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Zweites Kapitel - Der Zweck der Erziehung

Zweites Kapitel

Der Zweck der Erziehung

« ... Erziehung erfährt wichtige Umbildungen. Von einem relativ äusserlichen Vorgang des Eintrichterns von Tatsachen entwickelt sie sich immer mehr zu einem Herausholen tieferer, fruchtbarerer Möglichkeiten, die im Individuum vorhanden sind».

H. A. Overstreet.

(21)

Einer der vielen Faktoren, der die Menschheit auf ihre jetzige Entwicklungsstufe gebracht hat, war die Zunahme und Vervollkommnung ihrer Erziehungsmethoden und -Systeme. Diese lagen zuerst in den Händen der organisierten Religionen, sind aber jetzt praktisch der Kontrolle dieser religiösen Körperschaften entzogen und unterstehen dem Staate. In der Vergangenheit wurde die Erziehung weitgehend von der Theologie beeinflusst, und deren Methoden wurden von Kirchenmännern und Priestern bestimmt. Heute wird der umfangreiche Lehrkörper durch den Staat geschult; jede religiöse Tendenz wird wegen der vielen verschiedenen Religionsgemeinschaften ausgeschaltet und der Unterricht ist fast gänzlich materialistisch und wissenschaftlich. In der Vergangenheit umfasste die Erziehung im Osten wie auch im Westen die höher entwickelten Glieder der menschlichen Gesellschaft. Heute herrscht die Massenerziehung vor. Diese beiden Faktoren müssen im Auge behalten werden, wenn wir die zukünftige und - wie wir glauben - höhere Erziehung untersuchen und verstehen wollen, denn nur durch die Synthese beider Methoden - Einzel- und Massenerziehung - religiös und wissenschaftlich - wird der Ausweg gefunden werden.

Wie alles in dieser Übergangsperiode befinden sich auch unsere Erziehungssysteme in einem Zustande ständigen (22) Wechsels und Wandels. Mit dem allgemeinen Empfinden, dass für die Hebung des menschlichen Denk-Niveaus bereits viel getan wurde, macht sich aber überall auch ein tiefes, aus dem Unterbewusstsein kommendes Gefühl der Unzufriedenheit mit den erzielten Erfolgen bemerkbar. Wir fragen uns, ob unsere Erziehungssysteme auch tatsächlich das Beste für alle leisten. Wir würdigen den ungeheueren Fortschritt während der letzten zweihundert Jahre, bezweifeln aber, ob wir vom Leben auch ebenso viel herausbekommen, wie dies für Leute mit einer entsprechenden Schulung möglich sein sollte. Wir sind ja so selbstzufrieden mit unseren zunehmenden Kenntnissen, mit unserer Anhäufung von Wissen und unserer Beherrschung der Naturkräfte, und doch führen wir akademische Debatten darüber, ob wir eine wahre Kultur haben. Wir lehren unsere Kinder, eine ungeheure Menge Tatsachen und Einzelheiten im Gedächtnis zu behalten, und doch fragen wir uns manchmal, ob wir sie auch lehren, befriedigender zu leben. Wir wenden für den Bau und die Ausstattung von Universitäten und Hochschulen Milliardenbeträge auf und doch sind unsere weitsichtigsten Erzieher ernstlich besorgt, ob diese organisierte Erziehung wirklich den Bedürfnissen des Durchschnittsbürgers entspricht. Gewiss scheint sie beim aussergewöhnlichen Kind und beim begabten Menschen ihre Aufgabe zu verfehlen. Unsere Art der Jugenderziehung steht entschieden vor einer neuen Wertbeurteilung. Nur die Zukunft kann entscheiden, ob nicht ein Ausweg gefunden werden muss, damit die Kultur des Individuums sich zugleich mit der durch Erziehung erreichten Zivilisation der Massen entfalten kann.

Im Zeitalter wissenschaftlicher Vervollkommnung und Gedankensynthese (23) auf jedem Gebiete menschlicher Erkenntnis sagt Dr. Rufus M. Jones, einer unserer Erzieher:

«Leider aber macht uns keine dieser Errungenschaften zu besseren Menschen. Es gibt keine Gleichung zwischen Bankkonten und Herzensgüte. Wissen ist keineswegs dasselbe wie Weisheit oder Geistesadel. ... Nie zuvor hat die Welt eine solche riesige Armee von Erziehern der Landjugend gesehen, nie zuvor gab es in der Weltgeschichte solche grosszügige Zuwendungen für niedere und höhere Erziehung. Die Gesamtwirkung aber enttäuscht und verfehlt ihr Ziel.

Unsere Lehranstalten bringen einige gute Akademiker hervor und bieten einer grossen Anzahl von Studierenden eine Fülle wissenschaftlicher Tatsachen; in den wesentlichen Belangen der Erziehung aber, die in Charakterbildung, in der Kultivierung des Geistes und der Heranbildung der Seele besteht oder bestehen sollte, macht sich ein klägliches Versagen bemerkbar».

Die alten Mütter Asien und Europa schulten und kultivierten bis in das achtzehnte Jahrhundert den Einzelmenschen. Den sogenannten oberen Klassen und jenen Menschen, die für geistige Kultur eine ausgesprochene Befähigung zeigten, wurde eine gründliche Erziehung zuteil. Unter dem brahmanischen System des Ostens und in den Klöstern des Westens wurde jenen, die daraus Vorteil ziehen konnten, eine Spezialausbildung gegeben, so dass sich aussergewöhnliche Persönlichkeiten entfalteten, die dem menschlichen Denken bis in die heutige Zeit ihr Gepräge gaben. Unsere moderne restliche Welt hat dagegen die Massenerziehung eingeführt. Zum ersten Mal wird den Menschen zu Tausenden der Gebrauch ihres Denkvermögens gelehrt; sie beginnen, ihre eigenen Individualitäten (24) geltend zu machen und sich ihre eigenen Ideen zu bilden. Die Freiheit menschlichen Denkens, die Befreiung von der Herrschaft religiöser oder wissenschaftlicher Theologien ist der Schlachtruf der Gegenwart, und es wurde dadurch viel gewonnen. Die Massen beginnen selbst zu denken. Es ist dies aber grösstenteils ein Massendenken, und so wie früher die Theologen die Meinung beeinflussten, so formt jetzt die jeweilige öffentliche Meinung das Denken. Dem bahnbrechenden Individuum begegnen in der gegenwärtigen Welt beim Durchsetzen seiner Gedanken und Bestrebungen genau so grosse Schwierigkeiten wie früher.

