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4. Buch - Erleuchtung - Teil 2

Der zweite Hauptgedanke, der in diesem Lehrspruch enthalten ist, ist schwieriger auszudrücken. Er unterstützt die Behauptung vieler Denker, dass die Dinge nur insofern existieren, Form haben und aktiv sind, als die Denkkraft des Denkers sie prägt und formt. Mit anderen Worten, dass wir durch die Modifikationen unseres Denkprinzips unsere eigene Welt bilden und uns unsere Umwelt schaffen. Die Schlussfolgerung ist daher die, dass wir die (als Tatsache angenommene) eine Grundsubstanz - Geist-Materie - durch unsere eigenen Denkimpulse zu Formen verweben. Andere sehen das, was wir sehen, auch, weil einige der Modifikationen ihres Denkens den unseren gleich sind und weil ihre Reaktionen und Impulse in [404] gewisser Hinsicht den unseren ähnlich sind. Aber es gibt kaum zwei Menschen, die ein Objekt auf genau die gleiche Weise sehen. «Dinge» oder Formen der Materie bestehen wirklich; sie sind geschaffen oder im Prozess des Werdens, und für sie ist ein Denker oder eine Denkergruppe verantwortlich. Es ergibt sich nun die Frage, wer für die Gedankenformen verantwortlich ist, von denen wir umgeben sind. Die Übersetzung und der Kommentar von Dvidedi neigt mehr zu diesem zweiten Gedankengang als die Paraphrase des Tibeters, und es ist von Nutzen, sie zu studieren; denn daran, dass ein Problem viele Denker bewegt, kann seine Wichtigkeit ermessen werden; müssige und oberflächliche Schlussfolgerungen werden vermieden, und die Annäherung an die Wahrheit wird möglich. Eine vielseitige Betrachtung kommt der Wahrheit näher als eine spezialisierte. Er sagt:

«Obwohl es sich um gleiche Dinge handelt, ist infolge der Verschiedenheit der Denker die Ursache des Denkens und der Dinge verschieden».

«Die voraufgegangenen Betrachtungen bestätigen indirekt das Vorhandensein von Dingen, die nicht aus dem Denken kommen. Die Vijnanavadi-Buddhas, die behaupten, dass Dinge nur die Reflektionen unseres Denkprinzips sind, würden einem solchen Standpunkt widersprechen. Der Einspruch würde einer Untersuchung nicht standhalten, denn das Bestehen von Dingen ausserhalb des Denkprinzips ist sicher. Obwohl tatsächlich eine völlige Gleichheit zwischen gleichartigen Objekten besteht, so ist doch die Art und Weise, wie die Objekte auf das Denken einwirken, und die Art, wie sich das Denken davon beeindrucken lässt, völlig verschieden. Darum bestehen Objekte ausserhalb des Denkprinzips. Auch wenn es sich um gleichartige Objekte handelt, erscheinen sie den verschiedenen Denkern dennoch nicht in demselben Licht. Das beweist, dass [405] sie ausserhalb des Denkens bestehen. Andererseits hören wir oft von mehreren Personen, dass sie dasselbe Objekt genauso gesehen haben wie andere Leute. Das wäre ein Beweis dafür, dass es viele Wahrnehmende für ein einziges Objekt gibt. Dieser Umstand beweist den Unterschied zwischen Objekt und Denken. Desgleichen kann der Sehende und das Geschaute, nämlich das Denken und das Objekt (oder das Instrument des Erkennens und das Objekt des Erkennens) nicht ein und dasselbe sein, denn dann wäre alles unterscheidende Erkennen unmöglich, und das ist absurd. Eine Lösung dieser Schwierigkeit darin zu suchen, dass man sagt, dass das endlose Verlangen der Urform der äusseren Objekte die Ursache von all unserem unterscheidenden Erkennen ist, wäre nutzlos, denn das, was sich bereits erschöpft hat, kann nicht zur Ursache werden. Es muss daher als erwiesen betrachtet werden, dass die objektive Existenz unabhängig ist vom Subjekt. Man kann sich auch nicht vorstellen, dass eine einzige Substanz (nämlich Prakriti) in diesem Fall alle die vielfältigen Unterschiede unseres Erlebens hervorrufen könnte, denn die drei Gunas und ihre verschiedenartigen Kombinationen in verschiedenen Graden genügen, um das alles zu erklären. Bei den Yogis, die wahrhaft erleuchtet und durch Wissen zur Begierdelosigkeit gekommen sind, ist es nur natürlich, dass sie sich um die Gunas nicht mehr kümmern, denn diese sind dann ebenfalls im Zustand des Gleichgewichts und rufen keine Wirkungen mehr hervor».

Der dritte Gedankengang befasst sich speziell mit dem Erkenntnis-Aspekt, mit dem Zustand des Bewusstwerdens des innewohnenden Denkers; und das ist für den Studierenden des Raja Yoga sofort von praktischem Wert. Er enthält gewisse Fragen, die wie folgt formuliert werden können:

1. Auf welcher [406] Daseins- oder Erkenntnisebene (denn diese Begriffe sind für den Schüler des Okkulten identisch) wirke ich?

2. Identifiziere ich mich mit der Form oder mit der Seele?

3. Welchen Weg gehe ich, den Höhenweg der Seele oder den niederen Weg der Materie?

4. Befinde ich mich in einem Übergangsstadium, in dem mein Erkennen vom niederen in das höhere Bewusstsein verlagert wird?

