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Kapitel V - Das Problem der Kirchen - Teil 1

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Kapitel V

Das Problem der Kirchen

Die Überschrift dieses Kapitels lautet nicht «Das Religionsproblem», sondern bezieht sich ganz einfach auf das Problem jener Leute und Organisationen, die Religion zu lehren suchen, die für sich in Anspruch nehmen, Vertreter des geistigen Lebens zu sein, um die geistige Annäherung der Menschenseele an Gott zu leiten und die Regeln für das geistige Leben festzulegen. Mit der Behandlung dieses Themas begeben wir uns auf ein heikles Gebiet.

Über Religiosität kann es keinen Streit geben, der gerechtfertigt wäre; sie besteht und ist für ein volles und wahres Erdenleben wesentlich. Wir können die Zeitlosigkeit des Glaubens anerkennen und auch das Zeugnis, das der Geist seit grauer Vorzeit für die Tatsache Gottes abgelegt hat. Christus lebt und leitet die Menschen der Welt, und das tut er nicht von einem nebulosen, fernen Zentrum aus, das (rein symbolisch) «zur Rechten Gottes» genannt wird, sondern aus nächster Nähe und unmittelbar bei der Menschheit, die er in Ewigkeit liebt. Mit seinen Worten: «Siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende», meinte er genau das, was er sagte. Die Annäherung des menschlichen Geistes an seine Quelle, an jenes geistige Zentrum, in dem die Gottheit regiert, und an diejenigen, welche diese Annäherung lenken und leiten, wird unvermeidlich fortschreiten; der Weg steht den Pilgern ewig offen, und alle diese Pilger, alle Seelen, finden am Ende ihren Weg zurück in des Vaters Haus.

Die Tatsache Gottes, die Tatsache Christi, die Tatsache der geistigen Annäherung des Menschen an die Göttlichkeit, die Tatsache der Unsterblichkeit des Geistes, die Tatsache geistiger Aufstiegsmöglichkeit und die Tatsache der Beziehungen des Menschen zu Gott und zu seinen Mitmenschen - auf diesen Tatsachen können wir unseren Standpunkt einnehmen. Zudem ist die evolutionäre Darstellung der Wahrheit zu betonen und deren stetige Anpassung an das jeweilige Bedürfnis der Menschen in jeder geschichtlichen Periode.

Das Christentum ist - wenn auch noch nicht praktisch, so doch im Wesen - ein Ausdruck der Liebe Gottes, die Seinem geschaffenen Universum innewohnt. Den auf das Kirchentum gerichteten Angriffen hingegen hat dieses selbst Tür und Tor geöffnet, und das weiss die Mehrzahl der denkenden Menschen; leider sind diese aber eine Minderheit.

Im Interesse der Klarheit und um den Umriss der Tatsachen und Möglichkeiten gedanklich deutlich zu machen, werden wir das Thema in folgende Abschnitte einteilen, dabei mit den unerfreulichsten und kontroversesten Dingen beginnen und mit einem Gedanken der Hoffnung, der Zielbewusstheit und Vorausschau enden.

I. Das Versagen der Kirchen. Könnte man wahrheitsgetreu und im Lichte des Weltgeschehens behaupten, dass die Kirchen erfolgreich waren?

II. Die Gelegenheit der Kirchen. Wird diese von ihnen erkannt?

III. Die wesentlichen Wahrheiten, welche die Menschheit braucht und intuitiv anerkennt. Welche Wahrheiten sind dies?

IV. Die Erneuerung der Kirchen. Ist sie möglich? V. Die neue Weltreligion.

Das unmittelbare Bedürfnis der Menschheit ist heute klar erkennbar, und ebenso klar sind die Schritte, mit denen die Kirchen diesem Bedürfnis abzuhelfen gedenken. Es erscheint deshalb wesentlich, dass wir die Situation so wie sie ist sehen, die für den Fortschritt und die Erleuchtung des Menschen wesentlichen Wahrheiten herausschälen und dabei kontroverse und unwichtige Faktoren beiseite lassen. Es ist auch notwendig, den Erlösungsweg zu definieren, dem die Kirchen folgen sollten; wenn die Kirchen im Sinne Christi arbeiten und wenn die Männer der Kirchen in demselben Sinne denken, dann ist die Erlösung der Menschheit gesichert. Es ist vor allem wesentlich, eine Vision darzubieten, die für alle Menschen eine Vision sein kann und nicht nur die schöne Hoffnung einer sektiererischen Gruppe oder einer fanatischen, selbstzufriedenen Organisation. Es ist wesentlich, dass wir zu Christus und seiner Botschaft und zu der Lebensweise zurückkehren, für die er uns Vorbild war.

Die Kirchenleute sollten nicht vergessen, dass der menschliche Geist grösser ist als alle Kirchen und grösser als ihre Lehren. Zu guter Letzt wird der menschliche Geist sie besiegen und im Triumph in das Reich Gottes einziehen, während sie weit zurückbleiben, es sei denn, sie treten als bescheidener Teil der Masse ihrer Mitmenschen ein. Prunkbeladene Prälaten und kirchliche Würdenträger haben als solche keinen Anteil an jenem Reich. Christus braucht keine Prälaten und Kirchenfürsten; er braucht demütige Lehrer der Wahrheit und Vorbilder des geistigen Lebens. Nichts unter der Sonne kann den Fortschritt der Menschenseele aufhalten auf ihrer langen Pilgerreise aus der Dunkelheit zum Licht, vom Unwirklichen zur Wirklichkeit, vom Tod zur Unsterblichkeit, von Unwissenheit zur Wahrheit. Wenn die grossen organisierten Religionsgruppen der Kirchen aller Länder und aller Glaubensrichtungen keine geistige Führung und Hilfe bieten, dann wird die Menschheit andere Wege finden. Nichts kann den Geist des Menschen von Gott fernhalten.

1. Das Versagen der Kirchen

Lasst uns nicht vergessen: Christus hat nicht versagt. Es ist das menschliche Element, das versagt, das Christi Absichten vereitelt und die von ihm verkündete Wahrheit erniedrigt hat. Theologie, Dogmatik, Doktrin, Materialismus, Politik und Geld haben eine riesige dunkle Wolke zwischen den Kirchen und Gott erzeugt; sie haben die wahre Vision von Gottes Liebe ausgesperrt, und zu dieser Vision einer liebeerfüllten Realität und zur lebendigen Erkenntnis ihres tieferen Sinnes müssen wir zurückkehren.

Besteht irgendeine Aussicht, dass eine Erneuerung des Glaubens, wie er in Christus war, geschehen kann? Gibt es genug Männer mit Weitblick in den Kirchen, um die Lage zu retten; welche die Vision begreifen, die den menschlichen Bedürfnissen gerecht wird und nicht bloss dem Wachstum und der Verherrlichung der Kirchen dient? Solche Männer gibt es in jeder religiösen Organisation, aber es sind leider nur wenige. Selbst wenn sie sich zusammentäten (was aufgrund doktrinärer Unterschiede noch unmöglich erscheint), wären sie nur eine relativ ohnmächtige Gruppe gegenüber der organisierten Macht, dem materiellen Glanz, den verbrieften Rechten der Würdenträger und der fanatischen Entschlossenheit des reaktionären Klerus aller Glaubensrichtungen. Es ist immer nur die bedrängte Minderheit (in diesem Fall die wenigen geistig Gesinnten), welche die wahre Vision bewahrt und schliesslich verwirklicht; sie sind es, die auf ausgedörrten, freudlosen Strassen mit der hungernden, geplagten Menschheit wandern und die daher mit durchdringender Klarheit die Notwendigkeit der kirchlichen Erneuerung erkennen.

