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Kapitel 1 - Die Psychologische Rehabilitation der Nationen

Kapitel 1

Die Psychologische Rehabilitation der Nationen

Dieses Problem ist viel komplizierter und tiefgreifender, als es auf den ersten Blick erscheinen mag. Hätten wir uns nur mit den nationalen Psychosen und den durch Krieg und die Kriegsteilnahme hervorgerufenen mentalen Zuständen zu befassen, wäre das Problem schon drängend genug; aber es wäre leicht zu lösen durch Wiederherstellung der Sicherheit, durch vernünftige psychologische Behandlung der verschiedenen Nationalitäten, durch deren physische Rehabilitation und die Wiederherstellung der Freiheit und der Entwicklungsmöglichkeiten, durch Schaffung von mehr Freizeit und vor allem durch Organisation der Menschen guten Willens. Die letztgenannte Gruppe wäre auch bereit, die notwendigen Erziehungsprozesse in die Wege zu leiten, und (was noch wichtiger ist) sie würde versuchen, geistige Inspiration zu vermitteln, welche die Menschheit derzeit so schmerzlich nötig hat. Es gibt heute genug Männer und Frauen guten Willens in der Welt, die fähig sind, dies zu bewerkstelligen, wenn sie erreicht, inspiriert und sowohl materiell als auch geistig in ihren Bemühungen unterstützt werden können.

Die Lage ist viel schwieriger, als eine beiläufige Analyse sie erscheinen lässt. Das hier behandelte psychologische Problem hat einen jahrhundertealten Hintergrund, welcher der Seele jeder einzelnen Nation tief eingeprägt ist und heute das Denken ihrer Bevölkerung machtvoll bestimmt. Hierin liegt die grösste Schwierigkeit, und sie ist so geartet, dass sie nicht leicht durch irgend eine Anstrengung oder geistige Bemühung überwunden werden kann, weder von den organisierten Kirchen (die einen bedauerlichen Mangel an Verständnis für dieses Problem zeigen) noch von geistig orientierten Gruppen oder einzelnen.

Die Arbeit, die getan werden muss, ist bitter notwendig, und die Gefahren bei Nichterfüllung dieser Aufgabe sind so erschreckend, dass es erforderlich erscheint, gewisse grosse Gefahrenlinien und gewisse nationale Tendenzen, die eine Bedrohung des Weltfriedens in sich schliessen, aufzuzeigen. Diese Probleme zerfallen ganz natürlich in zwei Kategorien:

I. Die inneren psychologischen Probleme der einzelnen Nationen.

II. Die hauptsächlichsten Weltprobleme, wie die Beziehung zwischen den Nationen und zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern.

Bevor die Welt zu einem sichereren, angenehmeren, gesünderen und schöneren Aufenthaltsort werden kann, müssen alle Nationen eine Bestandsaufnahme ihrer eigenen Situation vornehmen und damit anfangen, ihre eigenen psychologischen Schwächen und Komplexe zu behandeln. Jede Nation muss gesunde mentale Zustände anstreben und sich bemühen, vernünftigen psychologischen Zielvorstellungen zum Durchbruch zu verhelfen. Es muss internationale Einheit erreicht werden, und diese darf nicht nur auf gegenseitigem Vertrauen beruhen, sondern muss auch auf korrekten, weltweit gemeinsamen Zielsetzungen und psychologischem Verständnis begründet sein.

Männer und Frauen streben überall nach individuellem Fortschritt, und Gruppen in jeder Nation erstreben ähnliche Ziele; der Vorwärtsdrang nach grösserer Schönheit des Ausdrucks, des Charakters und der Lebensbedingungen ist das überragende, ewige Merkmal der Menschheit. In früheren Stadien der Menschheitsgeschichte zeigte sich dieser Drang im Wunsch nach besseren materiellen Umständen und Umweltbedingungen; heute drückt er sich in einem Verlangen nach Schönheit, Musse und Kultur aus; er bringt die Möglichkeit schöpferischen Wirkens zum Ausdruck und führt schrittweise, aber unvermeidlich in das Stadium, wo rechte menschliche Beziehungen allererste Priorität erlangen.

Heute steht jede Nation vor einer grossen, einzigartigen Gelegenheit. Bisher hat man sich dem Problem der psychologischen Integration, eines intelligenten Lebens, geistigen Wachstums und göttlicher Offenbarungen nur vom Standpunkt des Menschen als der «Einheit» genähert. Dank der wissenschaftlichen Errungenschaften der Menschheit (infolge der Entfaltung des Intellekts) ist es jetzt möglich geworden, in viel weiteren Begriffen zu denken und die Menschheit aus einer gültigeren Perspektive zu sehen. Unser Horizont weitet sich ins Unendliche; unsere Blicke konzentrieren sich nicht mehr ausschliesslich auf den unmittelbaren Vordergrund. Die Familieneinheit sehen wir in Verbindung mit der Gemeinde, die Gemeinde als integralen, wirksamen Bestandteil der Stadt, des Staates oder der Nation. Undeutlich und noch wenig wirksam projizieren wir die gleiche Vorstellung auch auf das Gebiet der internationalen Beziehungen. Die Denker der ganzen Welt arbeiten im internationalen Rahmen, und das ist die Garantie für die Zukunft, denn nur wenn die Menschen in diesen weiteren Begriffen denken können, wird eine Verschmelzung aller Menschen überall möglich, wird wahre Brüderlichkeit entstehen und die Menschheit in unserem Bewusstsein zu einer Tatsache.

Die meisten Menschen denken heute in Begriffen ihrer eigenen Nation oder ihrer Gruppe, und das ist ihr breitestes Konzept; sie haben die Stufe ihres individuellen physischen und mentalen Wohlbefindens überschritten und erkennen die Möglichkeit, ihren Anteil an Nützlichkeit und Stabilität zum nationalen Ganzen beizutragen; sie suchen mitzuarbeiten, zu verstehen und das Wohl der Gemeinschaft zu fördern. Das ist nichts Seltenes, sondern trifft auf viele Tausende in jeder Nation zu. Dieser Geist und diese Einstellung werden eines Tages auch die Haltung zwischen den einzelnen Nationen charakterisieren. Gegenwärtig ist es nicht der Fall, sondern es herrscht eine ganz andere psychologische Einstellung. Die Nationen erstreben und verlangen nur ihr eigenes Bestes, egal was es die anderen kostet; sie sehen das als die richtige Einstellung, als Charakteristikum eines guten Staatsbürgers an. Die Nationen sind durch Hass und Vorurteile geprägt, wovon vieles heute ebenso unangebracht ist wie schmutzige Reden in einer religiösen Versammlung. Die Nationen sind durch Rassenschranken, Parteistreitigkeiten und religiöse Einstellungen gespalten und entzweit. Das bringt unvermeidlich Unordnung und schliesslich Unheil.