Vielleicht sollten wir in der Umdrehung des grossen Lebensrades wieder zu den alten Methoden einer Spezialausbildung für das geeignete Individuum zurückkehren, was aber nicht das Aufgeben der Massenerziehung bedingt. Auf diese Weise könnten wir schliesslich die Methoden der Vergangenheit und des Ostens mit denen der Gegenwart und des Westens vereinigen.

Bevor wir auf diese beiden Methoden näher eingehen, wollen wir Erziehung zu definieren versuchen, uns ihren Zweck vor Augen halten und so unsere Vorstellungen über die angestrebten Ziele all unserer Bemühungen klären.

Das ist keine leichte Aufgabe. Erziehung kann von ihrer uninteressantesten Seite aus gesehen kurz als Übermittlung von Wissen an einen Studenten, gewöhnlich an einen unwilligen Studenten, erklärt werden, der eine Masse Wissen, das ihn nicht im geringsten interessiert, erhält. Nüchternheit und Trockenheit herrschen vor. Diese Art der Wissensdarbietung befasst sich nach unserem Empfinden hauptsächlich mit Gedächtnisschulung, mit der Mitteilung (25) sogenannter Tatsachen und damit, dass dem Studenten einige Informationen über eine grosse Anzahl untereinander nicht verwandter Gegenstände gegeben werden. Die buchstäbliche Bedeutung des Wortes aber ist: «hinausführen» oder «herausziehen» und diese ist sehr aufschlussreich. Der dieser Idee zugrunde liegende Gedanke ist der, dass wir die dem Kinde innewohnenden Instinkte und entwicklungsfähigen Anlagen herausziehen sollten, um es aus einem Bewusstseinszustand heraus und in einen anderen, umfassenderen zu führen. Auf diese Art leiten wir z. B. Kinder, die bloss wissen, dass sie leben, in einen Zustand des Eigenbewusstseins; sie werden ihrer selbst und ihrer Gruppenbeziehungen gewahr; sie werden - besonders durch Berufsschulung - gelehrt, Kräfte und Fähigkeiten zu entwickeln, damit sie wirtschaftlich unabhängig und somit selbstständige Mitglieder der menschlichen Gesellschaft werden können. Wir nützen ihre Selbsterhaltungsinstinkte aus, um sie auf dem Pfad des Wissens zu führen. Kann man sagen, dass wir mit der Nutzbarmachung ihres Instinktapparates deshalb beginnen, um sie auf dem Weg des Intellekts zu führen? Vielleicht ist das der Fall, doch bezweifle ich, ob wir - wenn wir sie so weit gebracht haben - das gute Werk weiterführen und sie die richtige Bedeutung der Intellekt-Entfaltung als eine Schulung zur Auslösung der Intuition lehren. Wir unterweisen sie, Instinkt und Intellekt als Teil des Selbsterhaltungsapparates in der äusseren Welt menschlicher Angelegenheiten zu gebrauchen, die Anwendung der reinen Vernunft aber und die schliessliche Beherrschung des Denkvermögens durch die Intuition für die Selbsterhaltung und Kontinuität des Bewusstseins in den subjektiven und wirklichen Welten ist bis jetzt nur das bevorrechtigte Wissen einiger weniger Wegbereiter.

(26) Wenn Professor H. Wildon Carr mit seiner Definition der Intuition recht hat, dann führen unsere Erziehungsmethoden nicht zu deren Entfaltung. Er definiert sie als «das direkte Erfassen der Wirklichkeit (Realität) an sich durch das Denkvermögen, also nicht in Form einer unbewussten Vorstellung, auch nicht als Idee oder Gegenstand einer Überlegung, denn diese letzteren betreffen nur das intellektuelle Begreifen».

Wir betrachten die Wissenschaft des Denkens oder der Veränderungen des Denkprinzips (wie der Hindu es nennt) als ausgesprochen menschlich und zählen die instinktiven Reaktionen des Menschen zu den Eigenschaften, die er mit den Tieren teilt. Wäre es nicht möglich, dass die Wissenschaft der Intuition, die Kunst klarer synthetischer Vision, eines Tages zum Intellekt im selben Verhältnis stehen könnte wie dieser jetzt zur instinktiven Fähigkeit?

Dr. Dibblee von der Oxforder Universität macht über Instinkt und Intuition folgende interessante Bemerkungen, die hier am Platze sind, weil wir uns in diesem Buch für die Anerkennung einer Erziehungsmethode einsetzen, die zur Entwicklung einer höheren Wahrnehmung führen würde. Er sagt:

« ... Instinkt und auch Intuition beginnen räumlich gesprochen in den ausserhalb unseres Bewusstseins gelegenen Bereichen unseres Selbst, kommen aber gleichzeitig unerwarteter Weise in das Licht des Tagesbewusstseins hervor. ... Die Instinktimpulse und Eingebungen der Intuition entstehen vollkommen im Geheimen.

Wenn sie zum Vorschein kommen, sind sie notwendigerweise beinahe vollständig, und ihr Eintritt in unser Bewusstsein erfolgt plötzlich». .

An einer anderen Stelle fügt er hinzu, dass die Intuition auf der dem Instinkt (27) entgegengesetzten Seite der Vernunft liegt. Wir haben hier also die interessante Dreiheit - Instinkt, Intellekt, Intuition - wobei der Instinkt sozusagen unter die Bewusstseinsschwelle gesunken ist, der Intellekt den ersten Platz in der Erkenntnis des Durchschnittsmenschen einnimmt und die Intuition über diesen beiden liegt; sie macht ihre Gegenwart nur gelegentlich in plötzlichen Erleuchtungen und im Erfassen einer Wahrheit bemerkbar, und das ist die Begabung unserer grössten Denker.