Unsere religiösen Rednertribünen, Kanzeln und Zeitschriften sind voll von Aufrufen an die Menschen, zu Gott zurückzukehren und in der Religion einen Ausweg aus den jetzigen chaotischen Zuständen zu finden. Und doch war die Menschheit noch nie zuvor so zum Geistigen geneigt, so bewusst und definitiv auf geistige Werte und auf das Bedürfnis nach geistigen Neubewertungen und Erkenntnissen eingestellt. Dieser Ruf sollte sich daher an die Kirchenfürsten und den Klerus aller Glaubensrichtungen sowie an alle freiwilligen Kirchenhelfer wenden, denn sie sind es, die zur Einfachheit des Glaubens, wie er in Christo war, zurückkehren sollten. Sie sind es, die eine Erneuerung nötig haben. Überall verlangen die Menschen nach Licht. Wer soll es ihnen geben?

Es sind in der Hauptsache zwei Faktoren, die für das Versagen der Kirchen verantwortlich sind:

1. Engstirnige theologische Auslegungen der Schriften.

2. Materielle und politische Ambitionen.

In jedem Land haben seit jeher Menschen versucht, ihre persönlichen religiösen Deutungen der Wahrheit, der heiligen Schriften und der Gottheit der Masse ihrer Mitmenschen aufzudrängen. Sie haben sich die Bibeln der Welt vorgenommen und zu erklären versucht, indem sie die dort gefundenen Ideen durch ihr eigenes Denken und Gehirn gefiltert und dabei deren Sinn unvermeidlich herabgemindert haben. Nicht genug damit, ihre Nachfolger zwangen diese einem Menschenhirn entsprungenen Deutungen den Gedankenlosen und Unwissenden auf. Jede Religion - der Buddhismus, der Hinduismus in seinen vielen Aspekten, der Islam und das Christentum - brachte eine grosse Zahl hervorragender Denker hervor, die den (meist aufrichtigen) Versuch machten, das zu verstehen, was Gott angeblich gesagt haben soll; die Lehrsätze formulierten und Dogmen aufstellten aufgrund dessen, was Gott ihrer Ansicht nach gemeint haben muss. Ihre Worte und Ideen wurden deshalb für zahllose Millionen zum religiösen Gesetz und zur unwiderlegbaren Wahrheit. Worum handelt es sich aber letzten Endes? Um die Ideen irgendeines menschlichen Denkers - interpretiert in Begriffen seiner Zeit, Tradition und Erziehung - über das, was Gott in irgendeiner heiligen Schrift «sagte», die im Lauf der Jahrhunderte den Schwierigkeiten und Irrtümern ausgesetzt war, die aus ständigen Übersetzungen entstanden sind - und darüberhinaus ohnehin oft auf mündlicher Lehre beruhte.

Die Doktrin von der mündlichen Inspiration der heiligen Schriften der Welt (die man besonders auf die christliche Bibel anwendbar glaubt), ist heute vollkommen widerlegt, und damit auch die Unfehlbarkeit der Auslegung. Man weiss, dass alle heiligen Bücher der Welt auf ungenauen Übersetzungen beruhen, und kein Teil ist nach diesen endlosen Übersetzungen heute mehr so, wie er ursprünglich war, sofern es überhaupt je ein Originalmanuskript gab und es sich in Wirklichkeit nicht um jemandes Erinnerungen an das Gesagte handelte. Allerdings darf man nicht vergessen, dass die allgemeine Richtung und die Grundlehren, ebenso wie die Bedeutung der Symbolik gewöhnlich richtig sind, obwohl selbst die Symbolik zeitgemäss übersetzt werden muss und nicht der Missdeutung durch Unwissende überlassen werden darf. Es geht darum, dass Dogmen und Doktrinen, Theologien und dogmatische Behauptungen nicht notwendigerweise auf die Wahrheit hindeuten, wie sie im Denken Gottes besteht, mit dessen Denken die meisten Dogmatiker so vertraut zu sein behaupten. Theologie ist einfach das, was die Menschen vom Denken Gottes denken.

Je älter die Schrift, umso grösser ist unvermeidlich die Entstellung. Die Doktrin eines rachsüchtigen Gottes, die Doktrin einer Vergeltung in einer mythischen Hölle, die Lehre, dass Gott nur jene liebt, die ihn im Sinne einer bestimmten theologischen Denkrichtung interpretieren, die Symbolik des Blutopfers, die Aneignung des Kreuzes als ein christliches Symbol, die Lehre von der jungfräulichen Geburt und das Bild einer zürnenden, nur durch den Tod versöhnbaren Gottheit, - das sind die unerfreulichen Resultate von des Menschen eigenem Denken, seiner eigenen niederen Natur, seines sektiererischen Isolationismus (vom jüdischen Alten Testament gefördert, aber in den Glaubensrichtungen des Orients nicht allgemein vorzufinden) und des von seiner Tiernatur ererbten Furchtgefühls, - das alles wird von der Theologie gefördert und eingeschärft, nicht aber von Christus, Buddha oder Krishna.

Das kleine Denkvermögen des Menschen auf seiner früheren und jetzigen Evolutionsstufe kann weder heute, noch konnte es jemals das Denken und die Absichten des Einen begreifen, in dem wir leben, uns bewegen und unser Dasein haben. Die Menschen haben Gott in Begriffen ihrer selbst ausgelegt; wenn Menschen also gedankenlos ein Dogma annehmen, dann akzeptieren sie lediglich den Gesichtspunkt eines anderen fehlbaren Menschen, aber durchaus keine göttliche Wahrheit. Doch gerade diese Wahrheit sollte nun endlich von den theologischen Seminaren in der Weise gelehrt werden, dass sie ihre Leute dazu erziehen, selbständig zu denken und zu beachten, dass der Schlüssel zur Wahrheit in der einigenden Kraft des vergleichenden Studiums aller Religionen liegt. Nur jene Prinzipien und Wahrheiten sind zur Erlösung wirklich notwendig, die universal anerkannt werden und in jeder Religion ihren Platz finden. Dargebotene Wahrheiten zweitrangiger oder kontroverser Art sind gewöhnlich unnötig oder nur insoweit von Bedeutung, als sie die primäre und wesentliche Wahrheit stützen.

Diese entstellte Darstellung von Wahrheit ist es, was die Menschheit zur Formulierung eines Gebäudes von Doktrinen verleitet hat von denen Christus anscheinend nichts wusste. Er kümmerte sich nur darum, dass die Menschen erkennen sollten, dass Gott Liebe ist, dass alle Menschen Kinder des einen Vaters und deshalb Brüder sind; dass des Menschen Geist ewig ist und dass es keinen Tod gibt. Er sehnte sich danach, dass der Christus im Innern eines jeden Menschen (das eingeborene Christusbewusstsein, das uns eins macht miteinander und mit Christus) in all seiner Herrlichkeit zur Blüte kommen sollte; er lehrte, dass Dienen das Leitmotiv geistiger Lebensführung sei und dass der Wille Gottes sich offenbaren würde. Das sind aber nicht die Punkte, die von der Mehrzahl der Dogmatiker in ihren Kommentaren behandelt wurden. Sie haben ad nauseam darüber diskutiert, inwieweit Christus göttlich und inwieweit er menschlich war, ferner über das Wesen der jungfräulichen Geburt, über die Funktion des Apostels Paulus als Lehrer christlicher Wahrheit, über das Wesen der Hölle, die Erlösung durch Blut und über die Authentizität und historische Belegbarkeit der Bibel.

In ihrem Denken erkennen die Menschen heute die Morgenröte der Freiheit; sie werden sich darüber klar, dass jeder Mensch die Freiheit haben sollte, Gott auf seine eigene Weise zu verehren. Das bedeutet nicht, dass sich (im kommenden neuen Zeitalter) jedermann eine theologische Richtung auswählen wird, der er sich anzuschliessen wünscht. Sein eigenes gotterleuchtetes Denkvermögen wird nach Wahrheit suchen und sie für sich selbst interpretieren. Die Zeiten der Theologie sind vorbei, und der Tag der lebendigen Wahrheit ist mit uns. Das anzuerkennen weigern sich die orthodoxen Kirchen. Wahrheit ist essentiell unumstritten; tauchen Streitfragen auf, so ist das Konzept gewöhnlich von zweitrangiger Bedeutung und besteht in der Hauptsache aus menschlichen Ideen über die Wahrheit.