Ein starker nationalistischer Geist voll Geltungsbedürfnis und Prahlerei kennzeichnet die Bürger der meisten Länder, besonders in ihrer gegenseitigen Beziehung. Daraus entstehen Abneigung, Misstrauen und der Abbruch echter menschlicher Beziehungen. Alle Nationen haben sich dieser Eigenschaften und Haltungen, die sich je nach individueller Kultur und Begabung ausdrücken, schuldig gemacht. In allen Nationen wie in allen Familien gibt es aber auch Gruppen oder einzelne, die in den Augen des wohlmeinenden Rests anerkannte Störenfriede sind. Es gibt in der internationalen Völkergemeinschaft Nationen, die seit langer Zeit störende Elemente waren und es immer noch sind.

Das Problem der Wechselwirkung und des Zusammenwirkens zwischen den Nationen ist zum grössten Teil ein psychologisches. Die Seele einer Nation besitzt eine machtvolle Wirkung. Die nationale Gedankenform (die seit Jahrhunderten durch das Denken, die Zielsetzungen und den Ehrgeiz einer Nation aufgebaut worden ist) bildet ihre ideelle Zielsetzung und bestimmt äusserst wirkungsvoll die Eigenschaften der Bevölkerung. Ein Pole, ein Franzose, ein Amerikaner, ein Hindu, ein Engländer oder ein Deutscher ist leicht erkennbar, wo er auch sein mag, und dieses Erkennen gründet sich nicht nur auf seine Erscheinung, Sprache oder Gewohnheiten, sondern in erster Linie auf die durch ihn zum Ausdruck gebrachte Denkungsart, seinen Sinn für Relativität und sein generelles nationales Selbstbewusstsein. Diese Kennzeichen sind Ausdruck der Reaktion auf die nationale Gedankenform, unter deren Einwirkung der Mensch aufgewachsen ist. Wenn ihn diese Reaktion zu einem guten, kooperativen Bürger innerhalb der nationalen Grenzen macht, so ist das gut und wünschenswert. Macht sie ihn aber rechthaberisch, anmassend und kritisch gegenüber den Bürgern anderer Länder und ruft sie in seinem Denken Trennungstendenzen hervor, dann trägt er zur Uneinigkeit in der Welt und - im Ganzen - zur internationalen Zerrissenheit bei. Das ist eine Bedrohung des Weltfriedens. Daher wird das Problem zu einer Frage, die alle Völker angeht. Auch Nationen können antisozial sein (und sind es häufig), und alle Nationen enthalten diese antisozialen Elemente.

Eigennutz mit den damit verbundenen Schwächen ist zur Zeit das Kennzeichen der meisten Menschen. Doch gibt es in allen Ländern auch solche, welche diese egozentrischen Neigungen überwunden haben, und viele, die sich mehr für das öffentliche und nationale Wohl interessieren als für sich selbst. Wenige, sehr wenige im Vergleich zur Masse der Menschen, sind jedoch international eingestellt und beschäftigen sich mit dem Wohlergehen der Menschheit als Ganzes. Sie wünschen sich sehnlichst die Anerkennung der einen Welt, der einen Menschheit.

Das Stadium nationalistischer Selbstsucht und eines starren Festhaltens an nationaler Integrität - was allzu oft im Sinne von Grenzen und Handelsexpansion interpretiert wird - muss allmählich verschwinden. Die Nationen müssen schliesslich zu einer nutzbringenderen Erkenntnis und an einen Punkt gelangen, wo sie ihre Kultur, ihre nationalen Hilfsquellen und ihre Fähigkeit, der ganzen Menschheit zu dienen, als ihren Beitrag erkennen, den sie zum Wohle des Ganzen leisten müssen. Die Betonung weltlicher Besitztümer und ausgedehnter Hoheitsgebiete ist kein Zeichen der Reife; der Kampf um deren Erhaltung und weitere Expansion ist vielmehr ein Zeichen «jugendlicher Unreife». Aber die Menschheit wird jetzt erwachsen. Erst jetzt zeigt sie einen umfassenderen Sinn für Verantwortung und die Fähigkeit zur Behandlung ihrer Probleme oder zu einem Denken in weiteren Begriffen. Der Weltkrieg war bezeichnend für Unreife, jugendliches Denken, unkontrollierte, kindische Emotionen und die Forderung - der antisozialen Nationen - nach dem, was nicht ihnen gehörte. Wie Kinder riefen sie nach «mehr».

Der ausgeprägte Isolationismus und die «Hände weg»-Politik gewisser Gruppen in den Vereinigten Staaten, die Forderung nach einem weissen Australien und einem weissen Südafrika, der Ruf «Amerika den Amerikanern» oder der britische Imperialismus und das Geltungsbedürfnis Frankreichs sind weitere Beispiele. Sie alle demonstrieren die Unfähigkeit, in umfassenderen Begriffen zu denken; sie sind Ausdruck der Verantwortungslosigkeit der Welt und ein Zeichen des kindischen Wesens der Menschheit, das die Grösse des Ganzen, von dem jede Nation nur ein Teil ist, noch nicht verstehen kann. Krieg und das ständige Bestehen auf Landesgrenzen, die auf der historischen Vergangenheit beruhen, das Festhalten an materiellen, nationalen Besitztümern auf Kosten anderer Völker, werden einer reiferen Menschheit eines Tages wie Kinderstreitigkeiten um ein Lieblingsspielzeug erscheinen. Der herausfordernde Ruf «Das gehört mir!» wird eines Tages nicht mehr zu hören sein. Diese aggressive, unreife Geisteshaltung hat inzwischen im Weltkrieg von 1914 bis 1945 ihren Höhepunkt erreicht und in tausend Jahren wird ihn die Geschichte als den Gipfel kindischer Selbstsucht beurteilen, der von anmassenden Kindern angezettelt wurde, deren Aggressivität nicht Einhalt geboten werden konnte, weil die anderen Nationen auch noch zu kindisch waren, um sofort hart einzugreifen, als sich die ersten Anzeichen des Krieges zeigten.

Die Menschenrasse steht vor einer neuen Krise von Aufstiegsmöglichkeiten, in der neue Werte als wichtig erkannt und die Herstellung rechter menschlicher Beziehungen als wünschenswert erachtet werden, und zwar nicht nur vom idealistischen Standpunkt, sondern auch aus rein selbstsüchtigen Gründen. Eines Tages werden die Prinzipien der Kooperation und des Teilens anstelle von Habsucht und Wettbewerb treten. Das ist der unvermeidbar nächste Schritt, den die Menschheit zu machen hat - ein Schritt, auf den sie durch den ganzen Evolutionsprozess vorbereitet wurde.