Sicherlich aber muss die Erziehung mehr umfassen, als bloss einen Menschen dafür tauglich zu machen, mit äusseren Tatsachen und mit einer tyrannischen Umwelt fertig zu werden. Die Menschheit muss nun aus dieser Einstellung heraus und in eine tiefere und umfassendere Zukunft und Wirklichkeit hineingeführt werden. Sie muss für alle kommenden Ereignisse und Möglichkeiten gewappnet sein, um daraus die höchsten und besten Resultate zu erzielen. Die menschlichen Anlagen sollten zu ihrer vollsten konstruktiven Ausdrucksmöglichkeit gebracht werden. Es darf keine genormte Leistungsgrenze geben, deren Erreichung sie selbstgefällig, selbstzufrieden und daher statisch machen würde. Die Menschen müssen stets aus niederen zu höheren Erkenntniszuständen geführt werden und ihre Wahrnehmungsfähigkeit muss sich ständig vergrössern. Ausdehnung und Wachstum ist das Gesetz des Lebens, und während die Masse der Menschen durch ein Erziehungssystem, das einer grösstmöglichen Anzahl das grösstmögliche Gute bringt, emporgehoben werden muss, muss dem Individuum sein volles Erbrecht zuerkannt und eine besondere Ausbildung ermöglicht werden, welche die Edelsten und Besten unter uns fördert und stärkt, denn in ihrer Vollendung liegt die Verheissung des (28) . Neuen Zeitalters. Die Geringeren und Zurückgebliebenen müssen aber ebenfalls eine besondere Schulung erhalten, damit auch sie den von den Erziehern festgesetzten hohen Durchschnitt erreichen können. Es ist aber sogar noch viel wichtiger, dass kein Mensch mit besonderer Begabung und Befähigung auf der gleichen niederen Stufe des Massendurchschnitts der gebildeten Klassen zurückgehalten werde. Gerade hier wird die Schwierigkeit ersichtlich, Erziehung zu definieren und es erhebt sich die Frage über den wirklichen Zweck und die wahren angestrebten Ziele. Dr. Randall erkennt dies klar in einem von ihm geschriebenen Artikel, in dem er sagt:

«Ich möchte empfehlen, Erziehung als eine für private Meditation mögliche Übung zu definieren. Jeder soll sich selbst fragen, was er unter "Erziehung" versteht; wenn er über diese Frage tief nachsinnt, wird er entdecken, dass er um sie zu beantworten die innerste Absicht und Bedeutung des Lebens selbst untersuchen muss. Ernsthaftes Nachdenken über Sinn und Bedeutung der Erziehung zwingt jeden dazu, sich mit den grundlegenden Lebensfragen wie nie zuvor vertraut zu machen. ... Ist Wissen das Ziel der Erziehung? Sicherlich ja; aber Wissen wozu? Ist das Ziel Macht? Wiederum ja; aber Macht zu welchem Zweck? Ist ihr Ziel soziale Neugestaltung? Die moderne Zeit antwortet hier mit Nachdruck ja; aber welcher Art soll diese Neuordnung sein und durch welche Ideale bestimmt? Dass Erziehung nicht auf blosses Wissen oder blosse Macht irgend welcher Art abzielt, sondern auf Wissen und Macht zu rechtem Gebrauch, ist dem fortschrittlichsten Pädagogen klar, obwohl dies von der öffentlichen Meinung noch nicht erkannt wird.

Die neue Erziehung sieht daher ihr grosses Ziel in der Schulung und Entwicklung des Individuums zu sozialen Zwecken, das heisst für den umfassendsten Dienst am Menschen.

Wir teilen Erziehung gewöhnlich in drei Klassen ein, in Volks-, Ober- und Hochschule. Diesen dreien (29) möchte ich noch eine vierte Stufe, die Höchstschule hinzufügen. Die höchste Erziehung ist Religion, sie ist aber auch Erziehung».

Es ist interessant, dass die gleichen Ideen auch von Bhagavan Das bei der ersten pan-asiatischen Erziehungskonferenz geäussert wurden. Er sagt:

«Die Regeln der Religion, d. h. der grösseren Wissenschaft, befähigen ... uns all dieser umfassenderen Schulden und Verpflichtungen zu entledigen. Religion ist als das Gebot oder die Offenbarung Gottes beschrieben worden. Damit sind - mit anderen Worten - nur die Naturgesetze Gottes gemeint, die von Sehern und Wissenschaftlern aller Religionen und Nationen durch verstandesmässige, intuitive und inspirierte Arbeiten und Forschungen entdeckt wurden. Wir haben von den drei R's (reading, writing, arithmetic = Lesen, Schreiben, Rechnen) lange genug gehört. Dieses vierte R, das unverfälschter Religion, ist wichtiger als alle anderen. Das muss aber entdeckt und sorgfältig durchdacht werden. Es obliegt allen aufrichtigen Erziehern, an diesem Werk durch Anwendung der wissenschaftlichen Methode mitzuarbeiten, also inmitten der Verschiedenheiten die Übereinstimmung festzustellen». 

Der Osten und auch der Westen scheinen zu empfinden, dass ein Erziehungssystem, das den Menschen nicht schliesslich aus der Welt menschlicher Belange in das erweiterte Bewusstsein geistiger Dinge führt, seine Mission verfehlt hat und dem hochfliegenden Verlangen der menschlichen Seele nicht gerecht zu werden vermag. Einer Schulung, die beim Intellekt abbricht und die Fähigkeit unbeachtet lässt, Wahrheit intuitiv zu erfassen, wie es die besten Denker dartun, mangelt viel. Wenn sie ihre Studenten mit einem abgeriegelten, statischen Denkvermögen entlässt, dann mangelt ihnen die Ausrüstung zur Erreichung des Immateriellen und der feinsten «Vier Fünftel des Lebens», die, wie Dr. Wiggam meint gänzlich ausserhalb des (30) Bereiches wissenschaftlicher Erziehung liegen».

Das Tor muss jenen geöffnet werden, die über die akademische Schulung des Denkens mit Beziehung zum äusseren Leben hinausgehen können.