Die Menschen sind heute in ihrer Ablehnung von Dogmen und Doktrinen schon sehr weit gegangen, und das ist gut, richtig und ermutigend. Es bedeutet Fortschritt, aber die Kirchen sehen darin immer noch nicht das Wirken des Göttlichen. Freiheit des Denkens, die Infragestellung dargebotener Wahrheiten, die Ablehnung von Lehren der Kirchen in Begriffen vergangener Theologie und eine Zurückweisung aufgezwungener kirchlicher Autorität sind ein Merkmal für kreatives spirituelles Denken in unserer Zeit; dies wird von orthodoxen Kirchenmännern als Anzeichen gefährlicher Tendenzen betrachtet, als Abwendung von Gott und daher als ein Verlust des Sinnes für das Göttliche. Es bedeutet genau das Gegenteil.

Vielleicht ebenso schwerwiegend wegen ihrer Wirkung auf zahllose Tausende der weniger gebildeten Allgemeinheit sind die materialistischen und politischen Ambitionen der Kirchen. In den östlichen Glaubensrichtungen ist das weniger auffällig; in der westlichen Welt führt diese Tendenz rasch zur Degeneration der Kirchen. In den Religionen des Orients hält sich seit jeher eine unheilvolle Negativität; die von ihnen verkündeten Wahrheiten reichten nicht aus, um das tägliche Leben der Gläubigen zu verbessern oder die Wahrheiten in schöpferischer Weise auf der physischen Ebene zu verankern. Die Wirkung der östlichen Glaubenslehren ist hauptsächlich subjektiv und in bezug auf die Belange des Alltags negativ. Diese Negativität der theologischen Interpretation der buddhistischen und hinduistischen Schriften hat die Menschen in einem Schlummerzustand gehalten, aus dem sie nur langsam aufzuwachen beginnen. Der mohammedanische Glaube ist, gleich dem christlichen eine positive, wenn auch sehr materialistische Darstellung der Wahrheit; die Aktivitäten beider Glaubensrichtungen waren militant und politisiert.

Der grosse westliche Glaube, das Christentum, war ausgesprochen objektiv in seiner Darstellung der Wahrheit; das war notwendig. Er war militant, fanatisch, grob materialistisch und ehrgeizig. Er hat politische Ziele mit Pomp und Zeremoniell verbunden, mit grossen Steingebäuden, mit Machtentfaltung und einer aufgezwungenen und höchst beengenden Autorität.

Die christliche Frühkirche (die verhältnismässig rein war in ihrer Darbietung der Wahrheit und ihren Lebensvorgängen) spaltete sich im Lauf der Zeit in drei Hauptzweige: die römisch-katholische Kirche, die heute aus der Behauptung, die Mutterkirche gewesen zu sein, Kapital zu schlagen sucht, die byzantinische oder griechisch-orthodoxe Kirche, und die protestantischen Kirchen. Alle haben sich wegen doktrinärer Fragen abgespalten, alle waren ursprünglich aufrichtig und sauber, verhältnismässig rein und gut. Alle sind seit dem Tag ihrer Gründung ständig mehr entartet, und heute bietet sich folgende betrübliche und ernste Situation:

1. Die römisch-katholische Kirche kennzeichnet sich durch drei Dinge, die alle dem Geiste Christi widersprechen:

a. Eine äusserst materialistische Einstellung. Die Kirche Roms ist für grosse Steinbauten, - Kathedralen, Kirchen, Institute, Konvente und Klöster. Um diese zu erbauen, hat sie es sich seit Jahrhunderten zur Regel gemacht, Reichen wie Armen das Geld aus der Tasche zu ziehen. Sie ist eine rein kapitalistische Kirche. Das in ihren Schatzkammern angesammelte Geld dient zum Unterhalt einer mächtigen Priester-Hierarchie und sorgt für deren zahlreiche Institutionen und Schulen.

b. Ein umfassendes, weitblickendes politisches Programm, das auf weltliche Macht, aber nicht auf das Wohl der kleinen Leute abzielt. Das gegenwärtige Programm der katholischen Kirche hat ausgesprochen politische Implikationen; ihre Haltung gegenüber dem Kommunismus trägt die Saat zu einem neuen Weltkrieg in sich. Die derzeitigen politischen Aktivitäten der katholischen Kirche richten sich nicht auf den Frieden, in welcher Gestalt auch immer sie dargestellt werden.

c. Eine planmässige Politik, durch welche die Masse der Gläubigen in intellektueller Unwissenheit gehalten wird, und sich aufgrund dieser Unwissenheit natürlich unter den reaktionären und konservativen Kräften vorfindet, die so mächtig am Werk sind, um dem neuen Zeitalter mit seiner neuen Zivilisation und erleuchteteren Kultur Widerstand zu leisten. Blinder Glaube und volles Vertrauen zur Geistlichkeit und zum Vatikan werden als geistige Pflicht angesehen.

Die katholische Kirche verschanzt sich geschlossen gegen jeden Versuch, dem Volk eine neue und evolutive Präsentation der Wahrheit zu bieten; ihre Wurzeln sind in der Vergangenheit, aber sie wächst nicht ins Licht; ihre riesigen finanziellen Ressourcen erlauben es ihr, die zukünftige Erleuchtung der Menschheit unter dem Deckmantel väterlicher Fürsorge und äusserem Gepränge zu gefährden, aber dahinter verbirgt sich eine Kristallisation und intellektuelle Stupidität, die ihr unvermeidlich zum Verhängnis werden muss, wenn nicht die schwachen Anzeichen neuen Lebens, die auf das Erscheinen Papst Johannes XXIII. folgten, genährt und weiterentwickelt werden können.

2. Die griechisch-orthodoxe Kirche hatte einen so hohen Grad von Korruption, Bestechlichkeit, Habgier und sexuellen Missständen erreicht, dass sie vorübergehend während der russischen Revolution abgeschafft wurde. Diese Massnahme war klug, notwendig und richtig. Diese Kirche betonte das rein Materielle, konnte aber nie (und wird auch später nicht) eine solche Macht ausüben, wie sie die römisch-katholische Kirche in der Vergangenheit besass. Die Weigerung der russischen Revolutionspartei, diese verderbte Kirche anzuerkennen, war weise und heilsam und richtete keinen Schaden an, denn das Gottesempfinden lässt sich niemals aus dem Menschenherzen vertreiben. Wenn alle Kirchenorganisationen vom Erdboden verschwänden, würde das Gottesempfinden, die Anerkennung Christi und das Wissen über ihn gestärkt und mit frischer Überzeugung in Erscheinung treten. Die Kirche in Russland ist wieder offiziell anerkannt worden und steht vor einer neuen Gelegenheit. Sie ist noch kein Faktor in Weltangelegenheiten, aber es besteht die Hoffnung, dass sie sich später einmal als erneuernde, geistige Kraft erweisen könnte. Die Herausforderung ihrer Umgebung ist gross, und sie kann es sich nicht leisten, reaktionär zu sein, wie es die Kirchen in anderen Teilen der Welt sein können - und auch sind.