Es waren auch rein selbstsüchtige und eigennützige Motive, die verschiedene Nationen daran hinderten, den Mächten des Lichtes zur Seite zu stehen; sie behielten ihren egoistischen Neutralitätsstandpunkt bei und verlängerten dadurch den Krieg um Jahre. Ist es nicht denkbar, dass dieser Krieg nicht so lange hätte dauern müssen, wenn damals, als zuerst die Deutschen in Polen einmarschierten und daraufhin Frankreich und England Deutschland den Krieg erklärten, die gesamte zivilisierte Welt der Nationen ausnahmslos gleichfalls den Krieg erklärt hätte, um sich gemeinsam zur Bekämpfung des Angreifers zu verbünden? Innerpolitische Rücksichten, internationale Eifersüchteleien, altes Misstrauen und Hass, Furcht und die Weigerung, die Tatsachen zu erkennen, verursachten diese Uneinigkeit. Hätten im Jahre 1939 alle Nationen klar gesehen und auf ihre individuellen Eigeninteressen verzichtet, wäre der Krieg viel früher beendet gewesen. Hätten sich alle Nationen gleich zum Eingreifen entschlossen als Japan in die Mandschurei, oder Italien in Abessinien einfielen, wäre dieser Krieg, der den ganzen Planeten verwüstet hat, nicht möglich geworden. In dieser Hinsicht ist keine Nation ohne Schuld.

Es ist nötig, das klarzumachen, damit wir die Dinge deutlich erkennen, wenn wir angesichts der heutigen Welt die Schritte unternehmen wollen, die im Lauf der Zeit zu einer Weltsicherheit führen sollen. Jede Nation muss dieser Nachkriegsperiode mit richtigem Verständnis des eigenen Verschuldens und eigenen psychischen Versagens begegnen. Es ist sehr schwer, einzugestehen, dass keine Nation (einschliesslich der eigenen) saubere Hände hat, und dass sich alle der Besitzgier und des Diebstahls, der Absonderung, des Hochmuts und der Vorurteile sowie des Völker- und Rassenhasses schuldig gemacht haben. Alle Nationen müssen vor allem ihr eigenes Haus gründlich reinigen, sich aber gleichzeitig nach aussen bemühen, eine bessere, wohnlichere Welt zu schaffen. Wir müssen zu einem Weltbewusstsein gelangen, dessen Beweggrund der Gedanke des Gemeinwohls ist, bei dem die Betonung auf höheren Werten liegt als auf individuellem und nationalem Gewinnstreben, wobei die Menschen einerseits gelehrt werden, echte Staatsbürger zu sein und andererseits gleichzeitig in ihrer Verantwortung als Weltbürger zu schulen sind.

Ist das ein zu idealistisches Bild? Die Garantie für seine Verwirklichungsmöglichkeit liegt in der Tatsache, dass heute Tausende in dieser idealistischen Weise denken. Tausende befassen sich mit der Planung einer besseren Welt, und Tausende sprechen darüber, dass es möglich ist. Alle Ideen, die vom Göttlichen im Menschen und in der Natur ausgehen, werden schliesslich zu Idealen (auch wenn sie bei diesem Prozess etwas verzerrt werden), und diese Ideale werden dann zu beherrschenden Prinzipien für die Masse. Das ist die wahre Reihenfolge des Verlaufs der geschichtlichen Vorgänge.

Es könnte wertvoll sein, kurz einige der psychologischen Anpassungen zu studieren, welche die Nationen innerhalb ihrer eigenen Grenzen zu machen haben, denn jede Reform beginnt im eigenen Hause. Dann wollen wir das Weltbild betrachten und eine neue Vision gewinnen. Es gibt eine wissenschaftliche Begründung für die alte Bibelstelle: «Wo keine Vision vorhanden ist, geht das Volk zugrunde». (Sprüche, 29. 18)

Die Geschichte verweist auf eine lange Vergangenheit der Kämpfe, des Krieges, sich verschiebender Grenzen, der Entdeckungen und sofortigen Aneignung dieser neuen Gebiete und Unterjochung der ursprünglichen Bewohner, manchmal zu deren grossem Nutzen, aber trotzdem immer unentschuldbar. Der Geist des Nationalismus und dessen Anwachsen bildet den Hintergrund der Geschichte der Neuzeit, wie sie in den Schulen gelehrt wird, wodurch Nationalstolz und nationale Feindschaften, Rassenhass und Eifersucht ständig genährt werden. Die Geschichte befasst sich mit den Demarkationslinien zwischen Ländern und mit der jeweiligen von einem Land entwickelten Regierungsform. Diese Demarkationslinien werden leidenschaftlich aufrechterhalten und die Reisepässe, die in diesem Jahrhundert eingeführt wurden, kennzeichnen die Kristallisierung dieser Idee. Die Geschichte schildert die grimmige Entschlossenheit jeder Nation, ihre Grenzen um jeden Preis zu erhalten, ihre Kultur und Zivilisation unversehrt zu bewahren, sie wenn möglich zu verbessern und nichts mit irgend einer anderen Nation zu teilen, es sei denn gegen kommerziellen Profit, den internationale Gesetzgebung schützt. Und doch ist und bleibt die Menschheit immer die eine Menschheit, und die Produkte der Erde gehören allen. Diese falsche Einstellung hat nicht nur das Absonderungsbewusstsein verhärtet, sondern auch zur Ausbeutung der schwächeren Gruppen durch die stärkeren, und zur Zerrüttung des ökonomischen Lebensstandards der Massen durch eine Handvoll mächtiger Gruppen geführt.

Alte Gewohnheiten des Massendenkens und der Massenreaktion sind schwer zu überwinden. Hierin ist das grösste Schlachtfeld der Nachkriegswelt zu suchen. Die öffentliche Meinung muss umgeschult werden. Die Nationen haben sich bereits wieder ihren eingefleischten Verhaltens- und Denkgewohnheiten zugewandt, die sie seit Generationen kennzeichnen. Wir müssen im Interesse der Allgemeinheit unserer Vergangenheit ins Auge sehen, die neuen Tendenzen erkennen und auf die alten Denk- und Verhaltensweisen verzichten, wenn die Menschheit nicht noch tiefer ins Unglück sinken soll als im vergangenen Krieg.

Schon sind in jedem Land wieder die Stimmen der alten Ordnung zu hören, und die Forderungen der reaktionären Elemente und gewisser radikaler Gruppen werden laut. Weil sie uns seit jeher so vertraut ist, hat die Stimme der Konservativen Gewicht, und weil die Menschheit müde ist, wird ihr beinahe jedes Programm annehmbar erscheinen, das die von den Konservativen geforderte eilige Rückkehr zum «Normalzustand» sicherstellt; es sei denn, dass diejenigen, welche die neue Vision besitzen, sofort, rasch und mit Weisheit handeln - aber dafür bestehen zur Zeit wenig Anzeichen.

