES BENUTZT NOCH IMMER VERNUNFTERKENNTNIS; ... nachdem es aber durch verlängerte Betrachtung und logisches Denken viel Licht erlangt hat, dringt es sogleich in den Gegenstand (der Betrachtung) ein und erschaut OHNE SCHWIERIGKEIT DESSEN GESAMTE ENTWICKLUNGEN. ... Von da ab lässt es in dem Masse wie es sich vervollkommnet das logische Denken beiseite». ..., Bd. IV, Kap. 1.

Wie wir gesehen haben, kann man die Unbeständigkeit der sich schnell bewegenden und feinfühlig reagierenden mentalen Substanz durch verlängerte Meditation in einen stabilen Zustand bringen. Dies führt zu einem Denkzustand, der den Denker für Schwingungen und Kontakte aus der äusseren Erscheinungswelt und aus der Welt der Emotionen unempfänglich, und dadurch den Sinnenapparat, das Gehirn und das weitverzweigte ineinandergreifende Netzwerk, das wir Nervensystem nennen, passiv macht. Die Welt, in welche der, Mensch für gewöhnlich funktioniert, ist ausgeschaltet und doch bewahrt er gleichzeitig eine intensive mentale Aufmerksamkeit und behält eine scharfe Einstellung auf jene neue Welt bei, (135) in der das, was wir Seele nennen, lebt und wirkt. Der wahre Meditationsstudent lernt es, mental hell wach zu sein und Phänomene, Vibrationen und Seinszustände kraftvoll wahrzunehmen.

Er ist positiv, tätig und voll Selbstvertrauen; Gehirn und konzentriertes Denkvermögen arbeiten harmonisch zusammen. Er ist nicht mehr der unpraktische Träumer, und doch wird die Welt praktischer, physischer Dinge zeitweilig ausgeschaltet. Wenn der Studierende von Natur aus kein positiver, mentaler Typus ist, sollte ein ernstes, beharrliches, intellektuelles Training (zur Erlangung mentaler Aufgewecktheit und Polarisation) samt praktischer Meditation aufgenommen werden, da sonst der Fortgang auf das Niveau emotioneller Träumerei oder negativer Leere absinken würde. Beide Zustände bringen die ihnen eigenen Gefahren mit sich und führen bei längerer Dauer dazu, den Menschen unpraktisch und für die täglichen Angelegenheiten unfähig und untüchtig zu machen. Sein Leben wird für ihn selbst und für andere immer nutzloser werden; er wird sich immer mehr in unkontrollierten, unvernünftigen Phantasien und emotionellen Schwankungen verlieren. Auf solchem Boden gedeiht dann leicht Egoismus und Psychismus.

Das positive, wachsame und gut kontrollierte Denkvermögen wird daher auf den Flügeln der Gedanken vorwärtsgetragen und dann stetig auf dem höchsten erreichbaren Punkt gehalten. Dadurch wird im Denkvermögen ein Zustand geschaffen, der dem im Gehirn bereits hergestellten analog ist. Es wird in einem Zustand der Erwartung gehalten, während das Bewusstsein des Denkers sich einem neuen Erkenntniszustand zuwendet und der Denker sich nicht dem wahren, inneren und geistigen Menschen identifiziert. Das, was technisch «wahrnehmendes Bewusstsein» genannt wird, wartet.

Diese beiden Meditationsstadien, das eine intensive Tätigkeit, das andere intensives Warten, wurden die Situation Martha's und Maria's genannt; durch diese bildliche Ausdrucksweise wird die Idee etwas klarer. Eine Periode der Stille, während der sich innerlich (136) etwas vollzieht, und vielleicht der am schwersten zu meisternde Teil der Technik. Es ist so leicht, in die intellektuelle Aktivität, die zur gewöhnlichen Meditation gehört, zurückzugleiten, denn man hat Kontemplation noch nicht gelernt. Dr. Bennett beschreibt dieses Stadium in einigen Kommentaren über Ruysbroek; er sagt:

«Ruysbroek unterscheidet hier zwei Merkmale ,wahrer, Passivität: erstens wird sie "aktiv gesucht", das heisst, zu ihrer Aufrechterhaltung ist eine gewisse Anstrengung notwendig. Zweitens unterscheidet sie sich von der natürlichen oder automatischen Art von Entspannung durch die vorhergehende moralische Vorbereitung. ... Dieses erzwungene Warten, diese selbst auferlegte Empfänglichkeit das entscheidende Merkmal des Kontemplationsstadiums ist nicht das Ende der Laufbahn eines Mystikers; es ist wohl das Ende seiner Anstrengungen in dem Sinne, dass er mehr nicht tun kann; aber es ist dazu bestimmt, dem Stadium der Ekstase Platz zu machen, wenn die Dinge dem Menschen aus den Händen genommen werden und er zum Instrument einer Macht wird, die grösser als er selbst ist. Bleibe standhaft in dir selbst, bis du ohne dein Dazutun aus dir herausgezogen wirst».