5. Ist der Körper, obwohl ich in ihm bin, nur mein Werkzeug, und bin ich wach auf einer anderen Ebene des Gewahrseins?

Diese und ähnliche Fragen sind von grossem Wert für den strebenden Menschen, wenn sie ernsthaft gestellt und wahrheitsgetreu, gleichsam in der Gegenwart Gottes oder des Meisters, beantwortet werden.

16. Die vielen Modifikationen des einen Denkprinzips erzeugen die verschiedenartigen Formen, deren Dasein von diesen vielen Denkimpulsen abhängt.

Mit diesen Worten wird die ganze Grundidee aus dem Bereich des Einzelnen in das Reich des Universalen erhoben. Wir werden direkt zu kosmischen und solaren Impulsen hingeführt, so dass die Kleinheit und Geringfügigkeit unseres individuellen Problems offensichtlich wird. Jede erschaffene Form ist das Resultat von Gottes Denken. Jeder Bewusstseinsträger, durch den die Lebensimpulse des Universums strömen, ist erschaffen und wird in Form gehalten durch das beständige Fliessen von Gedankenströmen, die von einem grandiosen kosmischen Denker ausgehen. Seine geheimnisvollen [407] Wege, sein geheimer, verborgener Plan, das grosse Ziel, auf das er in diesem Sonnensystem hinarbeitet, ist dem Menschen bis jetzt noch nicht erkennbar. In dem Mass jedoch, in dem des Menschen Fähigkeit zunimmt, in grossen Begriffen zu denken und die Vergangenheit als ein Ganzes zu sehen, wenn er sein Wissen über das Leben Gottes und dessen Wirken in den Reichen der Natur zu einem Ganzen zusammenfügen kann, und wenn seine Erkenntnis vom Wesen des Bewusstseins zunimmt, dann wird auch der göttliche Wille, dessen Fundament liebende Aktivität ist, erkannt werden.

Den Schlüssel zum Wie und Warum findet der Mensch im Begreifen seiner eigenen mentalen Tätigkeit. Das Verständnis für Gottes grosse Gedankenform, ein Sonnensystem und seine Erhaltung, wird in dem Mass wachsen, in dem der Mensch seine eigenen Gedankenformen und die Art, wie er seine Umgebung bildet und schafft und seinem eigenen Leben Farbe gibt, versteht. Er erbaut seine eigenen Welten durch die Kraft seiner Gedankentätigkeit und der Modifikationen jenes Fragments des universalen Denkprinzips, welches er sich für seinen eigenen Gebrauch angeeignet hat.

Der Sonnenlogos, Gott, ist die Gesamtheit aller Bewusstseinszustände. Der Mensch - die Menschheit als Ganzes oder eine individuelle menschliche Einheit - ist Teil dieser Gesamtheit. Die vielen Bewusstseinseinheiten, angefangen vom Bewusstsein des Atoms (anerkannt durch die Wissenschaft) durch alle Grade von Denkern und Stadien der Bewusstheit hindurch bis zum Bewusstsein Gottes selbst, sind verantwortlich und die Ursache für eine jede Form, die in unserem Sonnensystem zu finden ist. Vom unendlich Kleinen bis zum unendlich Grossen, vom Mikrokosmos zum Makrokosmos wird ein stufenweise sich erweiterndes Bewusstsein und ein ständig zunehmender Gewahrseinszustand offenbar. In dieser Skala der [408] Entwicklung sind drei markante Kategorien von Formen als Ergebnis schöpferischen Denkens zu finden:

1. Die Form des Atoms, der wahre Mikrokosmos.

2. Die Form, des Menschen, der Makrokosmos für alle untermenschlichen Naturreiche.

3. Die Form Gottes, ein Sonnensystem; der Makrokosmos für den Menschen und alle übermenschlichen Stufen.

Alle diese Formen mit allen Zwischenformen sind von einem Leben abhängig, das mit der Fähigkeit ausgestattet ist, zu denken und durch Gedankenimpulse empfindungsfähige Substanz zu verändern, auf sie einzuwirken und aus ihr Formen zu bilden.

17. Diese Formen werden erkannt oder nicht erkannt, je nachdem, welche Qualitäten im wahrnehmenden Bewusstsein latent vorhanden sind.

Die Version von Charles Johnston lautet wie folgt:

«Ein Objekt wird wahrgenommen oder wird nicht wahrgenommen, je nachdem, ob das Denken etwas von der Färbung des Objekts annimmt oder nicht».

Wir sehen das, was wir selbst sind; wir nehmen in anderen Formen das wahr, was in uns selbst entwickelt ist. Wir können manche Lebens-Aspekte deshalb nicht erkennen, weil diese Aspekte in uns noch nicht zur Entfaltung gekommen sind. Zum Beispiel erkennen wir das Göttliche in unserem Bruder deshalb nicht, weil wir mit dem Göttlichen in uns selbst noch nicht in Verbindung getreten sind und es uns unbekannt ist. Wir haben den Form-Aspekt und dessen Begrenzungen entwickelt, doch die Seele ist so verborgen, dass wir nur die Form unseres Bruders sehen, aber nicht seine Seele. In dem Augenblick, da wir mit unserer Seele verbunden sind und von ihrem Licht [409] leben, sehen wir die Seele unseres Bruders, erkennen sein Licht; und unsere Einstellung zu ihm wird eine ganz andere.