Frankreich  

Frankreich erhebt Anspruch auf Anerkennung seines alten Ruhmes und fordert, dass man sich seiner alten Aufgabe als wichtigstem Repräsentanten der Zivilisation im alten Europa erinnere, aus dem es seine Forderung nach Sicherheit und Schutz ableitet. Nichts darf ohne seine Zustimmung unternommen werden. Frankreich hat jedoch seit Jahrzehnten der Welt ein Bild grosser Uneinigkeit, politischer Korruption und Bestechung geboten. Es hat von jeher seine grosse Vorliebe für materielle Befriedigung bewiesen und war stolz auf seinen Realismus, (aber nicht auf irgend einen geistigen Idealismus), wobei es brillianten Intellekt und scharfe wissenschaftliche Auffassungsgabe anstelle der subjektiven Realität setzt. Hat Frankreich aus seinem Zusammenbruch im Sommer 1940 gelernt, dass die Werte des Geistes an die Stelle der Werte treten müssen, die bis jetzt sein Handeln bestimmt haben? Erkennt es, dass es die Achtung der Welt wiedergewinnen muss - die Achtung, die es verloren hatte, als es kapitulierte und mit der Besatzungsmacht kollaborierte, wodurch es sich innerlich schwächer erwies als jene viel kleineren Nationen, die bis zuletzt weiterkämpften, bis sie zur Akzeptierung ihrer Niederlage gezwungen wurden? Kann Frankreich aus dieser Zeit der Prüfung geläutert hervorgehen und sich fähig erweisen, im Sinne selbstloser internationaler Beziehungen zu denken und nicht nur im Sinne der materiellen Zivilisation, die es durch Jahrhunderte so grossartig demonstriert hat? Frankreich kann es und wird es schliesslich auch tun. Sein brillianter Intellekt kann (wenn er sich dem Studium geistiger Dinge zuwendet) die Forschungen und Erkenntnisse kleinerer Geister überflügeln. Dieses klare Wahrnehmungsvermögen und die Fähigkeit, Gedanken in kurzer, kristallklarer Form zu übermitteln, werden dazu dienen, vielen die ewigen Wahrheiten zu verdeutlichen. Wenn Frankreich seine geistige Seele und nicht nur seine intellektuelle Seele findet, wird es sich als Mittler erweisen, durch den sich das Wesen der Menschenseele enthüllen wird. Frankreich hat in der Vergangenheit die Natur der menschlichen Seele im Stadium des intensivsten Individualismus und äusserster Selbstsucht offenbart. Durch Feuer und Schmerz geläutert, wird es später die Eigenschaften des geistigen Menschen demonstrieren. Die Betonung materieller Werte und der starke Nachdruck, der auf die Bedeutung Frankreichs für die Welt gelegt wird, anstatt auf die seinerseits anzuerkennende Bedeutung einer internationalen Haltung im Sinne selbstloser menschlicher Beziehungen, verweisen auf das psychologische Problem, dem Frankreich heute gegenübersteht, und das von einigen seiner besten Denker richtig erkannt wird. Kann Frankreich lernen, an und für diejenigen zu denken, die ausserhalb seiner Grenzen sind, oder wird es weiterhin nur im Sinne Frankreichs allein denken? Das sind die Fragen, die es selbst beantworten muss.

Deutschland

Es erübrigt sich, über die Fehler der deutschen Nation zu sprechen, weil sie der ganzen Welt schmerzlich klargeworden sind. Das Deutschland der mystischen Poeten und Dichter des Mittelalters wird wieder erstehen - das Deutschland der Musikfestspiele, das Deutschland, das der Welt die beste Musik aller Zeiten geschenkt hat, das Deutschland Schillers und Goethes und das Deutschland der Philosophen. Der Hauptfehler des deutschen Volkes ist eine extreme Negativität, die es zu dem am leichtesten «konditionierbaren» Volk aller Zeiten macht, dazu kommt noch die Fähigkeit, Diktatur und Propaganda fraglos oder ohne Empörung und mit einem tiefen Minderwertigkeitsgefühl hinzunehmen. Die Deutschen können daher leicht ausgenützt und von solchen Elementen leicht überzeugt werden, die laut schreien und drohen, und daher ist es leicht, sie zu reglementieren.

Diese Negativität muss überwunden werden, und der sorgfältigen Erziehung des Individuums zu selbständigem Denken und Handeln muss die grösste Aufmerksamkeit gelten. Jeder einzelne muss lernen, seinen eigenen Ideen den grössten Wert beizumessen, und das alles in einem Geiste des guten Willens. Das müsste der Grundton aller Erziehung des deutschen Volkes sein. Dadurch, und mit der richtigen idealistischen Propaganda kann das deutsche Volk auf die richtigen Wege geführt werden und ebenso leicht richtige Denkgewohnheiten entwickeln, wie es sich vorher auf die unguten Wege und in gottloses, separatives Denken führen liess. Eine Disziplinierung des deutschen Volkes darf noch lange Zeit nicht aufhören, aber die Motivierung dafür muss vollständig verändert sein. Deutschlands psychologisches Hauptproblem ist es, zu erkennen, dass seine Beziehung zu allen anderen Völkern nur die einer Gleichberechtigung sein kann.

Kann dem Bewusstsein der heutigen Kinder und jener, die noch geboren werden, eingeflösst werden, wie wichtig und bedeutungsvoll rechte zwischenmenschliche Beziehungen sind, und kann man diesen Erziehungsprozess lange genug durchführen? Hierin liegt der wahre Prüfstein für die Vereinten Nationen. Die geistigen Möglichkeiten des deutschen Volkes dürfen dabei nicht vergessen werden. Praktisch gesprochen können die Deutschen bei richtigen Lehrmethoden und geeigneten Massnahmen leichter geändert werden als jede andere europäische Nation. Deutschland bringt immer noch das Herdenbewusstsein zum Ausdruck, und das muss sich in Gruppenbewusstsein umwandeln, in das Bewusstsein des freien Individuums, das mit anderen Menschen guten Willens zum Wohl des Ganzen und aus freiem Willen zusammenarbeitet.

Grossbritannien  

Grossbritannien war eine grosse und imperialistische Weltmacht. Sein Annexionsgeist und die Zähigkeit und Unbeugsamkeit seiner früheren politischen Manöver rechtfertigen diese Anschuldigung. Es hat «Machtpolitik» betrieben und die Fähigkeit entwickelt, ein Gleichgewicht zwischen anderen Nationen aufrechtzuerhalten, um den Status quo und die Integrität der Britischen Inseln zu sichern. Es hat mit grosser Geschicklichkeit für Stabilität unter den Nationen gesorgt, um selber reibungslos funktionieren und seine Ziele erreichen zu können. Man hat ihm seinen ausgeprägten Kommerzialismus vorgeworfen, und es ist von anderen Nationen ein «Krämervolk» genannt worden. Die Engländer sind bei vielen Völkern unbeliebt; ihr kühler Hochmut, ihr Nationalstolz und ihr Benehmen, als gehöre ihnen die Welt, entfremdet ihnen viele. Grossbritannien trägt den Kastengeist in alle seine internationalen Beziehungen, ebenso wie das System der Klassenunterschiede seit jeher seine inneren Beziehungen bestimmt hat. Alle diese Anschuldigungen beruhen auf Wahrheit, und die Feinde Grossbritanniens können stichhaltige Beweise dafür erbringen. Im grossen ganzen waren die Engländer reaktionär, übervorsichtig und konservativ, sind schwer zu etwas zu bewegen und schnell bereit, sich mit bestehenden Zuständen zufriedenzugeben, besonders wenn diese Zustände echt britisch sind. Alle diese Merkmale führten zu grosser Erbitterung anderer Völker, vor allem der Nation, die aus der britischen herausgewachsen ist, den Vereinigten Staaten. Das ist die eine Seite des Bildes. Doch die Engländer sind nicht antisozial; sie waren Wegbereiter der Wohlfahrtsreformen und schufen Einrichtungen wie die Altersversicherung lange vor anderen Nationen. Sie sind voll väterlicher Fürsorge in der Behandlung kleinerer und weniger entwickelter Nationen und haben ihnen wirklich geholfen. Weil sie aber konservativ sind, fällt es ihnen schwer, zu erkennen, wann sie diese väterliche Fürsorge zurückziehen müssen. Das Motto des Hauses Wales heisst: «Ich dien'.» Es ist das innerste Streben des britischen Volkes, den Nationen und Völkern zu dienen, die unter dem Union Jack zusammengeschlossen sind. Man darf nicht vergessen, dass seit Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts im Denken des englischen Volkes grosse Veränderungen stattgefunden haben. Das Alte ist verschwunden. Das Kastensystem mit seiner Abgeschiedenheit, seinem Absonderungsgeist und seiner wohlwollenden Herablassung ist rasch im Absterben, denn der Krieg und die Arbeiterbewegung betonen essentielle Gleichheit. Grossbritannien sucht nicht mehr nach neuen Gebieten, - es ist jetzt eine Völkergemeinschaft völlig unabhängiger Nationen.