Später spricht der Verfasser in demselben Kapitel von der atemlosen Aufmerksamkeit, dem hart erkämpften und schwer ertragenen Warten auf göttliche Offenbarung. Patanjali, der alte Weise Indiens, meint das gleiche, wenn er sagt, dass, wenn «der Denkstoff in das absorbiert wird, was die Realität (oder dich in der Form verkörperte Idee) darstellt und von einem Getrenntsein oder vom persönlichen Selbst nichts weiss», dies den Menschen in das Stadium der Kontemplation bringt und er in das Bewusstsein der Seele eintritt. Er entdeckt, dass es zu allen Zeiten die Seele war, die ihn zur Vereinigung mit ihr selbst lockte. Wie aber? Ein anderer Hindu-Lehrer sagt, (137) dass «die Seele die Mittel dazu besitze. Das Denkvermögen ist dieses Hilfsmittel. Wenn es seine Aufgabe als Befreier erfüllt hat, hat es das Seine getan und stellt seine Tätigkeit ein».

In der Kontemplation kommt ein höherer Wirkungsfaktor hinzu. Es ist DIE SEELE, DIE KONTEMPLIERT. Das menschliche Bewusstsein stellt seine Tätigkeit ein und der Mensch wird, was er in Wirklichkeit ist eine Seele, ein Fragment der Göttlichkeit, seines wesentlichen Einsseins mit der Gottheit bewusst. Das Höhere Selbst wird aktiv, und das niedere, oder persönliche Selbst ist vollkommen ruhig und still, während die wahre geistige Wesenheit in ihr eigenes Reich kommt und die Kontakte wahrnimmt, die von diesem geistigen Phänomenalreich ausstrahlen.

Die Welt der Seele wird als Wirklichkeit erfahren und gesehen; die übersinnlichen (transzendentalen) Dinge werden als Tatsachen in der Natur erkannt; das Einssein mit der Gottheit wird ebenso klar als Tatsache im natürlichen Entwicklungs-Verlauf erkannt, wie es die Vereinigung des Lebens im physischen Körper mit diesem Körper ist.

Das Bewusstsein des Menschen ist daher nicht mehr in diesem wartenden Denkvermögen konzentriert, sondern ist über das Grenzland in das Reich des Geistes hinübergeglitten und der Mensch wird buchstäblich zur Seele, die auf ihrer eigenen Ebene funktioniert und «die Dinge des Reiches Gottes» wahrnimmt; die imstande ist, Wahrheit aus erster Hand zu ermitteln und in voll erwachtem Bewusstsein um ihr eigenes Wesen, ihre Vorrechte und Gesetze weiss. Während der wahre, spirituelle Mensch in dieser Weise in seinem wirklichen Rang und in seiner richtigen Welt tätig ist, werden das Denkvermögen und das Gehirn ruhig und positiv, auf die Seele ausgerichtet gehalten, und entsprechend der Leichtigkeit, mit der dies geschieht, ist auch die Fähigkeit, das von der (138) Seele Wahrgenommene zu registrieren und zu verstehen.

In der Meditation bemühen wir uns, Eindrücke vom innewohnenden Gott, dem Höheren Selbst, zu empfangen und dem physischen Gehirn über das Denkvermögen zuzuleiten. In der Kontemplation treten wir in einen höheren Zustand ein und bemühen uns, dem physischen Gehirn das zu übermitteln, was die SEELE SELBST WAHRNIMMT, wenn sie nach aussen blickt und die neuen Wahrnehmungsgebiete betrachtet.