Der Zukunftserfolg der Menschheit hängt vom Erfolg jener Individuen ab, welche die Fähigkeit zur Vollbringung grösserer weil geistigerer Dinge besitzen. Diese Einzelmenschen müssen entdeckt und zum Eindringen in das Reich des Unkörperlichen ermutigt werden. Sie müssen gefördert und geschult werden und eine Erziehung erhalten, die dem Höchsten und Besten, das in ihnen ist, entspricht. Eine solche Erziehung verlangt ein genaues Erkennen des individuellen Wachstums und der erreichten Stufe, sowie ein richtiges Verständnis für den nächsten Schritt im gegebenen Falle. Sie verlangt Einsicht, Sympathie und Verständnis von Seiten des Lehrers.

Unter den Erziehern erkennt man immer mehr die Notwendigkeit, die fortschrittlicheren Erziehungsprozesse auf ein höheres Niveau zu bringen, um dadurch die ihrem Einfluss Unterstellten aus dem Bereich des rein analytisch-kritischen Denkens in das der reinen Vernunft und der intuitiven Wahrnehmung emporzuheben. Bertrand Russell führt aus, dass «Erziehung nicht auf ein passives Gewahrwerden toter Tatsachen, sondern auf eine Aktivität abzielen sollte, die sich auf die durch unsere Anstrengungen zu erschaffende Welt richtet». Wir müssen uns aber klar sein, dass schöpferische Tätigkeit einen lebendigen und wirksamen Schöpfer voraussetzt, der zielbewusst handelt und schöpferische Vorstellungskraft gebraucht. Kann man sagen, dass unser modernes Erziehungssystem ein solches Ergebnis bringt? Wird nicht das Denken durch unser Massensystem (31) und die Methode, das Gedächtnis mit schlecht verdaulichen Tatsachen vollzustopfen, genormt und niedergehalten? Wenn Herbart mit seiner Behauptung, dass «die Hauptaufgabe der Erziehung die ethische Erschliessung des Universums sei», recht hat, dann hat vielleicht Dr. Moran ebenso recht, wenn er darauf hinweist, «dass eine der unserem materialistischen Zeitalter zugrunde liegenden Ursachen - und vielleicht die grösste der Mangel des geistigen Elements in unserer formalen Erziehung sei».

Manche von uns haben auch das Empfinden, dass es ein noch weiterreichendes Ziel als das ethischer Enthüllung gibt; und dass die Menschheit möglicherweise Verwahrer einer Erleuchtung und Herrlichkeit ist, die in ihrer Fülle erst dann erkannt und verwirklicht werden wird, wenn die Massen etwas von jener Grösse erlangt haben, die für die Vorbilder der Vergangenheit kennzeichnend war. Besteht das wahre Ziel der Erziehung in Übereinstimmung mit der evolutionären Entwicklung nicht darin, die Menschheit aus dem vierten oder Menschenreich in das geistige Reich zu führen, wo die Pioniere, die wir Mystiker nennen, und die Vorbilder der Menschheit leben, sich bewegen und ihr Dasein haben? Auf diese Art wird die Menschheit aus der objektiven materiellen Welt in das Reich des Geistes aufsteigen, wo wahre Werte zu finden sind und wo ein Kontakt mit jenem höheren Selbst erreicht wird, das zu offenbaren der einzige Daseinszweck des individuellen Selbstes ist. Keyserling deutet dies mit folgenden Worten an:

«Wir kennen die Grenzen menschlicher Vernunft; wir verstehen Sinn und Bedeutung unseres Ringens und Strebens; wir beherrschen die Natur. Wir können die innere und die äussere Welt gleichzeitig überblicken. Da wir unsere wirklichen Absichten wissenschaftlich bestimmen können, brauchen wir nicht mehr die Beute von Selbsttäuschung zu werden. (32) Von nun an muss diese Möglichkeit zum bewussten Motiv unseres Lebens werden. Bisher hat sie diese Rolle noch nicht gespielt. Und doch ist gerade dies von grösster Bedeutung, denn das Bewusstseinszentrum bestimmt den Ausgangspunkt des Menschen. Wohin immer er in sich den Schwerpunkt verlegt, dort befindet er sich tatsächlich; das ganze Wesen des Menschen stellt sich danach um ... deshalb ist für ein auf Erkenntnis basierendes Leben eine Erziehung zur Synthese von Verstehen und Handeln notwendig.

Alle Erziehung im Osten ist rein auf das Erfassen des Sinnes gerichtet, das ... der einzige Weg ist, der gewiesen werden kann und zur Erhöhung des Niveaus des wesentlichen Seins führt. ... Das Wesentliche ist nicht Unterweisung, sondern Verstehen, und dieses kann nur durch persönliche, schöpferische Anwendung erreicht werden. ... Den Sinn erfassen heisst immer, einem Ding einen Sinn geben; die Erweiterung der Sinngebung erfolgt von innen nach aussen. Daher stehen angehäuftes Wissen und Verstehen in Wirklichkeit zueinander in derselben Beziehung wie Natur und Geist. Unterweisung wird auf dem Wege von aussen nach innen gewonnen; Verstehen aber ist ein schöpferischer Prozess in entgegengesetzter Richtung. Unter diesen Umständen ist es klar, dass kein direkter Weg von einem Ziel zum andern führt. Man kann alles wissen, ohne indes gleichzeitig etwas überhaupt zu verstehen. Und das ist genau der Zustand, in den unsere auf Anhäufung von Kenntnissen zielende Erziehung die Mehrheit der Menschen gebracht hat».

Dieses Buch möchte sich mit der Methode befassen, nach der die Fähigkeit, im höheren Bewusstsein zu funktionieren, entwickelt werden und der Mensch sein Wesen zur Erzielung grösserer Resultate neugestalten kann. Es befasst sich mit der Methode, die als Spezialschulung und Selbst-Bildung für jedermann, der dieses höhere Ziel anzustreben vermag, (33) anwendbar ist. Wenn dieser Wunsch im Denken eine klare und vernünftige Form annehmen und als vollkommen berechtigtes und erstrebenswertes Ziel eingeschätzt werden kann, das erreichbar ist, dann wird man auch eifrig danach trachten. Wenn die menschliche Gesellschaft die Mittel und die Gelegenheit zu solchem Vorwärtskommen bieten kann, werden viele freudig diesen Weg suchen. Die vorgeschlagene Methode ist eine individuelle Technik, die den Studenten, der aus der gewöhnlichen akademischen Erziehung Nutzen gezogen und Lebenserfahrungen gesammelt hat, instandsetzt, sein Bewusstsein so zu erweitern, dass er allmählich seine gegenwärtigen Begrenzungen überschreitet und sein Denken höheren Anschauungen zuwendet. Er wird die Seele als die grosse Realität entdecken und dadurch zu direkter Erfahrung spiritueller Dinge gelangen.