Das psychologische Hauptproblem des britischen Volkes besteht darin, das Vertrauen der Welt zu gewinnen, andere Nationen von der tatsächlichen Gerechtigkeit und den guten Absichten seines Denkens und Planens zu überzeugen. Dieses Vertrauen hat England in den letzten Jahren verloren, gewinnt es aber jetzt langsam wieder. Seine Einstellung gegenüber dem Weltgeschehen ist heute international; es wünscht das Wohl des Ganzen und ist bereit, im Interesse des Ganzen auch Opfer zu bringen; seine Absichten sind gerecht und sein Wille richtet sich auf Kooperation; seine Bürger sind tapfer, sie denken vernünftig und sind beunruhigt darüber, dass die Geschichte ihrer Vergangenheit sie unbeliebt gemacht hat. Wenn sie aus ihrer scheuen, stolzen Zurückhaltung heraustreten können, könnte Grossbritannien mit den anderen Nationen der Welt ohne viel Unstimmigkeiten den Weg des Lebens gemeinsam gehen.

Russland      

Russland bleibt für die übrige heutige Welt noch immer ein grosses Rätsel. Sein Potential für Dienst an der Menschheit, seine Fähigkeit und Geschicklichkeit, in grossem Masse der ganzen Welt seinen Willen aufzuzwingen, übertreffen jede andere Nation. Das allein züchtet Misstrauen. Sein Territorium umfasst einen grossen Teil Europas und den ganzen Norden Asiens. Es ist durch eine grosse und grausame Revolution und eine nachfolgende Periode der Wiederherstellung gegangen. Es bereitet sich auf Weltmitarbeit vor, aber anscheinend mit dem Wunsch, dies müsse nach seinen eigenen Bedingungen geschehen, nämlich in Form einer generellen Kontrolle anderer Länder, angefangen mit den kleineren Nationen an seiner Westgrenze. Es hat die Völker des eigenen Landes aus Unwissenheit und Armut herausgeführt und in einen Zustand des Wissens und relativ guten Auskommens emporgehoben. Von der übrigen Welt wird Russland tiefes Misstrauen entgegengebracht, vor allem von den konservativen Elementen, und dies aus zwei Gründen: erstens wegen der Grausamkeit, mit der die frühesten Stadien der Revolution begannen - die Periode, die wir leichthin «Bolschewismus» nennen - und zweitens wegen der nachfolgenden Periode eines beabsichtigten und entschlossen durchgeführten Isolationismus hinter geschlossenen Grenzen. Es war dennoch ein schöpferisches Schweigen. Der Krieg hat Russland dann gezwungen, sein Schweigen aufzugeben und mit der Welt zusammenzuarbeiten. Es wurde zur Teilnahme am Weltkrieg gezwungen. Russland ist die Heimat einer keimenden Offenbarung von grossem geistigem Wert und grosser Gruppenbedeutung, einer Offenbarung für die ganze Menschheit. Die ahnend erfühlte, etwas unklare Erkenntnis dieser Tatsache hat Russland zu einer trügerischen Propaganda veranlasst.

Russland hat in anderen Ländern Gärung hervorgerufen, ohne selber zu wissen, welcher Art die Offenbarung sein wird, deren Hüter es ist. Seine Aktivität ist daher verfrüht. Das wahre Geheimnis der Brüderlichkeit (bisher unbekannt und unverwirklicht) ist ihm anvertraut, um es der Welt weiterzugeben, aber es weiss noch nicht, was das wirklich ist. Die Tatsache, dass Russland der geistige Hüter einer Offenbarung ist, wird von den anderen Nationen der Welt empfunden, und die erste Reaktion war Furcht, gegründet auf bestimmte anfängliche Fehler und auf sein voreiliges Handeln auf der physischen Ebene. Nichtsdestoweniger schauen alle Völker erwartungsvoll nach Russland; sie erkennen undeutlich, dass von dort etwas Neues kommen wird, denn Russland ist im Begriff, rasch erwachsen zu werden und sich selbst zu finden, und es wird zeigen, dass es viel zu geben hat.

Die Welt ist Zeuge des Aufstiegs und Vorwärtsdrängens einer Nation, die innerhalb eines Vierteljahrhunderts das vollbracht hat, wozu andere Nationen viele Generationen benötigt haben. Russland ist ein Riese, der jetzt seine Schwierigkeiten überwindet - ein junger Riese, der grosse Möglichkeiten sieht, getrieben von einem tief religiösen, jedoch unorthodoxen Geist, benachteiligt durch die Verbindung östlicher Charakterzüge mit westlichen Zielen, dem die Welt wegen seiner früheren falschen Schritte Misstrauen entgegenbringt. Diese falschen Schritte waren der Versuch, andere Nationen zu infiltrieren, um deren Stabilität zu stören und sie so zu schwächen, dass sie leicht in das Haus der Menschheit, das Russland zu bauen versucht, hineingezogen werden könnten. Russland wird innerlich (jedoch unbewusst) motiviert von dem Wunsch, Brüderlichkeit ins Leben zu rufen. Ist diese Diagnose jener grossen Unbekannten, die «Russland» heisst, annehmbar? Die Zeit allein kann, wenn Russland weise handelt und die von ihm betriebene Propaganda vernünftig ist, beweisen, ob diese Aussage stimmt. Das psychologische Problem der UDSSR besteht letzten Endes darin, andere in Ruhe zu lassen, die eigene grosse Bevölkerung zu stabilisieren und zu integrieren, und ihre Völker immer näher zum Licht zu führen. Russland muss auch lernen, mit anderen Mächten auf der Basis der Gleichberechtigung zusammenzuarbeiten und darf nicht aus Ehrgeiz und Berechnung danach trachten, die kleinen Mächte gegen ihren Wunsch unter ungebührlichem Druck und Gewalt in seinen Aktivitätsbereich hineinzuziehen. Russland hat immer noch selbst genug mit seinen unermesslichen Gebieten und deren Bewohnern zu tun, die bereits in seiner Einflusssphäre sind; die anderen Nationen müssen genauso ihr eigenes Schicksal selbst gestalten können und sollten nicht gezwungenermassen von Russland regiert werden.