Beim Durchschnittsmenschen beschäftigt sich die Seele (als wahrnehmender Beobachter) mit den drei Welten menschlicher Bestrebungen und blickt daher auf den physischen, emotionellen und mentalen Seinszustand. Die Seele identifiziert sich äonenlang mit jenen Formen, durch die ein Kontakt hergestellt werden muss, wenn die niederen Bewusstseinszustände erfahren werden sollen. Wenn der Mensch später die Herrschaft über das Denkvermögen erlangt hat und in der Lage ist, dieses der Seele als Übermittlungs-Instrument anzubieten, kann sich auch ein ungeheures Gebiet geistiger Wahrnehmung entfalten. Die Seele kann dann ihrerseits zum Vermittlungs-Organ werden, und kann über das Denkvermögen, und von diesem zum physischen Gehirn einige Erkenntnisse und Grundideen des Geist-Aspektes weitergeben. Studierende würden gut daran tun, sich die Worte aus der Geheimlehre (Secret Doctrine) ins Gedächtnis zu rufen:

«Materie ist das äussere Medium für das Offenbarwerden von Seele auf dieser Daseinsebene, und die Seele das Manifestations-Instrument des Geistes auf einer höheren Ebene; diese drei bilden eine Dreiheit, die durch die Lebensenergie, die sie alle durchdringt, zur Einheit verbunden ist».

Das ist in der akademischen Sprache des Okkultisten die Erkenntnis des Mystikers. Kardinal Richelieu (139) nennt Kontemplation jenen Zustand, «in dem der Mensch Gott sieht und erkennt, ohne die Vorstellungskraft zu benützen und ohne logische Folgerungen zu ziehen»; Tauler drückt dies wie folgt aus:

«Gott wünscht in den höheren Fähigkeiten im Gedächtnis, im Intellekt und im Willen zu verweilen und in diesen nach göttlicher Art und Weise zu wirken. Das ist Sein wahrer Aufenthaltsort, Sein Tätigkeitsfeld; gerade da findet er Sein Ebenbild. Hier müssen wir Ihn suchen, wenn wir Ihn auf dem kürzesten Wege zu finden wünschen. Dann wird der Geist hoch über allen Fähigkeiten in die Leere unendlicher Einsamkeit versetzt, von der kein Sterblicher in angemessenen Begriffen sprechen kann. ... Wenn diese Menschen dann wieder zu sich kommen, finden sie sich im Besitze eines ganz klaren Wissens über Dinge, das lichtvoller und vollkommener ist als das Wissen anderer».

Kontemplation wurde als ein psychischer Torweg beschrieben, der von einem Bewusstseinsstadium zum anderen führt. Jeremy Taylor nennt ihn den «Übergang von intensiver Meditation zu jener Kontemplation, die zur Vision der Wunder Gottes kommt, wenn die menschliche Seele in das Reich göttlichen Lichtes eintritt». 39 François Maleval, der im siebzehnten Jahrhundert lebte und schrieb, drückt das sehr schön aus; er sagt:

«Dieser Akt (Kontemplation) ist auch vollkommener als logisches Denken, weil beim logischen Denken die Seele spricht, während sie sich bei diesem Akt erfreut. Logisches Denken (Folgern) ... überzeugt die Seele durch seine Prinzipien, hier aber wird die Seele eher erleuchtet als überzeugt, sie sieht und erlebt eher, als dass sie untersucht. Logisches Denken befasst sich mit der Betrachtung eines Wortes, eines Lehrsatzes, eines Gespräches; dieses einfache Anschauen Gottes aber, (140) das alles Vernunftdenken als überholt und bekannt annimmt, betrachtet seinen Gegenstand in Gott selbst».

Durch diesen Torweg der Vision geht der Mensch und erkennt sich als die Seele. Von dem überlegenen Standpunkt der Seele aus erkennt er sich als den Beobachter, der sowohl die Welt geistiger Wirklichkeiten als auch die Welt täglicher Erfahrung wahrnehmen kann; wenn er es wünscht, kann er in beide Richtungen blicken.