Everett Dean Martin definiert Erziehung als «geistige Umwertung des menschlichen Lebens. Es ist ihre Aufgabe, dem Einzelmenschen eine neue geistige Einstellung zu geben und ihn zu befähigen, eine reichere und bedeutsamere Ansicht über seine Erfahrungen zu gewinnen und sich über und nicht in das System seiner Glaubensüberzeugungen und Ideale zu stellen».

Diese Definition öffnet dem wissenschaftlichen Streit notwendigerweise Tür und Tor, denn ein jeder von uns lebt in einer anderen Umgebung; jeder hat seine besonderen Probleme und Charaktereigenschaften, die auf Vererbung, auf unserem physischen Zustand und vielen anderen Faktoren beruhen. Folglich müsste der Wertstandard für jeden Menschen, jede Generation, jedes Land und jede Rasse abgeändert werden. Dass Erziehung uns für eine «vollständige Lebensweise» (wie Herbert Spencer (34) es ausdrückt) vorbereiten soll, mag wahr sein, aber der geistige Horizont und die Fassungskraft der Menschen sind verschieden. Zwischen der für Menschen niedrigsten und höchsterreichbaren Stufe gibt es unendlich viele Zwischenstufen; überdies kann ein Mensch, der für einen besonderen Wirkungsbereich geeignet ist, sich in einem andern sonderbarerweise als unfähig erweisen. Es müsste daher eine bestimmte Norm für diese «vollständige Lebensweise» festgelegt werden, wenn diese Definition irgend einen Nutzen haben soll. Dazu ist notwendig, dass wir uns über den reinen Typus des abgerundeten und vollkommenen Menschen und den gesamten Bereich seiner Kontakte klar werden. Es ist unwahrscheinlich, dass wir die Möglichkeiten des menschlichen Reaktionsapparates und der Umwelt, mit der ein Mensch in Berührung kommen kann, erschöpft haben. Wo verlaufen die Grenzen, innerhalb deren ein Mensch wirken kann? Wenn es Erkenntniszustände von der Stufe des Hottentotten bis hinauf zu unseren Intelligenzkreisen und weiter bis zu den Genies und Führern auf allen Gebieten menschlicher Wesensäusserung gibt, was bildet den Unterschied zwischen ihnen) Warum sind ihre Wahrnehmungsbereiche von einander so grundverschieden? Rassische Entwicklung, wird jemand antworten; Stabilität oder Instabilität der Drüsen, wird ein anderer sagen; Verschiedenheiten der Umgebung und Erbanlage, das Vorhandensein oder Fehlen einer angemessenen Erziehung, werden wieder andere Denkergruppen meinen.

Doch aus dem Wirrwarr der Meinungen hebt sich die grundlegende Tatsache heraus, dass der Bereich menschlicher Erkenntniskraft sehr gross ist, und wir werden uns des Wunders bewusst, dass die Menschheit solche ausserordentliche Leistungen umfassenden Verstehens, reiner Wesensäusserung und veredelnden weltweiten Einflusses zustande gebracht hat, wofür wir (35) in Christus, Buddha, Plato und vielen anderen den Beweis haben, deren Gedanken und Worte dem menschlichen Denken für Tausende von Jahren ihren Stempel aufgedrückt haben. Was machte sie zu dem, was sie sind? Sind sie aus dem Herzen des Unendlichen hervorgegangene Wunder, die aber niemals ihresgleichen finden können? Sind sie Ergebnisse des Evolutionsprozesses und wurden sie durch ausserordentliche Erfahrung und Entfaltung so mächtig? Oder sind sie die Blüten der menschlichen Rasse, die ihrer Veranlagung und Schulung eine besondere Bildung hinzufügten, die sie befähigte, in eine, den meisten verschlossene spirituelle Welt einzudringen und in einer Dimension zu wirken, von der sogar unsere fortgeschrittensten Denker nichts wissen? Haben nun unsere modernen Erziehungssysteme die Menschheit als Ganzes in einen Zustand gebracht, da viele Tausende für diese spezielle Ausbildung bereit sind? Stehen wir daher vor einer Krise auf erzieherischem Gebiet, die ihre Wurzeln in einem Erfolg hat, der wenn er nach den gleichen Grundsätzen fortgeführt wird sich als Nachteil statt als Hilfe erweisen wird, weil der Mensch zu etwas Neuem bereit ist? Manche von uns halten dies für möglich und sind der Ansicht, dass es für die Erzieher an der Zeit wäre, Menschen auf diese neue und göttliche Erfahrung und auf dieses wundervolle Experiment vorzubereiten, das sie überall in den Besitz ihrer selbst bringen wird was bisher nur das Vorrecht der Mystiker und Wissenden der Menschheit war. Diese Wissenden haben von einer ausgedehnteren Welt Zeugnis abgelegt als nur von der, die uns durch den Nervenmechanismus erschlossen und die von Chemikern, Physikern, Biologen und Anthropologen erforscht wird. Sie haben in ganz unzweifelhaften Ausdrücken von einem Reiche von Kontakten und des Gewahrseins gesprochen, in dem die gewöhnlichen Sinne nutzlos sind. Sie behaupten, in diesen subtileren Reichen gelebt und sich bewegt zu haben, und die Ausdauer, die sie in der mystischen Suche nach Wirklichkeit bewiesen haben sowie die Gleichartigkeit ihrer Zeugenschaft durch alle Zeitläufe bestärken in uns den Glauben an die Möglichkeit einer solchen nicht greifbaren Welt und eines (36) . Reaktionsapparates, mittels dessen man mit dieser Welt in Berührung kommen kann. Die Reihen dieser «irregeführten» Mystiker und intuitiven Denker umfassen Zehntausende der besten Köpfe der Menschheit. Sie sprechen zu uns mit den Worten Walt Whitmans: «Ich und meinesgleichen überzeugen nicht durch Argumente, wir überzeugen durch unsere Gegenwart».