Hier finden wir die Erklärung für unsere Begrenzungen. Hierin liegt die Verheissung für unseren Erfolg. Wenn eine latente Fähigkeit entfaltet wird, erschliesst sie uns eine neue Welt. Wenn die verborgenen Kräfte der Seele ihren vollen Ausdruck finden, lassen sie uns eine neue Welt erkennen; sie offenbaren uns einen Gesamtplan des Lebens und einen Seins-Bereich, den wir bisher nicht beachtet haben, weil wir ihn nicht sehen konnten. Jeder Mensch, der in die Geheimnisse des Daseins eindringen will, muss darum für sein Suchen und Forschen eine volle Ausrüstung mitbringen; und darum ist es notwendig, diesen Prozess der Seelenentfaltung weiterzuführen und latente Fähigkeiten zu entwickeln, wenn die Wahrheit in ihrem ganzen Umfang erkannt werden soll.

18. Der Herr des Denkvermögens, der Wahrnehmende, ist sich der ständigen Aktivität der Denksubstanz, der wirkungserzeugenden Ursache, stets bewusst.

Dieser Leitsatz enthält eine Feststellung, die uns den Schlüssel zur wirkungsvollen und sicheren Meditation gibt. Das Ego, die Seele, ist es, die meditiert, und ihr Werk ist eine positive Tätigkeit, nicht ein negativer Zustand. Vieles, was als Meditationsarbeit bezeichnet wird, ist gefährlich und nutzlos, weil damit nur der Mensch auf der physischen Ebene die Vorherrschaft erreichen will; sein Bemühen richtet sich nur darauf, das Gehirn zur Ruhe zu bringen. Er versucht, die Gehirnzellen ruhig, negativ und empfänglich zu machen. Richtige Meditation betrifft jedoch die Seele und das Denken; die Aufnahmefähigkeit des Gehirns ist eine automatische Reaktion auf den höheren Zustand. Beim Raja Yoga muss daher zuerst der Kontakt mit dem wirklichen Menschen (dem Ego) hergestellt [410] und die Kraft vorhanden sein, die «Modifikationen des Denkprinzips zu stillen»; erst dann darf das Gehirn aktiv und empfänglich werden. Der Herr des Denkvermögens ist immer wachsam; stets nimmt er die Neigung der Denksubstanz wahr, auf Kraftströme zu reagieren, die durch Gedanken oder Wünsche erzeugt werden. Darum beobachtet er jede Kräfte-Ausstrahlung, die von ihm ausgeht, und er kontrolliert jeden Gedanken, jede Regung, so dass nur solche Energieströme und Impulse von ihm erzeugt werden, die mit der ständig im Auge behaltenen Zielsetzung übereinstimmen und den Bestrebungen des Gruppenplanes entsprechen.

Man darf niemals vergessen, dass alle Egos in Gruppenformationen und unter der direkten Leitung jener Denker arbeiten, die den göttlichen Gedanken des Logos verkörpern. Jeder Aspirant sollte daher bestrebt sein, das Gehirnbewusstsein mit jenen Gedanken in Übereinstimmung zu bringen, die ihn über das Seelenbewusstsein erreichen; dadurch wird sich der göttliche Plan allmählich auf der physischen Ebene sichtbar auswirken.

Wenn jeder Gottessohn die aktive Denksubstanz, für die er verantwortlich ist, in einen solchen Zustand bringt, dass sie für göttliche Gedanken empfänglich wird, dann wird der Plan aller Zeiten durchgeführt und beendet werden. Niemand braucht zu verzagen wegen seiner vermeintlichen Unfähigkeit oder Geringfügigkeit, denn ein jeder von uns ist mit irgendeinem Teil des Planes betraut worden, und wir müssen ihn durchführen. Ohne unsere Mitarbeit entsteht Verzögerung und Unklarheit. Manchmal entstehen grosse Schwierigkeiten, wenn ein winzig kleiner Teil eines grossen Mechanismus nicht richtig funktioniert; oft sind grosse Korrekturen und Regulierungen notwendig, ehe die ganze Maschinerie weiter [411] arbeiten kann. Im Bereich der menschlichen Zusammenarbeit kann leicht eine ähnliche Situation eintreten.

Die ständig aktive Denksubstanz kann sowohl auf die vom dreifachen niederen Menschen ausgehenden niedrigeren Schwingungen, als auch auf die von der Seele (dem Mittler zwischen Geist und Materie) ausgehenden Schwingungen reagieren. Die Seele ist sich dieses Zustandes stets bewusst; der Mensch auf der physischen Ebene ist dafür blind, oder er wird sich eben erst dieser zweifachen Möglichkeit bewusst. Die Arbeit des Yoga-Aspiranten besteht darin, die Denksubstanz allmählich und immer mehr unter den Einfluss des höheres Impulses zu bringen und sie der niederen Schwingung zu entziehen, so dass schliesslich die Reaktionsfähigkeit auf die höhere Schwingung zu einem stabilen Zustand wird, die Schwingungstätigkeit des niederen Menschen abnimmt und schliesslich ganz aufhört.

19. Da das Denkvermögen erkannt oder wahrgenommen werden kann, ist es offensichtlich, dass es nicht die Quelle der Erleuchtung sein kann.

Dieser und die beiden folgenden Lehrsprüche gehen in typisch orientalischer Weise an ein sehr schwieriges Problem heran. Diese Art des Argumentierens ist dem westlichen Denken weniger vertraut. In den sechs Schulen der Hindu-Philosophie ist das ganze Problem des Ursprungs der Schöpfung und der Natur des Denkvermögens zergliedert und diskutiert und so vollständig behandelt worden, dass praktisch alle modernen Denkrichtungen als Weiterentwicklung oder logische Folgeerscheinungen der verschiedenen Standpunkte der Hindus angesehen werden können. Der Schlüssel zu den verschiedenen Auffassungen über diese beiden Punkte kann vielleicht in den sechs Typen gefunden werden, in die alle Menschen [412] einzuordnen sind, denn der siebente ist nur die Synthese oder Zusammenfassung aller anderen.