3. Die protestantischen Kirchen. Die Kirche, die unter dem Gattungsnamen «protestantisch» zusammengefasst ist, zeichnet sich durch die Vielfalt ihrer Spaltungen aus; sie ist - je nachdem - grosszügig, engherzig, liberal, radikal und stets protestierend. Sie umfasst in ihrem Bereich viele Kirchen, grosse und kleine. Auch diese Kirchen zeichnen sich durch materielle Ziele aus. Sie sind verhältnismässig frei von den politischen Vorurteilen, welche die römisch-katholische Kirche beeinflussen, aber es ist eine streitsüchtige, fanatische, intolerante Glaubensgesellschaft. Der Geist der Differenzierung überwiegt; es gibt keine Einigkeit, keinen Zusammenhalt unter ihnen, sondern es herrscht meist ein ständiger Geist der Ablehnung, virulente Parteilichkeit, das Anwachsen Hunderter von protestantischen Kulten, die beharrliche Darbietung einer engstirnigen Theologie, die nichts Neues lehrt, aber immer neuen Streit hervorruft über irgendwelche Lehrsätze, Organisationsfragen oder Prozeduren. Die protestantischen Kirchen bilden einen Präzedenzfall für die scharfen Wortgefechte, von denen die älteren Kirchen aufgrund ihrer hierarchischen Verwaltung und zentralisierten autoritären Kontrolle relativ frei sind. Auch hier zeigen sich jedoch erste Bemühungen, irgendeine Form der Einheit und Kooperation zu erreichen, die sich weiterentwickeln können.

Es erhebt sich die Frage, ob sich Christus in den Kirchen wohlfühlen würde, wenn er wieder unter den Menschen wandelte. Die Rituale und Zeremonien, der Pomp und die Gewänder, die Kerzen, das Gold und Silber, die abgestuften Rangordnungen von Päpsten, Kardinälen, Erzbischöfen, Bischöfen, Kanonikern, Domherren, Pastoren, Pfarrern und anderen Geistlichen, wären sicher von geringem Interesse für den einfachen Sohn Gottes, der «auf Erden nicht wusste, wohin er sein Haupt legen sollte.»

Es gibt tief geistige Menschen, die das Schicksal in die beengenden Mauern des Kirchentums gestellt hat; insgesamt sind es viele in allen Kirchen und Glaubensrichtungen. Sie haben ein schwieriges Los; sie sehen die Zustände und tun ihr Möglichstes, um einer suchenden, leidenden Welt gesunde christliche und religiöse Ideen darzubieten. Sie sind wahre Gottessöhne und befinden sich in höchst unerfreulichen Positionen; sie sind sich über die Vermoderung klar, welche die klerikale Struktur unterminiert hat, und sehen die Bigotterie, Selbstsucht, Habgier und Engstirnigkeit in ihrer Umgebung.

Sie wissen sehr wohl, dass noch niemand durch Theologie erlöst wurde, sondern allein durch den lebendigen Christus und durch das erwachte Christusbewusstsein in jedem Menschenherzen. Sie lehnen innerlich den Materialismus in ihrer Umgebung ab und sehen in den Kirchen wenig Hoffnung für die Menschheit. Sie wissen genau, dass die geistigen Wirklichkeiten während der materiellen Entwicklung der Kirchen in Vergessenheit gerieten. Sie lieben ihre Mitmenschen und würden die zur Erhaltung der kirchlichen Einrichtungen und für Unkosten aufgewandten Beträge lieber zur Schaffung jenes Tempels Gottes umlenken, der «nicht mit Händen gemacht, ewig in den Himmeln» ist. Sie dienen jener geistigen Hierarchie, die - unsichtbar und in ruhiger Gelassenheit - hinter allen menschlichen Angelegenheiten steht, und sie empfinden keine innere Gefolgschaftstreue gegenüber irgendwelchen äusseren Kirchenhierarchien. Den Menschen zu Christus und zu jener geistigen Hierarchie in bewusste Beziehung zu bringen, das ist es, worauf es ihnen am meisten ankommt, nicht aber eine Erhöhung der Kirchenbesuche und Stärkung der Autorität von Männern kleinen Formats. Sie glauben an das Reich Gottes, dessen höchster Repräsentant Christus ist, haben aber kein Vertrauen zur weltlichen Macht, die von Päpsten und Erzbischöfen beansprucht und ausgeübt wird.

Solche Menschen gibt es in jeder grossen religiösen Organisation sowohl im Osten wie im Westen und in allen Gruppen, die vorgeblich geistigen Zielen dienen. Es sind einfache, fromme Menschen, die nichts für ihr getrenntes Selbst verlangen, die Gott in Wahrheit und im Leben repräsentieren, ohne wirklichen Anteil an der Kirche, in der sie wirken. Die Kirche leidet betrüblich unter dem Gegensatz, den sie zu ihr darstellen und lässt sie selten zu Macht und Ansehen kommen; die weltliche Macht dieser Menschen ist gleich null, aber ihr geistiges Beispiel bringt den Leuten Erleuchtung und Kraft. Sie sind die Hoffnung der Menschheit, weil sie mit Christus in Fühlung und ein wesentlicher Bestandteil des Reiches Gottes sind; sie repräsentieren die Gottheit in einer Weise, wie es die grossen Theologen und sogenannten Kirchenfürsten nur selten tun.

II. Die Gelegenheit der Kirchen

Etwas höchst Bedeutsames hat sich in der Welt ereignet. Der Geist der Zerstörung ist über die Erde gefegt und liess die Welt der Vergangenheit und die Zivilisation, die unser modernes Leben beherrscht, in Trümmern zurück. Städte und Heimstätten wurden zerstört, Königreiche und Herrscher sind in den Nachwirkungen des Krieges verschwunden; Ideologien und Lieblingsideen haben sich für die Bedürfnisse der Menschen als unzulänglich erwiesen und sind am Prüfstein der Zeit zerschellt; Hunger und Unsicherheit nahmen überhand; Familien und soziale Gruppen wurden auseinander gerissen; der Tod hat von jeder Nation seinen Tribut verlangt, und Millionen starben infolge unmenschlicher Kriegsereignisse. Verallgemeinert gesagt, hat jeder eine Lage kennengelernt, in der er der Zukunft mit Schrecken, Furcht und Hoffnungslosigkeit entgegensah; jeder musste sich fragen, was wohl diese Zukunft bringen wird, denn Sicherheit gibt es nirgends mehr. Die Stimme der Menschheit verlangt nach Licht, Frieden und Sicherheit.

Manche suchen die Lösung in neuen Ideologien, andere in der Politik und hoffen auf Abhilfe und Befreiung durch irgendwelche Regierungsmassnahmen oder durch irgendeine politische Richtung oder Partei. Wieder andere verlangen nach einem Führer, und wirkliche Führer sind derzeit nur wenige zu finden. Was an Führung vorhanden ist, kommt aus Gruppen wohlmeinender Leute und von einigen wenigen Staatsmännern, die anscheinend ebenso verwirrt sind wie die, denen sie zu helfen suchen; sie sind angesichts der Grösse der Aufgabe nahezu machtlos, denn es handelt sich um die Frage des Wiederaufbaus, der Neuorientierung und Umerziehung der gesamten Welt. Noch andere, geduldigere, planen neue Erziehungsmethoden und -systeme, welche die jetzige Generation von Kindern auf ein erfülltes Leben in der Welt von morgen vorbereiten sollen, in einer Welt, von der sie selbst nichts wissen und deren schwache Umrisse nur verschwommen sichtbar werden. Einige versinken in den Zustand der Verzweiflung, fliehen in Isolationismus und warten so philosophisch wie möglich auf die Befreiung, die der Tod bringen wird, verlangen nur noch nach etwas Nahrung und Wärme, nach ein paar Büchern und genügend Kleidung. Manche weigern sich überhaupt zu denken und erfüllen ihr Leben mit Wohlfahrtsarbeit. Sie alle erleben die Reaktion, die sich in den Nachwirkungen des Krieges einstellt. Sie haben keine Erfahrung eines friedlichen Daseins, weil sie Frieden nie wirklich kennenlernten und er auch offensichtlich noch in weiter Ferne liegt.