Erziehung wurde auch beschrieben als «eine abenteuerliche Suche nach dem Sinn des Lebens, wozu die Fähigkeit gehört, Dinge durchzudenken». Wer dies sagte, ist mir unbekannt, doch scheint mir dieser Ausspruch eine ausgezeichnete Beschreibung des Weges des Mystikers und der Meditationstechnik zu sein, durch die der Mystiker ein vollbewusster Wissender wird. Trotz aller Deutungsversuche bleibt aber doch die Tatsache bestehen, dass der Mensch als Suchender durch die Zeitläufe geht, und dieses Forschen bringt ihn viel weiter als die konkreten Äusserlichkeiten der Welt, in der er lebt. Dr. Overstreet richtet darauf unsere Aufmerksamkeit mit Worten, die eine wahre mystische Botschaft sind. Er sagt:

«Im Ganzen sind wir Geschöpfe, die "Dinge" sehen. Wir erfassen nur, was wir sehen, und sehen gewöhnlich nicht darüber hinaus. Die Welt als blosse Welt von Dingen zu erleben, heisst zweifellos, etwas Bedeutungsvolles zu versäumen. Das Erfahrungswissen (37) über Dinge ist soweit es diese betrifft sicherlich gut. Es ermöglicht uns, auf unserer Welt umherzuziehen und die Lebensfaktoren mit einigem Erfolg zu handhaben. ... Es ist aber sehr wohl möglich, von der Welt eine andersartige Empfindung zu bekommen, wenn man eine andere Denk-Gewohnheit entwickeln kann. Das ist, kurz gesagt, die Gewohnheit, hinter der sichtbaren Wirklichkeit das Unsichtbare zu sehen; die Gewohnheit, die Oberfläche zu durchdringen, um durch die Dinge hindurch deren Ursprung zu erkennen».

Die Menschen sind heute vielleicht bereit, die Oberfläche zu durchdringen und ihr Forschen in der äusseren Naturform bis zu deren Ursache voranzutreiben. Vielleicht sind wir zu leicht geneigt, den religiösen Geist mit dem mystischen Suchen zu verwechseln. Denn alles klare Denken über das Leben und die grossen Naturgesetze führt - wenn es beharrlich und stetig fortgesetzt wird schliesslich in die mystische Welt; dies beginnen die besten Wissenschaftler unserer Zeit zu erkennen. Religion fängt mit der anerkannten Hypothese über das Unsichtbare und Mystische an. Die Wissenschaft aber arbeitet vom Sichtbaren zum Unsichtbaren, vom Objektiven zum Subjektiven hin und gelangt zur gleichen Erkenntnis. Auf diese Weise kommt - wie gesagt - der Mystiker durch Forschen und dadurch, dass er von Form zu Form ins Innere geht, schliesslich zur Herrlichkeit des enthüllten Selbstes. Es scheint eine unabänderliche Wahrheit zu sein, dass alle Pfade zu Gott führen, wenn man Gott als das endgültige Ziel, das Symbol der menschlichen Suche nach Wirklichkeit ansieht. Der Glaube an eine höhere Dimension und eine andere Seinswelt ist nicht länger mehr ein Zeichen von Aberglaube. Sogar das Wort «übernatürlich» wurde für absolut achtbar befunden, und es erscheint durchaus möglich, dass unsere (38)  Erziehungssysteme eines Tages die Vorbereitung eines Individuums für ein Überschreiten seiner natürlichen Begrenzungen als vollkommen gerechtfertigten Teil ihrer Obliegenheiten ansehen werden. Es ist interessant, was Dr. C. Lloyd Morgan in den 1923 abgehaltenen Clifforder Vorlesungen über das Wort «übernatürlich» zu sagen hat:

«Es gibt ich gestehe es einen durch den Verstand erfassbaren Sinn, womit gesagt werden kann, dass in der aufsteigenden Stufenleiter der Fortschrittstadien, die man als Manifestation göttlicher Absicht ansehen kann jedes höhere Stadium gegenüber dem vorangegangenen übernatürlich ist. In diesem Sinne ist Leben gegenüber dem Anorganischen übernatürlich; überlegende, gedankliche Fassungskraft ist naiver gedankenloser Wahrnehmung gegenüber übernatürlich. Die religiöse Einstellung mit Anerkennung einer göttlichen Absicht ist der ethischen Gesinnung in sozialen Belangen gegenüber übernatürlich. Die religiöse Geisteshaltung ist für jene die den nach ihrer Ansicht höchstmöglichen Grad erreichen, das erhabenste Beispiel des Übernatürlichen. Sie ist das Unterscheidungsmerkmal des spirituellen Menschen».

Und er fügt sehr schön und treffend soweit es den hier behandelten Gegenstand betrifft hinzu, dass «wir den Nachdruck auf eine neue Geisteshaltung legen müssen, denn eben diese denke ich - tritt zutage. Daher können wir von einer neuen "Vision" und einem neuen "Herzen" sprechen, die einer höheren und reicheren Freude fähig sind».

Dr. Hocking führt in seinem bemerkenswerten Buch «Die menschliche Natur und ihre Erneuerung» aus, dass Erziehung zwei Aufgaben habe. Erst muss sie den menschlichen Typus herausarbeiten und dann das Hinauswachsen über diesen Typus besorgen. Erziehung soll den Menschen wahrhaft menschlich machen, sie muss sein Wesen abrunden und vervollkommnen und so jenen (39) tieferen Kräften und Anlagen, denen die ganze Menschheit zustrebt, zum Durchbruch verhelfen. Die Hervorrufung des Willens zu - wissen und später des Willens zu - sein muss einem natürlichen Entwicklungsgang folgen. In diesem Zusammenhang wird die Methode der Meditation als Teil der höheren Erziehung angesehen werden, deren Entwicklung das Neue Zeitalter bringen wird; sie wird sich als Mittel zur Weiterentwicklung des abgerundeten menschlichen Wesens und als Wegweiser in ein neues Naturreich erweisen. Meditation ist in erster Linie ein selbst-veranlasster Erziehungsprozess, der alle Willenskräfte erweckt, dessen Ausgangspunkt das jetzige geistige Rüstzeug ist, der aber schliesslich einen neuen Typus, den Seelen-Typus, mit seinem eigenen, inneren Apparat hervorbringt, der wiederum den Keim zu noch grösserer Entfaltung in sich trägt.