Das Problem besteht nun darin, die gleiche Leichtigkeit der Wahrnehmung, wie wir sie auf den weltlichen Ebenen erlernt haben, auch auf den geistigen Ebenen zu erlangen; und einer der wichtigsten Punkte, den man dabei beachten muss, ist, dass in beiden Fällen die Dreiheit von Seele, Denken und Gehirn ihre Rolle spielen muss, aber mit einer anderen Einstellung und Aufmerksamkeit. Das Problem wird also einfach zu einer Frage konzentrierter Einstellung. Das Gehirn ist in einer praktisch unterbewussten Art den Instinkten und Gewohnheiten gegenüber tätig, die unser Leben und unsere Wünsche auf der physischen Ebene leiten. Durch richtige Erziehung lernt es nun, auch gegenüber Eindrücken vom Denkvermögen empfänglich zu werden; anstatt nur ein Registrier- oder Berichtsapparat für Sinneswahrnehmungen und Gefühle zu sein, lernt es auf Gedankeneindrücke zu reagieren. Das Denkvermögen wiederum besitzt die instinktive Neigung, alle von aussen kommenden Informationen aufzunehmen, kann aber in der Empfänglichkeit der Seele gegenüber und darin geschult werden, die von dieser höheren Quelle kommenden Informationen zu registrieren. Mit der Zeit können wir die Gewandtheit und Übung erlangen, sowohl das Gehirn (141) als auch das Denkvermögen aktiv oder passiv zu benutzen, und ein vollkommenes Zusammenspiel zwischen diesen beiden, ja schliesslich ein solches zwischen der Seele, dem Denkvermögen und dem Gehirn zustandebringen. Wir können nun all das, was in den betrachteten drei Stadien geschah, in die Worte Patanjalis zusammenfassen:

«Die schrittweise Bezwingung (das ist Konzentration) der Tendenz des Denkvermögens, von einem Objekt zum andern zu schweifen, und die Kraft der Konzentration auf ein einziges Ziel (das ist Meditation) bewirken die Entfaltung der Kontemplation».

Wenn diese drei Stadien gleichzeitig durchgeführt werden, ist wie uns gesagt wird «diese dreifache Kraft der Aufmerksamkeit, Meditation und Kontemplation weit innerlicher (geistgemässer) als die vorher beschriebenen Mittel geistigen Wachstums». Es ist interessant, dass Maleval in seiner zweiten Abhandlung, Gespräch III das gleiche sagt, denn er verbindet Glaube, Meditation und Kontemplation zu einem synthetischen Akt. Die Wissenden des Ostens wie auch des Westens denken also ähnlich.

Kontemplation wurde von Evelyn Underhill in ihrem äusserst nützlichen Buch «Mystik» als «die Pause zwischen zwei Aktivitäten» erklärt. Während dieser Pause wird eine neue Erkenntnis und Seinsweise eingeführt. Dies ist vielleicht einer der einfachsten und praktischsten Wege, um Kontemplation zu verstehen. SIE IST DIE PAUSE, IN DER DIE SEELE TÄTIG IST. Dieser Tätigkeit der Seele geht das voraus, was wir ein aufwärts gerichtetes Vorgehen nennen könnten. Das physische Gehirn ist in Ruhe versetzt und darin beständig gehalten worden; der Gefühls- oder Empfindungsapparat wurde gleicherweise beruhigt und die Registrierung von Informationen aus seinem gewöhnlichen Wahrnehmungsgebiet (142) wurde ihm nicht länger gestattet; das Denkvermögen wurde auf das Licht, das aus dem Reiche der Seele flutet, konzentriert und energisch passiv gehalten. Wir verweigern jeglicher Mitteilung aus der Welt der gewöhnlichen Phänomene den Durchgang. Das kam durch rechte Konzentration und Meditation zustande. Danach folgt die Pause (oder das Zwischenspiel), in welcher der Mensch sich als die Seele erkennt, die im Ewigen weilt, frei von den Begrenzungen der Form. Diese Zwischenphase ist notwendigerweise zuerst kurz, verlängert sich jedoch entsprechend dem Fortschritt in der Kontrolle. Den Schlüssel zum ganzen Vorgang bildet die aufrechterhaltene Konzentration und Aufmerksamkeit des Denkvermögens, «während die Seele, der geistige Mensch, der Wahrnehmende, kontempliert».