Vor allem steht Russland vor dem Problem, den anderen Nationen der Welt ein so gutes Vorbild weiser Regierungskunst, der frei zum Ausdruck gebrachten individuellen Ziele und der Anwendung eines einschliesslichen, vernünftigen Erziehungssystems zu sein, damit andere Nationen sich nach dem von ihm demonstrierten Muster ausrichten können, dabei aber gleichzeitig ihre kulturelle Eigenart, ihre selbstgewählte Regierungsform und ihren selbst entwickelten Ausdruck der Brüderlichkeit aufrechterhalten. Russland steht in seinem innersten Wesen für ein neues Weltbewusstsein, und durch Russland wird sich allmählich im Feuer der Experimente und Erfahrung eine neue planetarische Ausdrucksform herauskristallisieren. Diese grosse Nation (eine Synthese von Ost und West) muss lernen, dass sie es sich leisten kann, ohne Grausamkeit und ohne Verletzung des freien Willens des Einzelnen zu regieren, wenn und weil sie absolutes Vertrauen in die Heilkraft der Ideale besitzt, die sie sich zu entwickeln bemüht, die aber noch nicht zum Ausdruck kommen.

Polen      

Eine lange geschichtliche Vergangenheit hat dem polnischen Volk die Verantwortung auferlegt, auf die benachbarten Nationen in ausdrücklich kultureller Weise einzuwirken und einen geistigen Beitrag zu leisten, dessen sich diese Nation anscheinend noch nicht bewusst ist. Die fortwährende Betonung ihrer Gebietsansprüche verschliesst ihnen die Augen für den wahren Wert dessen, was das Land der Welt zu geben hätte. Da es ein stark gefühlsbetontes, individualistisch eingestelltes Volk ist, findet es sich innerhalb seiner eigenen Grenzen in einem Zustand steter Uneinigkeit und beständiger Reibereien; es besitzt keine innere Einheit. Sein psychologisches Problem besteht darin, eine Integration zu erreichen, die sich auf der Überwindung von Rassenzwistigkeiten begründen wird. Es muss sein nationales Problem im Sinne guten Willens und nicht im Sinne selbstsüchtiger Interessen lösen. Polens wirkliches Problem ist im Erreichen der richtigen inneren Beziehungen zu suchen.

Obwohl das Problem der Grenzen, Besitzungen, Territorien, Kolonien und ihrer materiellen Unternehmungen in den Augen aller Nationen von ungeheurer Wichtigkeit zu sein scheint, verrät doch die Tatsache, dass diese Betonung rein materieller Art ist, deren relative Bedeutungslosigkeit, sobald sie in der richtigen Perspektive gesehen wird. Der einzige, heute wirklich wichtige Faktor ist die Menschheit selbst, und angesichts menschlichen Leidens, Elends und menschlicher Armut erscheint der auf Ländergrenzen gelegte Nachdruck engstirnig und überbetont. Neuordnungen werden erfolgen müssen, Grenzen werden neu zu bestimmen sein, aber die letzten Entscheidungen dürfen nicht auf historischer Grundlage oder vergangenen Ruhms gefällt werden, sondern aufgrund dessen, was für die Völker am besten ist. Sie selber müssen diese Dinge entscheiden.

Der Weltkrieg wurde von den besten Denkern und Idealisten der alliierten Staaten vorgeblich als ein Kampf für die menschliche Freiheit dargestellt, und doch sind alle Grossmächte aus selbstsüchtigen Beweggründen und Gründen der Selbsterhaltung in diesen Krieg eingetreten; das wird allgemein zugegeben. Einen gesunden, selbstlosen, grundsätzlichen Idealismus besassen sie aber mehr oder weniger alle. Dieser Idealismus bezog sich auf die Befreiung der Menschheit von der Diktatur. Nach einem Krieg wird der Erfolg des Sieges geprüft. Wenn die Nationen der ganzen Welt die Vorteile eines freien Wahlrechts daraus ernten, wenn den Völkern in umstrittenen Gebieten gestattet wird, durch freien Volksentscheid selbst zu bestimmen, unter wessen Hoheitsrecht und unter welcher Führung sie leben wollen, wenn Freiheit der Rede und Religionsausübung und wahrhaft freie Meinungsäusserung in Presse und Rundfunk das Resultat dieses Krieges sind, wird das für die ganze Menschheit einen grossen Schritt nach vorne bedeuten.

Die Vereinigten Staaten von Amerika     

Das psychologische Problem der Vereinigten Staaten von Amerika liegt darin, dass sie lernen müssen, weltweite Verantwortlichkeit auf sich zu nehmen. Sowohl Grossbritannien als auch Russland haben diese Aufgabe schon in gewisser Form gelernt.

Das amerikanische Volk, das jetzt aus dem jugendlichen Stadium heraustritt, muss die Lektionen des Lebens durch Experimente und aus den daraus folgenden Erfahrungen lernen. Das ist eine Aufgabe, die alle jungen Menschen lernen müssen. Die germanische Rasse ist alt; die deutsche Nation ist sehr jung. Das italienische Volk ist alten Ursprungs; der italienische Staat ist historisch gesehen neuesten Datums. Der Vorwurf der Jugend (wenn es überhaupt ein Vorwurf ist) gilt auch für die Vereinigten Staaten. Diese Nation hat eine grosse Zukunft, aber nicht aufgrund ihrer materiellen Macht und geschäftlichen Tüchtigkeit, wie viele materiell eingestellte Leute glauben. Der Grund liegt in einem tief geistigen, angeborenen Idealismus mit ungeheuren humanitären Möglichkeiten und vor allem darin, dass die frischen, noch unverbrauchten Kräfte einer aus dem Bauern- und Mittelstand hervorgegangenen Bevölkerung diesem Volk das Gepräge geben. Stetig gehen in allen Nationen Regierungsmacht und Bestimmung praktischer Ideologien immer mehr aus den Händen der sogenannten herrschenden Klassen und der Aristokratie in die des «Volkes» über. Länder wie Grossbritannien und Frankreich, die sich den bestimmenden Entwicklungstendenzen angepasst haben, können leichter der Zukunft entgegengehen als Länder wie Spanien und Polen, die seit Jahrhunderten von einer dominierenden Aristokratie und einer politisierten Kirche regiert wurden. Die Vereinigten Staaten von Amerika sind frei von derartigen Belastungen, ausgenommen insoweit, als die Gesetze von Kapital und Finanz die Kontrolle zu übernehmen trachten. Das gleiche gilt weitgehend auch für England.