In den Yoga-Lehrsprüchen wird dem Denkvermögen nur die Aufgabe eines Instruments zuerkannt, eines Mittlers, einer empfindlichen Platte; es registriert entweder das, was von oben einströmt, oder das, was von unten her einwirkt. Es hat keine eigene Persönlichkeit, kein eigenes Licht oder Leben, ausser dem, was aller Substanz innewohnt und daher auch in den Atomen der Denksubstanz zu finden ist. Da diese Atome sich auf der gleichen Entwicklungsstufe befinden wie die übrige niedere Natur, verstärken sie die Flut der materiellen Kräfte, welche die Seele gefangen halten wollen, und welche die grosse Illusion ausmachen.

Das Denkvermögen kann daher in zweifacher Hinsicht erkannt werden: erstens kann es vom Denker, von der Seele auf ihrer eigenen Ebene erkannt und erfahren werden, und zweitens kann es als ein Werkzeug des Menschen auf der physischen Ebene angesehen und erkannt werden. Lange Zeit hindurch wurde der Mensch das, womit er sich identifizierte, unter Ausschluss des geistigen, wahren Menschen, der durch einen Kontakt erlebt und erkannt werden kann; erst wenn das Denkvermögen auf den ihm zukommenden Rang, als Instrument der Erkenntnis zu dienen, verwiesen wurde, gehorchte der niedere Mensch dem geistigen.

Eine Analogie der physischen Ebene kann hier zum Verständnis beitragen. Das Auge ist eines unserer Hauptsinnesorgane, wodurch wir uns Kenntnisse aneignen und die Welt sehen und erleben. Wir machen jedoch nicht den Fehler, das Auge selbst als eine Lichtquelle und als das zu betrachten, was das Offenbarwerden bewirkt. Wir wissen, dass es ein Instrument ist, welches auf gewisse Lichtschwingungen reagiert, wodurch gewisse Informationen über die physische [413] Welt an unser Gehirn, die grosse Aufnahmeplatte auf der physischen Ebene, übermittelt werden. Für die Seele ist das Denkvermögen ebenfalls ein Auge oder ein Fenster, durch welches Information kommt, aber es ist nicht selbst die Quelle von Licht oder Erleuchtung.

Hier ist folgende Bemerkung interessant: Als das Gehirn und die Denkfähigkeit koordiniert wurden (was zum erstenmal im lemurischen Zeitalter der Fall war), wurde gleichzeitig auch der Gesichtssinn entwickelt. Im Verlauf fortschreitender Entwicklung findet eine höhere Koordinierung statt, nämlich das Einswerden von Seele und Denkvermögen. Dann kommt das Organ des subtileren Sehens (das dritte Auge) in Funktion, und an die Stelle des Denkvermögens, des Gehirns und der beiden Augen, tritt dann eine andere Dreiheit, nämlich die Seele, das Denkvermögen und das dritte Auge. Das Gehirn ist daher nicht die Quelle der Erleuchtung, sondern es nimmt das Licht der Seele wahr und erkennt das, was dieses Licht im Bereich der Seele offenkundig macht. Gleichzeitig entwickelt sich das dritte Auge und gewährt seinem Besitzer Einblick in die Geheimnisse der subtileren Bereiche der drei Welten, so dass das Gehirn Erleuchtung, Information und Wissen aus zwei Richtungen erhält: von der Seele über das Denkvermögen, und von den feinstofflichen Ebenen in den drei Welten durch das dritte Auge.

Es ist hier zu beachten, dass das dritte Auge in der Hauptsache das Licht erkennen lässt, das im Innern einer jeden Form göttlicher Manifestation zu finden ist.

20. Auch kann es nicht zwei Objekte gleichzeitig erkennen, sich selbst und das, was ausserhalb seiner selbst liegt.

Keine der Körperhüllen, durch welche die Seele wirkt, besitzt Selbsterkenntnis; sie sind nur Instrumente und Mittel, um Wissen zu erlangen und Erfahrungen des Lebens zu gewinnen. Das [414] Denkvermögen erkennt sich nicht selbst, denn das würde Selbstbewusstheit voraussetzen. Da es kein individuelles Bewusstsein hat, kann es nicht sagen: «Das bin ich selbst, und das liegt ausserhalb meiner selbst, und folglich bin ich das nicht». Es ist lediglich ein zusätzlicher Sinn, durch den Information erlangt und ein weiteres Wissensgebiet erschlossen wird. Es ist, wie schon gesagt, lediglich ein Instrument, das für eine zweifache Funktion geeignet ist: es registriert Kontakte aus einer von zwei Richtungen, und es übermittelt das Wissen von der Seele zum Gehirn, oder vom niederen Menschen zur Seele. Darüber muss meditiert werden; das ganze Bemühen muss dahin gehen, dieses Instrument in einen solchen Zustand zu bringen, dass man den grösstmöglichen Nutzen aus seinem Gebrauch ziehen kann. Das ist es, was die drei letzten Yogamittel erreichen wollen. Da dieses Thema schon vorher ausführlich behandelt worden ist, ist es nicht nötig, hier näher darauf einzugehen.

21. Wenn man annähme, dass ein Denkvermögen (Chitta) von einem anderen Denkvermögen wahrgenommen oder erkannt wird, dann ergäbe sich zwangsläufig die Folgerung, dass es unendlich viele Erkennende geben muss. Die Aufeinanderfolge der Reaktionen im Gedächtnis würde zu unendlicher Verwirrung führen.