Vor allem aber fühlen zahllose Millionen Menschen in der ganzen Welt ein tiefes geistiges Bedürfnis, sind sich der Regungen des Geistes bewusst und erkennen diese als das, was sie sind. Sie mögen dieses Bedürfnis in vielerlei Form ausdrücken und sich verschiedener Terminologien bedienen; sie mögen die Befriedigung ihres Sehnens in den verschiedensten Richtungen suchen, aber überall besteht tatsächlich die Nachfrage nach gültigeren Werten als denen, welche die Vergangenheit bestimmten, und nach jenen Tugenden, geistigen Impulsen und Zielen, die den Menschen allem Anschein nach verlorengingen, die aber die Gesamtsumme jener Kräfte sind, welche die Menschheit zu geistigem Leben antreiben.

Überall sind die Menschen für das Licht bereit und in Erwartung einer neuen Offenbarung und einer neuen göttlichen Ordnung. Die Menschheit ist auf dem Evolutionsweg so weit fortgeschritten, dass diese Forderungen und Erwartungen sich nicht mehr nur auf materielle Besserung erstrecken, sondern auch auf geistige Vision, wahre Werte und rechte menschliche Beziehungen. Sie verlangen neben dem notwendigen Bedarf an Nahrung und Kleidung nach Belehrung und geistiger Hilfe, nach der Möglichkeit, zu arbeiten und in Freiheit zu leben; sie sind in weiten Teilen der Welt vom Hunger bedroht, und trotzdem verspüren sie mit gleicher Bestürzung den Hunger der Seele.

Die grosse Tragik liegt jedoch darin, dass sie nicht wissen, wohin sie sich wenden oder auf wessen Stimme sie hören sollen. Die Hoffnung in ihnen ist geistig und unsterblich. Dieses Hoffen und Verlangen hat die Aufmerksamkeit Christi und seiner Jünger an jener Stätte erreicht, wo sie leben, wirken und über die Menschheit wachen. Durch welche Vermittlung werden diese Kräfte des Geistes beim Wiederaufbau der Welt eingreifen? Mit welchen Mitteln werden die geistigen Führer der Rasse die Menschheit zu mehr Licht und zur Fortschrittsgelegenheit des neuen Zeitalters voranführen? Die Menschheit befindet sich auf dem Weg zur Auferstehung. Wer wird sie auf diesem Wege führen?

Werden die organisierten Religionen und Kirchen der Welt die Gelegenheit erkennen und auf den Ruf Christi und das geistige Verlangen zahlloser Millionen reagieren? Oder werden sie nur für Organisationen und für die Kirchen arbeiten? Wird der institutionelle Aspekt der Weltreligionen im Bewusstsein der Kirchenmänner schwerer wiegen als das Bedürfnis der Menschen nach einfacher Darbietung der lebensspendenden Wahrheit? Wird sich das Interesse und die Macht der Kirchen dem Neubau der materiellen Strukturen, der Wiederherstellung finanzieller Sicherheit, der Erneuerung des Ansehens veralteter Theologien und der Wiedererlangung von weltlicher Macht und Ansehen zuwenden? Oder werden die Kirchen den Weitblick und den Mut haben, ihre alten schlechten Methoden aufzugeben und sich dem Volke mit der Botschaft zuwenden, dass Gott Liebe ist, und das Vorhandensein dieser Liebe in ihrem eigenen Leben durch simplen, liebevollen Dienst am Nächsten beweisen? Werden sie den Leuten sagen, dass Christus immerdar lebt, und sie auffordern, sich von den alten Lehren von Tod und Blut und göttlicher Versöhnung durch Leiden abzuwenden und sie auf die Quelle allen Lebens und den lebendigen Christus ausrichten, der darauf wartet, jenes «Leben in grösserer Fülle» auf sie auszugiessen, das er ihnen versprach und auf das sie so lange gewartet haben? Werden sie lehren, dass die Zerstörung der alten Formen notwendig war und deren Verschwinden dafür bürgt, dass ein neues, volleres und besseres geistiges Leben jetzt möglich ist? Werden sie die Leute daran erinnern, dass Christus selbst gesagt hat, man könne neuen Wein nicht in alte Schläuche füllen? Werden die Mächtigen der Kirche und der stolze Klerus öffentlich ihre falschen und materiellen Ziele aufgeben, auf ihr Geld und ihre Paläste verzichten, «all ihre Habe verkaufen» und dem Christus auf dem Weg des Dienens folgen? Oder werden sie - wie der reiche Jüngling im Evangelium - sich traurig abwenden? Werden sie die verfügbaren Geldmittel zur Linderung von Leid und Schmerzen verwenden, wie Christus es tat, den Kindern die Dinge des Reiches Gottes lehren, wie er es tat, und ein Vorbild einfachen Glaubens, zuversichtlicher Freude und sicheren Wissens um Gott sein, wie es Christus war? Können die Geistlichen aller Glaubensrichtungen beider Hemisphären jenes innere geistige Licht erlangen, das sie zu Lichtträgern werden lässt und jenes grössere Licht hervorrufen, das die neue und erwartete Offenbarung mit Sicherheit bringen wird? Können der Materialismus, für den die Kirchen eingetreten sind, und das Versagen ihrer Vertreter, die Menschen auf rechte Weise zu belehren, beseitigt werden? Diese Dinge waren für den Weltkrieg (1914/1945) verantwortlich. Er hätte sich vermeiden lassen, hätten sich nicht Habsucht, Hass und Separatismus auf der Erde und in den Herzen der Menschen breitgemacht; diese verhängnisvollen Fehler konnten bestehen, weil geistige Werte im Leben der Menschen keinen Platz fanden, was darauf zurückzuführen war, dass diese im Leben der Kirchen seit Jahrhunderten nur eine geringfügige Rolle gespielt hatten. Die Schuld lastet schwer auf den Kirchen.

Das sind die Fragen, denen die organisierten Kirchen gegenüberstehen. Innerhalb der Kirchen gibt es heute Menschen, die auf den neuen geistigen Idealismus, die Dringlichkeit der Lage und die Notwendigkeit einer Veränderung ansprechen. Die grossen Erneuerungsbestrebungen der Kirchen in der ganzen Welt liegen immer noch in Händen der kirchlichen Würdenträger, der Synoden und Konklaven. Die derzeitige internationale Planung scheint darauf hinzudeuten, dass die Autorität noch immer falschen Leuten überlassen bleibt.

Es bestehen keine Anzeichen grösseren Ausmasses für eine grundlegende Änderung der Einstellung zu den theologischen Lehren und der Verwaltung der Kirchen. Es gibt kein Anzeichen, dass sich die grossen Religionen des Orients führend an der Schaffung einer neuen und besseren Welt beteiligen werden. Und immer noch wartet die Menschheit; sie braucht vor allem die unzweifelhafte Gewissheit, dass Gott da ist und dass es einen göttlichen Plan gibt - einen Plan, der in das Schema der Dinge passt und sowohl Hoffnung als auch Kraft in sich birgt. Die Menschen wollen überzeugt sein, dass Christus lebt; dass der Kommende - auf den alle Menschen warten - erscheinen wird, und dass er weder Christ noch Hindu noch Buddhist sein, sondern allen Menschen zugehören wird. Die Menschen brauchen die Gewissheit, dass eine grosse geistige Enthüllung fällig und unaufhaltbar ist, und dass ihnen sowohl eine geistige als auch eine materielle Zukunft sicher ist. Mit diesen Forderungen und dieser Gelegenheit sind die Kirchen konfrontiert.

Welche Lösung gibt es für diese verwickelten und schwierigen Zusammenhänge überall in der Welt? Eine neue Darbietung der Wahrheit, denn Gott ist kein Fundamentalist (oder: Buchstabengläubiger); eine neue Annäherung an das Göttliche, denn Gott ist stets zugänglich und braucht heute keine äusseren Mittler; eine neue Auslegungsart der alten geistigen Lehren, denn der Mensch hat sich fortentwickelt, und was für die kindliche Menschheit passte, entspricht heute nicht mehr der erwachsenen Menschheit. Dies sind zwingende Veränderungen.