Die Wurzeln der Bevölkerung der Vereinigten Staaten sind zwangsläufig in anderen Ländern zu suchen, weil die Bürger Amerikas ursprünglich aus diesen Ländern hervorgegangen sind. Amerika hat ausser den Indianern, die von der anstürmenden Flut aus anderen Ländern unbarmherzig aus ihrem Besitz vertrieben wurden, keine eingeborene Bevölkerung. Die verschiedenen rassischen Gruppierungen innerhalb der Vereinigten Staaten lassen immer noch die Merkmale ihrer Herkunft und ihres rassischen Erbes erkennen; sie sind psychologisch und physisch italienischen, englischen, finnischen, deutschen, schwedischen, polnischen und anderen Ursprungs. Auf dieser Tatsache beruht teilweise das Wunder der raschen Integration dieser Nation.

Wie alle Jugend zeigt auch, symbolisch gesprochen, das amerikanische Volk alle Eigenschaften der Jugend. Die Bewohner Amerikas stehen - wieder symbolisch ausgedrückt - im Alter zwischen siebzehn und vierundzwanzig Jahren. Sie rufen «Freiheit» und sind dennoch nicht frei; sie wollen sich nicht belehren lassen, was sie zu tun haben, weil das ihre Rechte beeinträchtigt. Trotzdem lassen sie es häufig zu, dass sie von ungeeigneten Parteipolitikern und Unfähigen gelenkt werden. Sie sind weitgehend tolerant, und doch anderen Nationen gegenüber äusserst intolerant. Sie sind nur allzu bereit, anderen Nationen zu sagen, wie sie ihre Probleme anzupacken haben, zeigen aber bisher noch keine Fähigkeit, mit den eigenen Problemen fertigzuwerden, wie es die Behandlung der Negerbevölkerung, und das Vorenthalten gleicher Freiheitsrechte und Aufstiegsmöglichkeiten gegenüber diesen Menschen beweist. Sie machen unermüdlich Experimente in allen Lebensbereichen, mit jeder Art von Ideen und Beziehungen. Die schöpferische Kraft des amerikanischen Volkes zeigt sich in dessen grandioser Beherrschung der Natur und den grossen Bauprojekten, welche die Nutzbarmachung des Wassers betreffen oder alle Teile dieses riesigen Landes mit Strassen- und Wasserwegen verbinden. Amerika ist ein grosses Experimentierfeld schöpferischer Art; es ist zutiefst an der Erprobung jeder Art von Ideologie interessiert. Der Kampf zwischen Kapital und Arbeit wird in den Vereinigten Staaten seinen Höhepunkt erreichen, aber er wird auch in Grossbritannien und Frankreich ausgefochten. Russland hat bereits seine eigene Lösung, aber die kleineren Nationen der Welt werden durch den Ausgang dieses Kampfes in der britischen Völkergemeinschaft und den Vereinigten Staaten bestimmend gelenkt.

In den Vereinigten Staaten muss Ordnung geschaffen werden, und diese Ordnung wird kommen, sobald Freiheit in Begriffen selbstgewählter Disziplin ausgelegt wird; eine Freiheit, die in Zügellosigkeit ausarten und von jedem Menschen so ausgelegt werden kann, wie es ihm am besten passt, bildet eine vermeidbare Gefahr. Und es ist eine Gefahr, deren sich die besten Köpfe der Vereinigten Staaten zutiefst bewusst sind.

Wie alle jungen Menschen, fühlen sich die Amerikaner den reiferen Schwesternationen überlegen; sie neigen zu der Ansicht, dass sie einen höheren Idealismus, gesündere Anschauungen und grössere Freiheitsliebe besitzen als andere; sie vergessen dabei nur zu leicht, dass, obwohl es sicher einige rückständige Nationen gibt, viele Länder in der Welt einen ebenso hohen Idealismus und ebenso gesunde Motive haben und mit grösserer Reife und mehr Erfahrung an die Weltprobleme herangehen. Wie es die Jugend immer ist, so ist auch der Amerikaner äusserst kritisch gegenüber anderen, aber selber gegenüber Kritik oft blind und immer sehr empfindlich. Aber in Amerika gibt es ebensoviel zu kritisieren wie in jeder anderen Nation, und alle Nationen haben mit der Säuberung des eigenen Hauses noch genug zu tun. Die Schwierigkeit besteht zur Zeit darin, dass diese innere Säuberung gleichzeitig mit der strikten Erfüllung der internationalen Verpflichtungen durchgeführt werden muss. Keine Nation kann es sich heute noch leisten, für sich allein zu leben. Sollte es eine versuchen, geht sie den Weg des Todes, und darin liegt die grosse Gefahr einer isolationistischen Einstellung.

Wir haben heute tatsächlich schon die eine Welt, und damit ist das psychologische Problem der Menschheit zusammengefasst. Das zu erreichende Ziel sind rechte menschliche Beziehungen; die Nationen werden insoweit stehen oder fallen, wie sie dieser Vision gerecht werden. Die Zeit, die vor uns liegt, muss - unter dem Evolutionsgesetz und dem Willen Gottes - rechte menschliche Beziehungen hervorbringen.

Wir stehen an der Schwelle einer Epoche grosser Experimente und Entdeckungen; wir werden genauestens ermitteln, wer und was wir sind - als Nationen, in unseren Gruppenbeziehungen, aufgrund unserer religiösen Ausdrucksform und unserer Regierungsmethoden. Es wird eine äusserst schwierige Epoche sein, die nur dann erfolgreich bewältigt werden kann, wenn jede Nation ihre eigenen inneren Mängel erkennt und diese mit Weitblick und vorsätzlich humanitärer Zielsetzung behandelt. Das bedeutet, dass jede Nation ihren Stolz überwinden und die innere Einheit erreichen muss. Jedes Land ist heute im Inneren in einander sich bekämpfende Gruppen gespalten - Idealisten und Realisten, Parteipolitiker und weitblickende Staatsmänner, religiöse Gruppen, die fanatisch ausschliesslich mit ihren eigenen Ideen beschäftigt sind, Kapital und Arbeit, Isolationisten und Internationalisten, Menschen, die leidenschaftlich gegen bestimmte Gruppen oder Nationen sind, und andere, die für diese arbeiten wollen. Der einzige Faktor, der schliesslich und zur rechten Zeit Harmonie schaffen und das Ende dieser chaotischen Zustände herbeiführen kann, ist die Schaffung rechter menschlicher Beziehungen.

Hierzu hat jedes Land viel beizutragen, aber solange dieser Beitrag, wie es heute der Fall ist, nach seinem kommerziellen Wert und politischen Nutzen bemessen wird, kann er nicht dazu verhelfen, rechte Beziehungen zu schaffen.

Jedes Land muss auch von allen anderen Ländern etwas bekommen. Das setzt das Erkennen spezifischer Mangelzustände voraus, und auch die Bereitwilligkeit, von anderen auf der Basis der Gleichberechtigung etwas anzunehmen. Jedes Land hat seine besondere Note, die zum Gleichklang gebracht werden und den grossen Chor, den alle Nationen bilden, verstärken muss. Dies wird nur möglich sein, wenn reine Religion wieder hergestellt ist und der geistigen Antriebskraft, die in jeder Nation freigesetzt wird, auch wirklich freie Ausdrucksmöglichkeit gegeben wird. Noch ist das nicht der Fall; immer noch wird das geistige Leben von theologischen Formen getragen.