Eine der Erklärungen für die Funktionen des Denkens ist die Behauptung, dass es die Fähigkeit habe, sich von sich selbst zu distanzieren und sich als etwas Abgesondertes zu sehen. Auf diese Weise würde es zu einem Durcheinander von getrennten Teilen werden, die keine Beziehung zueinander hätten, und das müsste logischerweise zu einem chaotischen Zustand führen. Eine solche Behauptung ist deshalb entstanden, weil sich die Philosophen der alten Schule weigern, die Möglichkeit zuzugeben, dass es eine ausserhalb des Denkens [415] bestehende Wesenheit gibt, die das Denkvermögen nur als Mittel zur Erwerbung von Wissen benutzt. Das Problem hat sich zum grossen Teil aus der Tatsache ergeben, dass dieser Denker solange nicht erkannt werden kann, ehe nicht das Denken entwickelt ist. Er kann vom Mystiker und Gottergebenen erahnt und erfühlt werden, aber ein Wissen um ihn (in der gewöhnlichen Bedeutung des Wortes) ist erst dann möglich, wenn das Instrument des Erkennens, die Denkfähigkeit, entwickelt ist. Hier ist der Punkt, wo das Wissen des Ostens ergänzend hinzukommt und die Konzeptionen klarer werden lässt, die von den Denkern der Mental-Science und der Christlichen Wissenschaft so wunderbar umrissen worden sind. Sie haben die Tatsache des individuellen und universalen Denkprinzips betont, und deshalb schulden wir ihnen vielen Dank. Das Wesen des Denkens, sein Ziel, seine Beherrschung, seine Probleme und Vorgänge sind heute Themen allgemeiner Diskussionen, was vor hundert Jahren noch nicht der Fall war. Aber trotz allem besteht noch viel Unklarheit infolge der modernen Tendenz, das Denken zu vergöttern und es als den einzigen wichtigen Faktor anzusehen. Die Wissenschaft des Ostens kommt uns zu Hilfe und sagt, dass hinter dem Denken der Denker steht; hinter der Wahrnehmung ist der Wahrnehmende, und hinter dem Objekt der Betrachtung ist der Betrachter zu finden. Dieser Wahrnehmende, Denker und Betrachter ist das unsterbliche, unvergängliche Ego, die Seele in Kontemplation,

22. Wenn die geistige Intelligenz, die allein und losgelöst von allen Objekten besteht, sich in der Denksubstanz widerspiegelt, wird das Selbst wahrgenommen.

Diese geistige Intelligenz, der wahre Mensch, der Sohn Gottes, [416] der ewig im Himmel wohnt, ist unter vielen verschiedenen Namen bekannt. Die folgende Liste von Synonymen ist für den Studierenden von Wert, denn sie gibt ihm eine weitere Sicht und ein umfassendes Verstehen; sie macht ihm die Tatsache klar, dass die Gottessöhne, offenbar oder verborgen, überall zu finden sind.

Die geistige Intelligenz                    Der innere Herrscher                       Das fleischgewordene Wort.

Die Seele                                            Der zweite Aspekt                            Das AUM.

Die eigenbewusste Wesenheit       Die zweite Person                            Der Denker.

Der Christus                                      Gott in Inkarnation                           Der Beobachter, der Wahrnehmende. 

Das Selbst                                          Der Sohn des Denkprinzips            Der Erbauer der Form.

Das höhere Selbst                            Der göttliche Manasaputra            Kraft.

Der Sohn Gottes                               Der Agnishvatta                                Der im Körper Wohnende.

Diese und viele andere Bezeichnungen sind in den Heiligen Schriften und in der Literatur der Welt zu finden. In keinem Buch ist jedoch das Wesen der Seele, ob makrokosmisch (der kosmische Christus) oder mikrokosmisch (der individuelle Christus) so wunderbar dargestellt wie in der Bhagavad Gita. In den drei Büchern - der Bhagavad Gita, dem Neuen Testament und den Yoga-Lehrsprüchen - ist das vollständige Bild der Seele und ihrer Entfaltung enthalten.

23. Dann wird die Denksubstanz, die sowohl den Erkennenden wie das Erkennbare reflektiert, allwissend.

Dieser Satz ist eine Zusammenfassung; er betont die Tatsache, dass das durch Konzentration und Meditation zur Ruhe gekommene [417] Denken zum Reflektor wird, und zwar zum Reflektor «dessen, was oben, und dessen, was unten ist». Es übermittelt sowohl das Wissen des Selbstes an das physische Gehirn des inkarnierten Menschen, als auch all das, was das Selbst erkennt und wahrnimmt. Das Feld der Erkenntnis wird gesehen und erkannt. Der Erkennende wird ebenfalls wahrgenommen, und so wird die «Wahrnehmung aller Objekte» möglich. Darauf beruht die Tatsache, dass dem Yogi nichts verborgen oder unbekannt bleibt. Er hat die Möglichkeit, sich über alles zu informieren, denn er hat ein Instrument, das er benützen kann, um das herauszufinden, was die Seele über das Reich Gottes, das Reich der geistigen Wahrheit, weiss. Er kann auch mit der Seele in Verbindung treten und ihr all das Wissen übermitteln, das dem Menschen in der physischen Verkörperung bekannt ist. So werden der Erkennende, das Feld des Erkennens und das Erkannte vereinigt, und das Medium dieser Vereinigung ist das Denken.