Nichts kann die neue Weltreligion daran hindern, schliesslich in Erscheinung zu treten. Das war von jeher so und wird auch immer so bleiben. Es gibt keine endgültige Darstellung der Wahrheit; sie entwickelt sich und wächst, um dem steigenden Verlangen des Menschen nach Licht zu entsprechen. Dies wird von jenen geistig orientierten in allen Kirchen verwirklicht und entfaltet, deren Denken bereit ist, sich vom göttlichen Denken inspirieren zu lassen, die liberal und gütig sind und ein reines, höherstrebendes Leben führen. Es wird behindert von den Buchstabengläubigen, den Engstirnigen und Theologen aller Weltreligionen, von denen, die sich hartnäckig an die alten Deutungen und Methoden klammern, welche die alten Doktrinen lieben und das, was die Menschen über sie gedacht haben sowie von denen, die auf äussere Form, Gebräuche, Rituale und Pomp, auf Autorität und auf die Errichtung steinerner Bauten Wert legen, während die Menschen äusserste Not und Hunger erleiden.

Hier steht die katholische Kirche vor ihrer grössten Gelegenheit, aber auch vor ihrer grössten Krise. Der Katholizismus gründet sich auf alte Tradition, er beansprucht unbedingte kirchliche Autorität, ist für äussere Formen und Gebräuche empfänglich und trotz weitreichender wohltätiger Philanthropie unfähig, seinen Kindern Freiheit zu lassen. Wenn die katholische Kirche ihre Mechanismen ändert, ihre Autorität über die Menschenseelen (die sie in Wahrheit nie besass) aufgeben und dem Wege des Erlösers, des einfachen Zimmermanns aus Nazareth, folgen kann, dann wird sie der Welt einen Dienst erweisen und ein Beispiel geben, das geeignet ist, die Anhänger jeder Glaubensrichtung und jeden Zweiges des Christentums dem Licht näherzubringen.

Das Problem der Freiheit der menschlichen Seele und ihrer individuellen Beziehung zum immanenten und zum transzendenten Gott, - das ist das spirituelle Problem, das derzeit alle Weltreligionen angeht. Nicht länger dürfen die Kirchen mit ihrer Autorität und ihren Auslegungen zwischen Gott und dem Menschen stehen. Die Zeit hierfür ist vorbei. Das Problem hat sich im Lauf der Jahrhunderte langsam zugespitzt und zugleich mit dem Wachsen des menschlichen Intellekts und Eigenbewusstseins entwickelt; und heute schreit es laut nach einer Lösung.

III. Die wesentlichen Wahrheiten

Es gibt bestimmte Leitgedanken, welche die Zukunft der Religion verkörpern und das Denken der erleuchteten Kirchenleute aller Glaubensrichtungen derzeit bestimmen sollten. Sie treffen sowohl für den Osten als auch für den Westen zu. Sie lauten: Weltreligion - Enthüllung - Erkenntnis. Sie werden von engstirnigen Christen oder solchen Anhängern auch anderer Glaubensrichtungen nicht akzeptiert werden.

Der Tag ist nicht mehr fern, an dem man den Ursprung aller Religionen aus einer einzigen, grossen geistigen Quelle sehen wird; man wird erkennen, dass sie alle gemeinsam die eine Wurzel bilden, aus der unvermeidlich die universale Weltreligion hervorgehen wird. Dann wird es weder Christen noch Heiden, weder Juden noch Nichtjuden geben, sondern nur eine grosse Gesamtheit von Gläubigen, die aus allen bestehenden Religionen gesammelt ist. Sie werden die gleichen Wahrheiten akzeptieren, aber nicht als theologische Konzepte, sondern als wesentliche Bestandteile geistiger Lebensführung; sie werden zusammenstehen auf der gleichen Plattform der Bruderschaft und der mitmenschlichen Beziehungen; sie werden die Gotteskindschaft anerkennen und vereint am göttlichen Plan mitzuwirken suchen, so weit er ihnen von den geistigen Führern der Menschenrasse enthüllt wird und den nächsten Schritt auf dem Pfad der Annäherung zu Gott erkennen lässt. Solch eine Weltreligion ist kein eitler Traum, sondern etwas, das heute unverkennbar im Werden ist.

Ein zweiter aufscheinender Wegweiser zum geistigen Leben ist die Hoffnung auf Enthüllung. Nie zuvor war das menschliche Bedürfnis danach grösser, niemals die Gewissheit der Enthüllung sicherer; nie zuvor hat der Menschengeist so dringend nach göttlicher Hilfe gerufen wie jetzt, und deshalb steht den Menschen eine grössere Offenbarung bevor als jemals vorher. Worin diese Offenbarung bestehen wird, können wir nicht wissen. Die Enthüllung der Gottnatur ist ein langsamer Entfaltungsprozess gewesen und lief parallel mit dem evolutiven Wachstum des menschlichen Bewusstseins. Es ist nicht unsere Sache, diese Enthüllung mit unserem konkreten Denken zu definieren oder zu begrenzen, aber wir müssen uns darauf vorbereiten, unsere intuitive Wahrnehmungskraft entfalten und in Erwartung des enthüllenden Lichtes leben.

Eine Weltreligion, eine erwartete Enthüllung und dann die sich zur Gewohnheit entwickelnde geistige Erkenntnis! Es ist Aufgabe der Kirchen, die Menschen in der Entfaltung dieser latenten Erkenntniskraft zu unterweisen - in der Erkenntnis göttlicher Schönheit in allen Formen, in der Erkenntnis zukünftiger Dinge, die ein alter Hindu-Seher als die «Regenwolke wissbarer Dinge» bezeichnete, die über der Menschheit schwebt und bereit ist, die Wunder auszugiessen, die Gott jenen vorbehalten hat, welche die wahre Bedeutung der Liebe kennen. Auf diesen drei Linien sollte sich künftig die Arbeit der Kirchen bewegen; die Durchführung dieser Aufgabe würde die Kirchen wahrhaft erneuern und alle Fehler der Vergangenheit löschen.

Diese drei Einstellungen, welche die Kirchen den Menschen überall darbieten können, enthalten Wahrheiten, die in allen Weltreligionen die gleichen sind:

1. Die Tatsache des immanenten und der transzendenten Gottes

Die östlichen Glaubensrichtungen haben von jeher den immanenten Gott betont, im Innersten des menschlichen Herzens, ihm «näher als Hände oder Füsse», das Selbst, das Eine, das Atma, kleiner als das Kleine und doch allumfassend. Die westlichen Glaubensrichtungen haben Gott als transzendent dargestellt, ausserhalb seines Universums, ein Zuschauer. Der transzendente Gott hat zunächst die menschliche Auffassung von der Gottheit bestimmt, denn das Handeln dieses transzendenten Gottes offenbarte sich in den Vorgängen der Natur; später, in der jüdischen Religionsordnung, erschien er als der Stammesgott Jehova, als die Seele (die eher unangenehme Seele) einer Nation. Danach wurde Gott zugleich als ein vollendeter Mensch angesehen, und in der Person Christi wandelte dieser himmlische Gottmensch auf Erden. Heute betont man mehr und mehr den in jedem Menschenwesen und in jeder geschaffenen Form immanenten Gott. Deshalb müssten die Kirchen jetzt eine Synthese dieser beiden Ideen darbieten, die in den Worten Sri Krishnas in der Bhagavad Gita zusammengefasst sind: «Nachdem Ich dieses ganze Universum mit einem Bruchteil Meiner Selbst durchdrungen habe, verbleibe Ich.» Gott, grösser als das erschaffene Ganze und dennoch gegenwärtig in jedem Teil; der transzendente Gott verbürgt den Weltenplan und ist die Absicht, die sich in allen Lebensformen ausprägt, vom winzigsten Atom durch alle Naturreiche hinauf bis zum Menschen.