In einem früheren Buche habe ich mich ausführlich mit dem Gebrauch des Denkvermögens als dem Instrument der Seele befasst und will hier einen Absatz daraus wiederholen:

«Es sollte indes klar sein, dass der Beobachter auf seiner eigenen Ebene schon immer dessen gewahr war, was jetzt erkannt wird. Der Unterschied liegt in der Tatsache, dass das Instrument, das Denkvermögen, sich nun unter Kontrolle befindet. Dem Denker ist es daher möglich, das Gehirn über das kontrollierte Denkvermögen - mit dem, was wahrgenommen wird, zu beeindrucken. Der Mensch auf der physischen Ebene nimmt gleichzeitig auch wahr, so dass wahre Meditation und Kontemplation zum ersten Male möglich werden. Anfangs wird dies nur für einen Augenblick der Fall sein. Ein Aufblitzen intuitiver Wahrnehmung, ein Augenblick der Vision und Erleuchtung, und alles ist wieder vorbei. Das Denkvermögen fängt wieder an, neue Formen zu bilden und eifrig tätig zu werden, die Vision ist dem Blickfeld entschwunden, der hohe Augenblick vorbei und das Tor in das Seelenreich scheint sich plötzlich wieder geschlossen zu haben. Und doch wurde Zuversicht gewonnen; ein Schimmer der Wirklichkeit wurde vom Gehirn erfasst und die Garantie künftiger Vollendung erkannt».

(143) Die zweite Aktivität betrifft eine zweifache Funktion des Denkvermögens. Nachdem es stetig im Licht gehalten wurde, berichtet und registriert es nun die Ideen, Eindrücke und Gedanken, die ihm durch die kontemplierende Seele mitgeteilt wurden, formuliert sie zu Worten und Sätzen, baut sie zu Gedankenformen aus und konstruiert klare mentale Vorstellungen! Daraus ergibt sich die Notwendigkeit eines guten mentalen Apparates. Ein geschultes Denkvermögen, ein gut gerüstetes Gedächtnis und eine sorgfältig gepflegte Denkweise erleichtern der Seele sehr die Gewinnung unverfälschter Berichte und eine genaue Registrierung ihrer Erkenntnis. Dieser mentalen Tätigkeit folgt dann die Übertragung der gewonnenen Mitteilung auf das wartende, ruhende Gehirn.

Wenn die Seele gelernt hat, ihr Instrument mit Hilfe des Denkvermögens und des Gehirns zu leiten, wird zwischen den beiden in zunehmendem Masse ein direkter Kontakt und eine Wechselwirkung möglich und immer stärker, so dass der Mensch sein Denken nach Belieben auf irdische Angelegenheiten richten und ein tüchtiges Mitglied der menschlichen Gesellschaft sein, oder es himmlischen Dingen zuwenden und in seinem wahren Wesen als Sohn Gottes funktionieren kann. Wenn dies der Fall ist, benützt die Seele das Denkvermögen als Vermittler, und das physische Gehirn wird geschult, für das, was übertragen wird, empfänglich zu sein. Der wahre Sohn Gottes kann in beiden Welten zugleich leben; er ist Bürger der Welt und des Reiches Gottes. Ich kann dieses Kapitel nicht besser beschliessen, als mit einigen Worten Evelyn Underhill's:

«Das volle geistige Bewusstsein des wahren Mystikers ist nicht nach einer, sondern nach zwei scheinbar entgegengesetzten, (144) doch in Wirklichkeit sich ergänzenden Richtungen entwickelt. ... Einerseits ist er sich dieser aktiven Welt des Werdens, dieses tiefen und ursprünglichen Lebens des Alls, aus dem sein eigenes Leben entsprungen ist, intensiv bewusst und weiss sich eins mit ihm.

Daher hat für ihn, wenn er sich auch für immer vom Joch der Sinne befreit hat, jede Offenbarung des Lebens einen sakramentalen Sinn; er sieht in ihr eine Lieblichkeit, ein Wunder, eine erhöhte Bedeutung, die anderen Menschen verborgen ist ...

«Andererseits erreicht das volle mystische Bewusstsein das, was ich für eine wirkliche charakteristische Eigenschaft halte. Es entwickelt die Gabe, das Absolute, das Reine Sein, das schlechtweg Transzendente, zu erfassen. ... Diese allseitige Ausdehnung des Bewusstseins mit seinem doppelten Vermögen, durch unmittelbare Vereinigung sowohl den zeitlichen wie den ewigen, den immanenten wie den transzendenten Aspekt der Wirklichkeit zu erkennen ... ist das besondere Kennzeichen, das ULTIMO SIGILLO des grossen Mystikers ... »

Als nächstes wollen wir die Ergebnisse dieser zweifachen Tätigkeit und mühelosen Wechselwirkung betrachten. Die Intuition beginnt sich zu betätigen; Erleuchtung wird erlebt, und das Leben der Inspiration muss in seinen vielen charakteristischen Eigenarten studiert werden. Das wollen wir im nächsten Kapitel versuchen.