Das ist eine wichtige Stufe auf dem Heimweg zu Gott, und obwohl zu gegebener Zeit die Intuition an die Stelle des Denkens, und die direkte geistige Wahrnehmung an die Stelle mentaler Wahrnehmung treten wird, so ist diese Stufe dennoch eine wichtige und fortgeschrittene, denn sie öffnet die Tür zur unmittelbaren Erleuchtung. Nichts kann nun das Herabströmen geistiger Kraft und Weisheit in das Gehirn behindern, denn der ganze dreifache niedere Mensch ist geläutert und beherrscht; der physische, emotionale und mentale Körper sind jetzt eine Stromrinne für das göttliche Licht, und ein Werkzeug, durch das sich das Leben und die Liebe Gottes kundtun kann.

24. Auch die [418] Denksubstanz, die ja unendlich viele Denkeindrücke widerspiegelt, wird zum Werkzeug des Selbstes und wirkt als vereinigende Kraft.

Dem geistigen Menschen bleibt in bezug auf dieses geläuterte niedere Selbst nichts weiter zu tun übrig, als zu lernen, von seinem Werkzeug, dem Denkvermögen, richtigen Gebrauch zu machen; dadurch werden die beiden anderen Körper gelenkt, kontrolliert und nutzbar gemacht. Durch die acht Yoga-Mittel wurde sein Werkzeug entdeckt, entwickelt und gemeistert; jetzt muss es wirksam und auf dreierlei Art angewendet werden:

1. Als Träger für das Leben der Seele.

2. Im Dienst für die Hierarchie.

3. Zur Zusammenarbeit mit dem Entwicklungsplan.

In Buch I, Lehrspruch 41, finden wir die Worte: «Wer die Vrittis (mentale Modifikationen) völlig beherrscht, erlangt einen Zustand der Wesensgleichheit mit dem, was erkannt wird. Der Erkennende, das Erkannte und das Feld des Erkennens werden eins, so wie ein Kristall die Farbe dessen annimmt, was sich in ihm widerspiegelt». Das gibt uns eine Vorstellung von dem, was in dem Menschen vor sich geht, der sein Instrument gemeistert hat. Er registriert - mittels des Denkvermögens - in seinem Gehirn das, was wahr und wirklich ist; er erkennt die Art des Ideals und setzt alle seine Kräfte ein, um dieses Ideal zur objektiven Manifestation zu bringen; er erschaut das Reich Gottes so, wie es einstens einmal sein wird; er gibt alles was er hat und ist, hin, um das geistige Zukunftsbild allen Menschen aufzuzeigen. Er kennt den Plan, denn er wurde ihm an dem [419] «geheimen Ort auf dem Berge Gottes» offenbart, und er wirkt auf der physischen Ebene in einsichtsvoller Weise in Übereinstimmung mit diesem Plan; er hört die Stimme der Stille und gehorcht ihrem Befehl; beharrlich strebt er danach, ein geistiges Leben zu führen in einer Welt, die sich materiellen Dingen verschrieben hat.

Alles das ist dem Menschen möglich, der seine unbeständige psychische Natur zur Ruhe gebracht und die königliche Wissenschaft des Raja Yoga gemeistert hat.

Der folgende Auszug aus den geheimen Schriften der Adepten fasst den Zustand des Menschen zusammen, der das Ziel erreicht hat, der Meister und nicht Diener, der Überwinder und nicht Sklave ist:

«Der Fünffältige ist eingegangen in den Frieden, aber er geht unsere Wege. Das, was dicht und dunkel war, erscheint nun in einem klaren, reinen Licht, und aus den sieben heiligen Lotosblüten strömt der Strahlenglanz hervor. Er erleuchtet die Welt und durchstrahlt die niederste Ebene mit göttlichem Feuer.

Das, was bisher ruhelos, wild wie der Ozean, wogend wie die stürmische See gewesen ist, liegt nun ruhig und still da. Klar sind die Wasser des niederen Lebens; sie können den Durstigen dargeboten werden, die suchend danach verlangen.

Das, was seit Äonen die Wirklichkeit erstickt und verborgen hat, ist nun selbst vernichtet, und mit seinem Erlöschen ist auch das abgesonderte Leben zu Ende. Das Eine wird gesehen. Die Stimme wird gehört. Die Wirklichkeit wird erkannt, die Vision wird erschaut. Das Feuer Gottes steigt flammend empor.

Der dunkelste Ort empfängt das Licht. Es dämmert auf Erden. Die herabströmende Helligkeit strahlt ihren Glanz selbst bis in die Hölle hinein, und alles ist Licht und Leben».

Dann wird der befreite Yogi vor eine Wahl gestellt. Er steht vor einem geistigen Problem, dessen Art in dem folgenden Fragment aus einem alten, esoterischen Katechismus [420] dargestellt wird:

«Was siehst du, Befreiter? - Meister, ich sehe viele, die leiden und um Hilfe rufen.

Was willst du tun, Mensch des Friedens? - Ich werde dorthin zurückkehren, von wo ich kam.

Woher kommst du, göttlicher Pilger? - Ich komme aus tiefster Dunkelheit heraufgestiegen in das Licht.

Wohin gehst du, o Wanderer auf dem aufwärtsführenden Weg? - Ich gehe zurück in die Tiefen der Dunkelheit, hinweg vom Licht des Tages.

Aus welchem Grunde kehrst du um, o Sohn Gottes? - Um jene zu sammeln die im Dunkeln straucheln, und um die Stufen auf ihrem Weg zu erhellen.

Wann ist dein Dienst zu Ende, o Erlöser der Menschen? - Ich weiss es nicht. Doch das eine weiss ich: Solange noch jemand leidet, so lange bleibe ich und diene».

25. Der Zustand losgelösten Eins-Seins (zurückgezogen in das wahre Wesen des Selbstes) ist die Belohnung für jenen Menschen, der zwischen der Denksubstanz und dem Selbst (dem geistigen Menschen) unterscheiden kann.