Im Gegensatz zu einer von aussen her auferlegten Verpflichtung kommt der neue Erziehungsprozess aus dem Innern und wird zu jener selbstauferlegten mentalen Disziplin, die wir durch die so oft missverstandenen Worte - Konzentration, Meditation und Kontemplation - kennzeichnen. Aus einer Gedächtnisschulung und der Entwicklung einer raschen Handhabung des Reaktionsapparates, der uns mit der äusseren Welt in Berührung bringt, wird die Erziehungstechnik zu einem System der Denkkontrolle und führt im Weiteren zu innerer Wahrnehmung eines neuen Seinszustandes. Zuletzt bewirkt sie eine schnelle Reaktion und Empfänglichkeit gegenüber einer immateriellen und unsichtbaren Welt und gegenüber einer neuen Reihe instinktiver Erkenntnisse, die ihren Sitz wiederum in einem feineren Reaktionsapparat haben. Der Seelen-Typus (40) drückt sich dem menschlichen Typus in gleicher Weise auf, wie dieser den tierischen beeinflusst hat; und so wie der menschliche Typus das Produkt von Massenschulung und Instinkt ist und durch unsere modernen Erziehungssysteme ausserordentlich entfaltet wurde, genau so ist der Seelen-Typus das Produkt einer neuen mentalen Schulungsmethode, die dem Individuum von seiner Seele auferlegt und von ihm durch einen Willensakt und aus dem Forscherdrang heraus entwickelt wurde. Diese Seele ist in der menschlichen Form immer latent gegenwärtig, wird aber erst durch Meditation zu nachweisbarer Tätigkeit veranlasst.

Diese beiden Methoden, nämlich einerseits den Menschen auszufüllen und ihn auf einen Massenstandard zu bringen, andererseits das Hervorbringen des neuen Typus, der Seele, bilden die Hauptunterscheidungsmerkmale zwischen den westlichen und östlichen Erziehungsmethoden.

Die Gegenüberstellung dieser beiden Entwicklungswege ist sehr lehrreich. Im Osten die sorgfältige Pflege des Individuums, während die Massen praktisch ohne jede Erziehung bleiben. Im Westen die Massenerziehung, wobei dem Individuum aber allgemein gesprochen keine besondere geistige und künstlerische Ausbildung zuteil wird.

Jedes dieser beiden grossen, von einander abweichenden Systeme hat eine Zivilisation geschaffen, die ihre besondere Genialität und Schöpferkraft, aber auch ihre hervorstechenden Mängel zum Ausdruck bringt. Die Voraussetzungen, auf denen diese Systeme beruhen, sind sehr verschieden, und es wäre der Mühe wert, sie zu betrachten, denn im Verstehen und schliesslichen Vereinen dieser beiden liegt die Möglichkeit, den Weg in das Neue Zeitalter für die neue Menschenrasse zu finden.

Erstens: Das östliche System basiert auf der (41) Annahme, dass in jeder menschlichen Form eine Wesenheit - das Selbst oder die Seele genannt - wohnt. Zweitens: Dieses Selbst benützt die Form des menschlichen Wesens als sein Instrument oder Ausdrucksmittel und wird sich schliesslich durch die Gesamtsumme der mentalen und emotionellen Zustände manifestieren, wobei es den physischen Körper als Funktionsapparat auf der physischen Ebene benützen wird. Die Kontrolle über diese Ausdrucksmittel kommt schliesslich nach dem Gesetz der Wiederverkörperung zustande. Im Verlauf des Evolutionsprozesses (der sich über viele, in einem physischen Körper verbrachte Leben erstreckt) erbaut sich das Selbst allmählich ein brauchbares Instrument, durch das es sich manifestiert und das es beherrschen lernt. So wird das Selbst, die Seele, wahrhaft schöpferisch tätig, im höchsten Sinne selbstbewusst und in seiner Umwelt aktiv; es manifestiert sein wahres Wesen auf vollkommene Art. Schliesslich erlangt es die vollständige Befreiung von der Form und von den Banden der Wunschnatur, es gewinnt die Herrschaft über den Intellekt. Diese schliessliche Emanzipation und die sich daraus ergebende Verlagerung des Bewusstseinszentrums vom menschlichen in das geistige Reich wird durch eine besondere Ausbildung beschleunigt und gefördert, Meditationsprozess genannt, der einem umfassend und weise ausgebildeten Denkvermögen auferlegt wird.

Das Resultat dieser intensiven individuellen Schulung war und ist ausserordentlich eindrucksvoll. Die östliche Methode ist die einzige, aus der die Gründer aller Weltreligionen hervorgingen, denn diese sind ausnahmslos asiatischen Ursprungs. Dieser Methode ist auch das Erscheinen jener inspirierten Heiligen Schriften, durch welche die Gedanken der Menschen geformt wurden, zuzuschreiben, (42) und sie ist auch die Veranlassung für das Auftreten aller Welt-Erlöser - des Buddha, Christus, Zoroaster, Sri Krishna und anderer. Auf diese Weise hat der Osten infolge dieser besonderen Technik all die grossen Individualitäten hervorgebracht, die ihrem jeweiligen Zeitalter die besondere Note gaben, welche die zur Entfaltung der Gott-Idee im Denken der Menschen notwendige Lehre darlegten und so die Menschheit auf dem Pfad geistiger Wahrnehmung vorwärts führten. Das äussere Ergebnis ihrer Leben zeigt sich in den grossen organisierten Religionen.