2. Die Tatsache der Unsterblichkeit und des Ewigen Fortbestehens

Der Geist im Menschen ist unsterblich; er bleibt fortbestehen, indem er von Punkt zu Punkt, von Stufe zu Stufe auf dem Evolutionspfad fortschreitet und dabei nacheinander die göttlichen Attribute und Aspekte entfaltet. Diese Wahrheit umfasst notwendigerweise die Erkenntnis zweier grosser Naturgesetze: des Gesetzes der Wiedergeburt und des Gesetzes von Ursache und Wirkung. Im Westen haben sich die Kirchen geweigert, das Gesetz der Wiedergeburt offiziell anzuerkennen, und sind damit in einen theologischen Stillstand und eine Sackgasse geraten, aus der es keinen Ausweg gibt. Die Kirchen des Ostens hingegen haben diese Gesetze überbetont, so dass die Menschen von einer negativen Ergebenheitshaltung dem Leben und dessen Vorgängen gegenüber beherrscht werden, da sich ja die Gelegenheit immer wieder von neuem bietet. Das Christentum hat zwar die Unsterblichkeit hervorgehoben, hat aber ewige Glückseligkeit von der Annahme eines theologischen Dogmas abhängig gemacht: Sei ein wahrhaft bekennender Christ und lebe ewig in einem (eher einfältigen) Himmel, oder weigere dich, ein fügsamer Christ zu sein, dann kommst du in eine (unmögliche) Hölle, - in eine Hölle, die aus der Theologie des Alten Testaments und ihrer Präsentation eines hasserfüllten, eifersüchtigen Gottes aufkam. Beide Auffassungen werden heute von allen vernünftigen, aufrichtig denkenden Menschen abgelehnt. Kein Mensch mit einigermassen gesundem Menschenverstand oder mit wirklichem Glauben an einen Gott der Liebe akzeptiert den Himmel der Kirchenleute oder hätte etwa den Wunsch, dorthin zu gehen. Noch weniger akzeptiert er den «Pfuhl, der mit Feuer und Schwefel brennt» oder die ewigen Qualen, zu denen ein Gott der Liebe angeblich alle jene verdammt, die nicht an die theologischen Auslegungen des Mittelalters, der modernen Fundamentalisten oder solcher Kleriker glauben wollen, die - durch Doktrin, Furcht und Drohung - die Menschen an die alten, überlebten Lehren zu binden suchen.

Die wesentliche Wahrheit liegt anderswo. «Was immer ein Mensch säet, das wird er ernten» ist die Wahrheit, die wieder betont werden muss. Mit diesen Worten umschreibt Paulus die uralte, wahre Lehre vom Gesetz von Ursache und Wirkung, das man im Osten das Gesetz des Karma nennt. Dem fügt er an anderer Stelle die Weisung hinzu: «Schaffet, dass ihr selig werdet», und da das der theologischen Lehre widerspricht und vor allem in einem einzigen Leben unmöglich ist, bestätigt er damit gleichzeitig das Gesetz der Wiedergeburt und macht die Lebensschule zu einer ständig wiederkehrenden Erfahrung, bis der betreffende Mensch das (für jeden Einzelnen gültige) Gebot Christi erfüllt hat: «Darum seid vollkommen, gleichwie euer Vater im Himmel vollkommen ist». Durch Erkenntnis der Folgen des Handelns - sei es gut oder schlecht - und durch ständig wiederkehrende Inkarnationen auf Erden gelangt der Mensch mit der Zeit «zum vollendeten Mass der Fülle Christi».

Die Tatsache dieser eingeborenen Göttlichkeit erklärt den Drang im Herzen jedes Menschen nach Verbesserung, nach Erfahrung und Fortschritt, nach mehr Erkenntnis sowie sein ständiges Vorwärtsstreben nach der fernen Höhe, die er innerlich erschaut hat. Es gibt keine andere Erklärung für die Fähigkeit des Menschengeistes, aus Dunkelheit, Elend und Tod emporzusteigen zum Leben und zum Guten. Dieser Aufstieg ist die nie versagende Geschichte des Menschen gewesen. Immer wieder geschieht der Menschenseele etwas, was sie der Quelle alles Guten näher bringt, und nichts auf Erden kann diesen Fortschritt aufhalten, der näher zu Gott führt.

3. Christus und die Hierarchie

Die dritte grosse, geistige und wesentliche Wahrheit ist die Tatsache Christi, des lebendigen Christus, der unter seinem Volke lebt und sein Versprechen erfüllt: «Siehe, ich bin bei euch, alle Tage bis an der Welt Ende,» und der seine Gegenwart in dem Masse immer stärker fühlbar macht, wie die Menschen ihm und seiner Gruppe von Jüngern und Mitarbeitern in der Welt näherkommen. Die Kirche betonte seit jeher (und noch heute) den toten Christus. Die Menschen haben vergessen, dass er lebt, obwohl sie dieser gläubigen Hoffnung zu Ostern versuchsweise Anerkennung zollen, hauptsächlich weil seine Auferstehung unsere eigene verbürgt und «weil er lebt, werden auch wir leben.» Die Tatsache seiner lebendigen Wirklichkeit und Gegenwart, hier und jetzt auf Erden, wird nicht betont, höchstens in unbestimmten und hoffnungsvollen Verallgemeinerungen. Die Menschen haben vergessen, dass Christus mit uns auf Erden lebt, umgeben von seinen Jüngern, den Meistern der Weisheit, zugänglich jenen, die ihm in rechter Weise zu nahen wissen, der die Menschen erlöst kraft seines Beispiels und durch den Lebensausdruck der in ihm ist und der - unausgedrückt und von den meisten noch unentdeckt - auch in jedem Menschen zu finden ist.

In der kommenden Weltreligion wird man diese Wahrheiten betonen. Man wird das Leben verkünden und nicht den Tod; man wird die Menschen lehren, dass durch geistige Lebensführung ein geistiger Status erreichbar ist, und wird die Tatsache der Existenz derer betonen, die auf solche Weise das Ziel erreichten und mit Christus zusammenarbeiten, um der Menschheit zu helfen und sie zu erlösen. Die Tatsache der geistigen Hierarchie auf unserem Planeten, die Fähigkeit der Menschen, mit ihren Mitgliedern in Kontakt zu kommen und mit ihnen zusammenzuarbeiten sowie die Existenz derer, die wissen, was Gottes Wille ist, und diesen Willen intelligent zur Auswirkung bringen können, - das sind die Wahrheiten, auf denen die künftige geistige Lehre beruhen wird.

Die Tatsache der Existenz dieser Hierarchie und ihres höchsten Hauptes, des Christus, wird heute von Hunderttausenden bewusst erkannt, aber von den Orthodoxen noch geleugnet. So viele kennen und wissen diese Wahrheit, und so viele integre, wertvolle Menschen arbeiten bewusst mit den Mitgliedern der Hierarchie zusammen, dass klerikaler Antagonismus und herabsetzende Kommentare von seiten derer, die im konkreten Denken befangen sind, ohne Wirkung bleiben. Die Menschen treten hervor aus der Last doktrinärer Autorität in direkte, persönliche geistige Erfahrung; dabei kommen sie unter den unmittelbaren, mächtigen Einfluss, den ein Kontakt mit Christus und seinen Jüngern, den Meistern, stets mit sich bringt.