Der Zustand losgelösten Einsseins ist nicht so sehr ein Streben nach Absonderung, sondern vielmehr die Folge eines errungenen besonderen Bewusstseinszustandes.

Alle Meditationsarbeit, jeder Augenblick des Nachsinnens, alle positiven Übungen, alle Stunden, in denen ein Mensch sich an sein wahres Wesen erinnert, sind Mittel, die angewendet werden, um das Denken von den niederen Reaktionen und Neigungen loszulösen und die Gewohnheit anzunehmen, sich ständig seines wahren göttlichen Wesens bewusst zu sein. Wenn dies erreicht ist, hört die Notwendigkeit für derartige Übungen auf, und der Mensch tritt sein Erbe an. Die Losgelöstheit, die hier gemeint ist, ist die Loslösung des niederen Selbstes vom Feld des Erkennens, und die [421] Weigerung, in der äusseren Welt sinnliche Erfahrungen zu suchen; fest und unbeirrt verharrt es im geistigen Sein.

Der Mensch wird sich bewusst, dass er der Erkennende ist, und er befasst sich nicht mehr vorwiegend mit dem Feld des Erkennens wie in den Frühstadien seiner Entfaltung; auch ist er nicht mehr an einer Anhäufung von Kenntnissen interessiert wie im Stadium der mentalen Entwicklung zum fortgeschrittenen Menschen oder zum Jünger. Er kann alle drei Aspekte unterscheiden und identifiziert sich von nun an weder mit dem Feld des Erkennens (dem Leben in den drei Welten) durch das Medium seiner drei Körperhüllen, der fünf Sinne und des Denkvermögens, noch mit dem erlangten Wissen und der gesammelten Erfahrung. Er kennt das Selbst; da er sich mit dem wahren Erkennenden identifiziert, sieht er die Dinge so wie sie sind, und er kehrt sich von der Welt sinnlicher Wahrnehmung vollständig ab.

Trotzdem erfüllt er seine Aufgaben, die ihm als Mensch in der Welt gestellt sind; er nimmt teil am Erleben der Welt; er übt menschliche Tätigkeiten aus; er lebt unter Menschen, isst, schläft und arbeitet. Aber während der ganzen Zeit «ist er in der Welt, doch nicht von der Welt»; von ihm kann - wie von Christus - gesagt werden:

«Obwohl er in göttlicher Gestalt war, hielt er's nicht für einen Raub, Gott gleich zu sein, sondern entäusserte sich selbst und nahm Knechtsgestalt an.

Er ward gleich, wie ein anderer Mensch und an Gebärden als ein Mensch erfunden;

er erniedrigte sich selbst und ward gehorsam bis zum Tode, ja bis zum Tode am Kreuz». (Philipper II: 6. 7. 8.)

Er ist [422] eins mit der Seele von Allem, jedoch losgelöst, getrennt von allem, was die Form der materiellen Natur betrifft. Die nächsten drei Lehrsprüche müssen zusammen gelesen werden, denn sie entrollen ein Bild von der allmählichen Weiterentwicklung der geistigen Natur jenes Menschen, der die Stufe des unterscheidenden Losgelöstseins erreicht hat und infolge absoluter Leidenschaftslosigkeit die Bedeutung des losgelösten Einsseins kennt.

26, 27, 28. Das Denken strebt dann kraftvoll nach Unterscheidung und zunehmender Erleuchtung - dem wahren Wesen des einen Selbstes. Die Macht der Gewohnheit bringt es jedoch mit sich, dass das Denken auch andere mentale Eindrücke widerspiegelt und Objekte der Sinneswelt wahrnimmt. Diese Spiegelbilder sind ihrem Wesen nach Hindernisse, die auf die gleiche Weise überwunden werden können, wie im Buch II, Lehrspruch 10 angegeben.

Wenn einmal die richtigen Tendenzen und Rhythmen festgelegt sind, ist deren Beständigkeit lediglich eine Frage der Beharrlichkeit, des gesunden Menschenverstandes und der Ausdauer. Wenn nicht äusserste Wachsamkeit geübt wird, stellen sich die alten Gewohnheiten des Denkens sehr leicht wieder ein; sogar bis zur letzten Einweihung muss der Aspirant «wachen und beten».

Die Regeln, die den Sieg bestimmen, die Übungen, die zum Erfolg führen, sind für den fortgeschrittenen und geübten Kämpfer die gleichen wie für den Neuling. In Buch II sind die Methoden, wie die Hindernisse überwunden werden können, genauestens angegeben. Von dem Zeitpunkt an, da der Mensch den Probepfad betritt, bis zu jenem hohen Augenblick, da er die letzte grosse [423] Einweihung empfängt und im vollen Licht des Tages steht, müssen diese Methoden und Regeln für eine disziplinierte Lebensweise unbeirrt befolgt werden. Dazu gehört Geduld, die Fähigkeit, nach einem Versagen fortzufahren, auszuharren, wenn der Erfolg in weiter Ferne zu liegen scheint. Das war dem grossen Eingeweihten Paulus wohlbekannt, und deshalb ermahnte er die Jünger, denen er helfen wollte: «Darum seid standhaft ... und wenn ihr alles getan habt, haltet aus». Jakobus drückt den gleichen Gedanken aus, wenn er sagt: «Siehe, wir preisen die selig, die ausharren».