Über der Erziehung der hochentwickelten Individuen aber wurden die Menschenmassen ganz Asiens vernachlässigt, und das angewandte System lässt daher vom Standpunkt rassischer Entwicklung viel zu wünschen übrig. Die Mängel dieses Systems liegen in der Entwicklung visionärer unpraktischer Tendenzen. Der Mystiker ist meist unfähig, mit seiner Umwelt zurecht zu kommen; und dort, wo man den Nachdruck ausschliesslich auf die subjektive Seite des Lebens gelegt hat, wird die physische Wohlfahrt des Individuums und der Rasse vernachlässigt und übersehen. Die Massen werden ihrem Kampf gegen den Sumpf von Unwissenheit, Krankheit und Schmutz überlassen und daraus ergeben sich die im ganzen Orient herrschenden, beklagenswerten Zustände neben höchster geistiger Erleuchtung bei einigen Bevorzugten.

Im Westen wird auf das Gegenteil Nachdruck gelegt. Das Subjektive wird nicht beachtet und als hypothetisch angesehen; die Tatsachen, auf denen unsere Kultur aufgebaut ist, sind folgende: Erstens ist da eine Wesenheit, Mensch genannt, der ein Denkvermögen, viele Emotionen und einen Reaktionsapparat besitzt, durch den er mit (43) seiner Umwelt in Berührung kommt. Zweitens entsprechen sein Charakter und seine Neigungen der Qualität seines Apparates und seiner Denkkraft sowie den Eigentümlichkeiten der Umwelt. Das Ziel des Erziehungsprozesses - im Grossen und unterschiedslos angewandt - besteht darin, ihn physisch tauglich und mental behende zu machen, ihn mit einem geschulten Gedächtnis, beherrschten Reaktionen und einem Charakter zu versehen, der ihn zu einem sozialen und leistungsfähigen Wertfaktor im Wirtschaftskörper macht. Sein Denkvermögen wird als Speicher für mitgeteilte Tatsachen betrachtet und die jedem Kinde zuteil werdende Erziehung hat den Zweck, dieses zu einem sich selbst erhaltenden, anständigen und nützlichen Mitglied der menschlichen Gesellschaft zu machen. Das Ergebnis dieser Tatsachen ist das Gegenteil zu dem des Orients. Wir haben hier keine so besondere Geistesbildung, dass daraus so weltbekannte Gestalten, wie Asien sie hervorgebracht hat, erstehen könnten; wir haben jedoch ein Massen-Erziehungssystem entwickelt und Denkergruppen hervorgebracht. Daher haben wir Universitäten, Hochschulen, öffentliche und private Schulen. Diese prägen zehntausenden Menschen ihren Stempel auf, nivellieren und bilden sie, so dass ein menschliches Produkt hervorgebracht wird, das ein bestimmtes Allgemeinwissen, eine gewisse Menge feststehender Tatsachen und oberflächliche Belehrung besitzt. Das bedeutet, dass es hier keine solche beklagenswerte Unwissenheit wie im Osten gibt, sondern dass das Niveau des Allgemeinwissens ziemlich hoch ist. Dadurch entstand das, was wir Zivilisation nennen, mit ihrem Reichtum an Büchern und ihren vielen Wissenschaften; das brachte die wissenschaftliche Erforschung des Menschen und (auf der Höhe der menschlichen Evolutionswelle) die grossen Gruppen im Gegensatz zu den grossen Persönlichkeiten hervor.

(44) Diese Gegensätze können in groben Umrissen wie folgt zusammengefasst werden:

Westen - Osten

Gruppen - Persönlichkeiten

Bücher - Bibeln

Wissen - Weisheit

Objektive Zivilisation - Subjektive Kultur

Mechanische Entwicklung - Mystische Entwicklung

Normung - Einmaligkeit

Massenerziehung - Spezial-Schulung

Wissenschaft - Religion

Gedächtnisschulung - Meditation

Forschung - Reflektion (gedankliche Vertiefung).

Und doch ist die Ursache im Grunde die gleiche - eine Erziehungsmethode. Beide Methoden sind also in den Grundzügen richtig, aber beide sind notwendig, um einander zu vervollständigen. Die Erziehung der Massen im Orient wird zur Verbesserung ihrer äusseren Lebensprobleme führen, die gebieterisch nach Lösung verlangen; ein ausgedehntes allgemeines Erziehungssystem, das die unwissenden Massen des asiatischen Volkes erfasst, ist dringendste Notwendigkeit. Die geistige Schulung des Einzel-Menschen im Westen und die Ergänzung seines angelernten Wissens durch eine methodische Seelenkultur, wie sie uns der Osten lehrt, werden unserer so schnell zusammenbrechenden Zivilisation Aufschwung geben und sie retten. Der Osten braucht Wissen und Unterweisung, der Westen Weisheit und die Technik der Meditation.

Wenn dieses wissenschaftliche und kulturelle System bei unseren hochgebildeten Menschen zur Anwendung kommt, (45) dann wird es jene überbrückende Gruppe von Menschen hervorbringen, welche die Errungenschaften beider Hemisphären vereint und das subjektive mit dem objektiven Reich verbindet. Diese Menschen werden als die Wegbereiter des Neuen Zeitalters fungieren; es wird dann praktisch denkende Leute geben, die mit beiden Füssen fest auf der Erde stehen und doch gleichzeitig Mystiker und Seher sind, die auch in der Welt des Geistes leben und Inspiration und Erleuchtung ins tägliche Leben bringen.

Für das Zustandekommen dieser Bedingungen und dieser grossen Gruppe praktischer Mystiker, die schliesslich die Welt erlösen werden, sind zwei Dinge vonnöten: Geschultes Denkvermögen mit umfassendem Allgemeinwissen als Grundlage (dies kann unser westliches System geben) plus geistiges Gewahrsein der innewohnenden Göttlichkeit, der Seele, was durch das östliche System wissenschaftlicher Meditation erreicht werden soll. Unser grösster Mangel im Westen besteht im Unvermögen, die Seele und die Gabe der Intuition zu erkennen, die ihrerseits zur Erleuchtung führt. Der verstorbene Professor Luzzatti, Premierminister von Italien, sagt in seinem höchst wertvollen und lehrreichen Buch «Gott und Freiheit»: «Es wird allgemein festgestellt, dass die Herrschaft des Menschen über sich selbst mit der zunehmenden Herrschaft des Menschen über die Natur nicht Schritt hält».

Wesentlich ist daher, dass die westliche Welt ihre Erziehungssysteme in einer solchen Weise vervollkommne, dass wir die Herrschaft über uns selbst gewinnen.