Jede Nation steht durch ihre historische Vergangenheit sowie durch ihre eigenen Taten und Verordnungen in enger Beziehung zu jeder anderen Nation; dafür sind die Vereinigten Staaten von Amerika vielleicht ein besseres Beispiel als viele andere, weil ihre Staatsbürger aus allen bekannten Rassen stammen. Der Isolationismus war schon niedergeschlagen, ehe er sein hässliches Haupt erheben konnte, weil das amerikanische Volk nach Herkunft und Vergangenheit international ist.

Die Menschheit ist, wie schon gesagt, der Weltjünger; die Triebkraft hinter der Auflösung der alten Weltformen ist geistiger Art. Das geistige Leben der Menschheit ist jetzt so stark, dass es alle Formen menschlicher Ausdrucksfähigkeit gesprengt hat. Die Welt der Vergangenheit ist vergangen und zwar für immer, und die neue Formenwelt ist noch nicht in Erscheinung getreten. Ihre Konstruktion wird für das hervorbrechende schöpferische Leben des Menschengeistes kennzeichnend sein. Der wichtige, dabei im Gedächtnis zu behaltende Faktor ist der, dass es der eine Geist ist, und dass jede Nation lernen muss, ihn in sich selbst und in jeder anderen Nation zu erkennen.

Zusammenfassend liesse sich sagen, dass die Aufgabe jeder Nation daher eine zweifache ist:

1. Ihre eigenen inneren psychologischen Probleme zu lösen. Das geschieht durch Anerkennung der Tatsache, dass diese bestehen; durch Überwindung des Nationalstolzes und durch Unternehmen jener Schritte, die geeignet sind, dem Leben ihrer Bürger Einheit und rhythmische Schönheit zu verleihen.

2. Den Geist rechter Beziehungen zu nähren und zu fördern. Das wird erreicht durch die Erkenntnis der einen Welt, von der sie selbst ein Teil ist. Dies umfasst später auch jene Massnahmen, welche die Nation befähigen werden, mit ihrem eigenen, individuellen Beitrag die gesamte Welt zu bereichern.

Diese beiden Aktivitäten - die nationale und internationale - müssen Seite an Seite mit der Betonung eines praktischen Christentums vor sich gehen, ohne dominierende Theologien und ohne subtil aufgezwungene Kirchenkontrolle.

Vom Standpunkt der geistigen Mächte des Lichtes sollte der unmittelbare Weltverlauf folgendes einschliessen:

1. Die drohende Krise der Freiheit. Sie erfordert freie Wahlen in allen Ländern, um die Regierungsform und (wo dieses Problem existiert) die nationalen Grenzen zu bestimmen sowie einen Volksentscheid bezüglich Nationalität und Staatsangehörigkeit.

2. Den Aufräumungsprozess, der in allen Nationen ohne Ausnahme durchgeführt werden muss, damit eine gesunde Einheit erreicht werden kann, die sich auf Freiheit gründet und bei äusserer Verschiedenheit diese Einheit demonstriert.

3. Einen stetig weiterverfolgten Erziehungsprozess, durch den alle Völker der Welt in der einzigen Ideologie verankert werden, die sich als endgültig und allgemein wirksam erweisen wird, nämlich in der Ideologie der rechten menschlichen Beziehungen. Langsam aber sicher wird diese Erziehungsbewegung unvermeidlich zu richtigem Verständnis und zu korrekter Einstellung und richtigem Handeln führen, und zwar in jeder Kommune, jeder Kirche, jeder Nation und letzten Endes auch auf internationaler Ebene. Das braucht natürlich seine Zeit, aber es ist eine Herausforderung an alle Menschen guten Willens in der ganzen Welt.

Die geistigen Führer der Menschheit können diese Formel für den Fortschritt anbieten. Ihre Durchführung können sie aber nicht gewährleisten, denn die Menschheit kann ihre eigenen Probleme frei entscheiden. Gewisse Fragen ergeben sich daher unweigerlich:

Werden die Grossmächte, Russland, die USA und Grossbritannien für das gesamte Wohl der Menschheit zusammenstehen, oder werden sie - auf getrennten Wegen - ihre eigenen selbstsüchtigen Ziele verfolgen?

Werden die kleineren Mächte ebenso wie die Grossmächte willens sein, im Interesse des Ganzen etwas von ihrer sogenannten Souveränität aufzugeben? Werden sie versuchen, die Weltlage vom Standpunkt der Menschheit aus zu sehen, oder werden sie nur ihr eigenes Wohl im Auge haben?

Werden sie mit der ständig nörgelnden Kritik aufhören, die für die Vergangenheit so bezeichnend war und immer wieder noch mehr Hass erzeugt, und werden sie erkennen, dass alle Nationen aus menschlichen Wesen bestehen, die sich auf verschiedenen Entwicklungsstufen befinden und durch ihre Rasse und ihre Umwelt bestimmt werden? Werden sie gewillt sein, sich gegenseitig freie Hand zu lassen, so dass jede Nation ihre eigene Verantwortung auf sich nehmen kann? Und werden sie trotzdem bereit sein, einander als Mitglieder einer Familie zu helfen, da sie doch von dem einen Geist, dem Geiste Gottes, beseelt sind?

Werden sie willens sein, die Produkte der Erde miteinander zu teilen in dem Bewusstsein, dass sie allen gehören, und sie frei verteilen, wie es die Natur tut? Oder werden sie zulassen, dass diese Produkte in die Hände einiger mächtiger Nationen oder in den Besitz einer Handvoll einflussreicher Männer und Finanzleute fallen?

Das sind nur einige von den Fragen, auf die Antworten gesucht und gefunden werden müssen. Die vor uns liegende Aufgabe sieht tatsächlich schwer aus.

Es gibt indes heute genügend geistig gesinnte Menschen in der Welt, die imstande sind, in der ganzen Welt die Einstellungen zu ändern und die neue, geistig schöpferische Periode herbeizuführen. Werden sich diese Männer und Frauen, die eine Vision besitzen und guten Willens sind, in ihrer ganzen Macht erheben und ihre Stimme hören lassen? Werden sie die Kraft, die Ausdauer und den Mut haben, den Defätismus zu überwinden, die Ketten der hemmenden Theologien - im politischen, sozialen, wirtschaftlichen und religiösen Sinne - zu zerbrechen und für das Wohl aller Völker und Menschen zu arbeiten? Werden sie die gegnerischen Kräfte durch ihre feste Überzeugung von der Stabilität und Wirkungsmöglichkeit des menschlichen Geistes überwinden können? Werden sie den Glauben haben an den wesentlichen inneren Wert der Menschheit? Werden sie erkennen, dass die ganze Tendenz des Evolutionsprozesses sie unweigerlich dem Sieg entgegentreibt? Die sichere Etablierung rechter menschlicher Beziehungen bildet bereits einen feststehenden Teil der göttlichen Absicht, und nichts kann deren Verwirklichung auf die Dauer zurückhalten. Diese Verwirklichung kann jedoch durch richtiges und selbstloses Handeln beschleunigt werden.​​​​​​​