Christus in jedem Menschen, als Bürge unserer schliesslichen geistigen Errungenschaft; Christus als das lebendige Beispiel für diese Errungenschaft, der um unsertwillen in diese Welt kam und uns dieses Beispiel hinterliess, damit wir seinen Fussstapfen folgen sollten; Christus der immer fortlebt und seit zweitausend Jahren bei uns geblieben ist, über seinem Volk wachte und seine Jünger, die Meister der Weisheit inspirierte, jene «gerechten, zur Vollendung gebrachten Menschen» (wie die Bibel sie nennt); Christus, der uns die Möglichkeit dieses sich entfaltenden, lebendigen geistigen Bewusstseins in anschaulicher Weise demonstrierte (dem man die etwas vage Bezeichnung «Christusbewusstsein gab), das am Ende jeden Menschen - unter den Gesetzen von Wiedergeburt und von Ursache und Wirkung - zur schliesslichen Vollendung bringt; das sind die Wahrheiten, welche später einmal von der Kirche bekräftigt und gelehrt und durch die Lebensführung und die Worte ihrer Exponenten zum Ausdruck kommen werden. Dieser Wandel der doktrinären Darstellung wird zu einer von der heutigen grundverschiedenen Menschheit führen; er wird eine Menschheit hervorbringen, die in allen Menschen das Göttliche auf verschiedenen Ausdrucksstufen erkennen wird, eine Menschheit, die nicht nur die Wiederkehr Christi erwartet, sondern ganz sicher ist, dass er kommen und wieder in Erscheinung treten wird, - nicht aus einem fernen Himmel, sondern von einer Stätte auf Erden, wo er stets war, Tausenden bekannt und erreichbar, aber ferngehalten von den Theologien und den furchterzeugenden Taktiken der Kirchen.

Sein Kommen wird nicht so sehr eine triumphale Rückkehr zu einer siegreichen Kirche («siegreich», weil sie so gute Arbeit geleistet hat?), sondern vielmehr eine Anerkenntnis seiner faktischen Existenz seitens derer sein, die bis dahin gegenüber seiner Gegenwart unter ihnen blind waren und die Tatsache seines Amtes und seiner unermüdlichen Tätigkeit auf Erden nicht erkennen konnten. Er kommt nicht wieder, um zu regieren, denn er hat nie aufgehört zu regieren, zu wirken und zu lieben; aber die Menschen werden endlich die Anzeichen seiner Betätigung und seiner Gegenwart erkennen und wissen, dass er es ist, der die Kirchen zu Fall bringt kraft seines Einflusses auf die Herzen und Leben der Menschen. Dann werden die Menschen klar erkennen, dass das Wort «geistig» wenig mit Religion zu tun hat, was bislang seine Hauptbedeutung war, sondern dass es zugleich göttliche Aktivität in jeder Phase des menschlichen Lebens und Denkens bedeutet; sie werden die erstaunliche Wahrheit begreifen, dass eine gesunde Wirtschaftsstruktur, klare Humanitätsideale, eine wirksame Erziehung (welche die Menschen zu freien Bürgern dieser Welt heranbildet) und eine der Verbesserung des menschlichen Daseins gewidmete Wissenschaft, dass alle diese Faktoren zutiefst geistig sind und zusammengenommen in ihrer Nützlichkeit eine Verkörperung religiöser Wahrheit bilden; sie werden entdecken, dass organisierte Religion nur eines der Stadien dieser weltweiten Erfahrung des Göttlichen ist.

Christus wird daher sicherlich auf dreierlei Weise kommen, sobald die Menschen erkennen, dass er wahrhaft hier ist wie er stets hier war, seit er scheinbar die Erde verliess; er wird auch in dem Sinne kommen, dass er seine fortgeschrittenen Jünger überlichten, inspirieren, direkt leiten und bei ihrem Bemühen um rechte mitmenschliche Beziehungen persönlich mit ihnen beraten wird, in dem Ausmass, in dem sie als leitende Ausführungsorgane des göttlichen Willens bekannt werden; er wird auch überall in die Herzen der Menschen kommen und sich manifestieren als der innewohnende Christus, der dem Licht entgegenringt und die Menschenleben zu bewusster Erkenntnis der Göttlichkeit beeinflusst. Die Menschen werden dann in grossem Massstab die Bethlehem-Erfahrung durchmachen; der Christus in ihnen wird zur Geburt kommen und sie zu «neuen Menschen» machen.

Die Verbreitung dieser existierenden Wahrheiten wird die künftige Aufgabe der Kirchen sein und der Masse der Menschheit eine grosse innere Erneuerung bringen, eine Auferstehung zum Leben und eine Wiederherstellung des göttlichen Lebens auf Erden durch eine Christusbewusste Menschheit.

Wenn das einmal in weitem Ausmass der Fall ist und die Erkenntnis dieser Wahrheiten sich über die ganze Welt erstreckt, dann wird es zur Wiederherstellung der Mysterien kommen und zu der daraus folgenden Erkenntnis, dass das Reich Gottes auf Erden ist, und dass der Mensch in der Tat und in Wahrheit zum Bilde Gottes geschaffen ist und unvermeidlich - durch den Ablauf der Zeit und der Lebensschulung - seine wesentliche Göttlichkeit manifestieren muss, wie Christus es tat.

4. Die Bruderschaft der Menschen

Viel ist über Bruderschaft geschrieben und gesagt, gepredigt und geredet worden. So viel ist darüber gesagt und so wenig Brüderlichkeit ist praktiziert worden, dass das Wort einigermassen in Verruf kam. Dennoch ist dieses Wort eine Feststellung des eigentlichen Ursprungs und Zieles der Menschheit, der Grundton des vierten, des menschlichen Naturreiches.

Bruderschaft ist eine grosse Naturtatsache; alle Menschen sind Brüder; unter den oberflächlichen Abweichungen in Farbe, Bekenntnis, Kultur und Zivilisation gibt es nur eine Menschheit, ohne Unterschied oder Verschiedenheit in bezug auf ihre wesentliche Natur, ihren Ursprung, ihre geistigen und mentalen Ziele, Befähigungen und Qualitäten sowie der Art der Entwicklung und evolutiven Entfaltung. In diesen göttlichen Attributen (denn darum handelt es sich dabei) sind alle Menschen gleich; lediglich in bezug auf Zeit und Ausmass des erzielten Fortschritts in der Enthüllung der eingeborenen Göttlichkeit in ihrer Fülle treten zeitweilige Unterschiede in Erscheinung. Diese zeitweiligen Unterschiede und die «Sünden», die Unwissenheit und mangelnde Erfahrung verraten, haben die Aufmerksamkeit der Kirchen so sehr beansprucht, dass die erfassbare, durchdringende Vision des Göttlichen in jedem Menschen gänzlich ausgeschlossen bleibt. Diese Tatsache der essentiellen Bruderschaft muss nun endlich von den Kirchen gelehrt werden, - nicht vom Standpunkt eines transzendenten Gottes und eines äusseren, unerforschlichen Vaters -, sondern im Sinne des göttlichen Lebens, das ewig in jedem menschlichen Herzen lebendig und ewig bemüht ist, sich durch einzelne, durch Nationen und Rassen zum Ausdruck zu bringen.

Die wahre Wesensäusserung dieser realisierten Bruderschaft muss unvermeidlich durch Verwirklichung rechter mitmenschlicher Beziehungen und die Kultivierung des guten Willens erfolgen. Die Kirchenleute haben den Vers des Gesanges der Engel vergessen: «Ehre sei Gott in der Höhe und Friede den Menschen auf Erden, die guten Willens sind,» Sie haben nicht begriffen und deshalb auch zu lehren versäumt, dass nur in dem Mass, in dem guter Wille sich im täglichen Leben der Menschen manifestiert, rechte menschliche Beziehungen herstellbar sind und Friede auf Erden kommen kann. Auch haben sie nicht verstanden, dass es keine Glorie Gottes auf Erden gibt, solange nicht der Friede auf der Erde durch guten Willen unter den Menschen zur Tatsache geworden ist. Die Kirchen haben vergessen, dass alle Menschen «Söhne des einen Vaters» und deshalb Brüder sind; dass alle Menschen göttlich und einige von ihnen bereits gottbewusst sind und Göttlichkeit ausdrücken; dass einige Menschen aufgrund ihrer Evolutionsstufe Christus kennen, weil der Christus in ihnen wirkt, während andere noch bemüht sind, das Christusleben zu aktivieren; wieder andere sind sich des tief in ihren Herzen verborgenen göttlichen Wesens noch ganz unbewusst. Es gibt nur Gradunterschiede des Bewusstseins, aber keinen Unterschied im Wesen.

5. Die göttlichen Annäherungen