Weitergehen, wenn der Punkt der Erschöpfung erreicht ist, und wenn wir meinen, wir hätten keine Kraft mehr dazu, standhaft bleiben, auch wenn eine Niederlage droht, die Entschlossenheit, auszuharren, was immer auch kommen möge, - das sind die Kennzeichen der wahren Jünger aller Grade. An sie ergeht der Ruf des Paulus:

«So steht nun, umgürtet an euren Lenden mit Wahrheit und angezogen mit dem Panzer der Gerechtigkeit;

und an den Beinen gestiefelt, als fertig, zu treiben das Evangelium des Friedens.

Vor allen Dingen aber ergreifet den Schild des Glaubens, mit welchem ihr auslöschen könnt alle feurigen Pfeile des Bösewichts;

und nehmet den Helm des Heils und das Schwert des Geistes, welches ist das Wort Gottes». (Epheser VI. 14. 15. 16. 17)

Der ebenso klare Befehl Krishnas an Arjuna lautet:

«Bedenke [424] deine Pflicht und schreie nicht zurück. denn für den Krieger gibt es nichts Besseres als den gerechten Kampf. Und solch ein Kampf steht dir bevor, grad wie ein aufgetanes Himmelstor. glücklich die Krieger ... denen sich solch ein Kampf bietet ... darum ermanne dich, entschliesse dich zum Kampf. Erachte gleich: Glück und Ungemach, Gewinn und Verlust, Sieg oder Niederlage. Gürte dich zum Kampf!»

(Bhagavad Gita II. 31. 32. 38. 37)

29. Der Mensch, der sogar bei seinem Streben nach Erleuchtung und losgelöstem Einssein innerlich frei bleibt, nimmt schliesslich die überschattende Wolke geistigen Erkennens wahr.

Für den Neuling ist es schwierig, unpersönlich zu bleiben, wenn es sich um seine eigene geistige Entfaltung handelt, denn gerade die Ernsthaftigkeit seines Strebens kann ein Hindernis sein. Mit zu den ersten Dingen, die er lernen muss, gehört folgendes: Einerseits auf dem Weg vorwärts zu gehen, sich an die Regeln zu halten, die Übungen zu befolgen, die Mittel anzuwenden und stets das Gesetz zu erfüllen; andererseits und gleichzeitig die geistige Schaukraft zu kultivieren und Dienste zu leisten, aber nicht mit sich selbst beschäftigt zu sein. Es ist so leicht, das Opfer hohen Verlangens zu werden und mit den Reaktionen und Empfindungen des strebenden niederen Menschen so beschäftigt zu sein, dass man sehr schnell von neuem in das Netz der veränderlichen psychischen Natur gerät.

Das Nicht-Anhangen an jeglichen Formen sinnlicher Wahrnehmung, (an höheren sowohl als auch an niederen) muss entwickelt werden.

Viele Menschen, die den Weg des Gefühls und hingebenden Herzens (den Weg des Mystikers) verlassen und zum Weg der verstandesmässigen Kontrolle (zur okkulten Methode) übergehen, bedauern, dass die früheren Augenblicke der Freude und Glückseligkeit, [425] die sie während der Meditation erlebt haben, sich nicht mehr einstellen. Das jetzt befolgte System erscheint ihnen nüchtern, trocken und unbefriedigend. Aber Freude und Frieden sind Empfindungen der emotionalen Natur, die in keiner Weise die Wirklichkeit berühren. Vom Standpunkt der Seele aus gesehen ist es unwesentlich, ob ihr Abbild, der Mensch in der Verkörperung, glücklich oder unglücklich, freudig oder traurig, zufrieden oder unzufrieden gestimmt ist. Nur eines ist wesentlich: das Zustandekommen des Kontakts mit der Seele, die (bewusste und klar erkannte) Vereinigung mit dem Einen. Diese Vereinigung mag sich vielleicht im physischen Bewusstsein als ein Gefühl des Friedens und der Freude auswirken; sie muss sich aber in einer grösseren Fähigkeit manifestieren, der Menschheit zu dienen und in diesem Dienst mehr zu leisten. Die Gefühle des Jüngers spielen dabei nur eine geringe Rolle; wichtig ist einzig sein Verständnis und seine Brauchbarkeit als Vermittler geistiger Kraft. Man darf nicht vergessen, dass auf dem Pfad weder unsere Tugenden noch unsere Laster zählen (ausser insofern als wir uns von den Gegensatzpaaren freimachen). Nur das zählt, was uns vorwärts treibt auf dem Pfad, der «immer heller wird bis zum ersehnten Tag».

Wenn ein Mensch seinen Blick loslösen kann von allem, was das Physische, Emotionale und Mentale betrifft, wenn er seine Augen erhebt und von sich hinweg wendet, dann wird er «die überschattende Wolke geistigen Erkennens» oder die «Regenwolke erkennbarer Dinge» (wie sie auch genannt wird) wahrnehmen.

Damit wird esoterisch und symbolisch angedeutet, dass dem Eingeweihten (so fortgeschritten er auch ist) ein weiterer Fortschritt bevorsteht, und dass er noch einen weiteren Schleier durchdringen [426] muss. Er hat eine grosse Einswerdung erreicht, er hat Seele und Körper vereinigt. Er steht (was die drei Welten anbelangt) auf der Stufe des losgelösten Einsseins. Aber nun wird eine weitere Vereinigung möglich, die Vereinigung der Seele mit dem Geist. Der Meister muss zum Christus werden, und darum muss «die Regenwolke geistigen Erkennens» erreicht, benutzt und durchdrungen werden. Es ist nutzlos für uns darüber nachzudenken, was auf der anderen Seite des Vorhangs liegt, der den Vater verbirgt. Im Neuen Testament lesen wir, dass, als der Vater mit Christus sprach, die Stimme aus einer Wolke kam. (Siehe Matthäus XVII)

30. Wenn diese Stufe erreicht ist, sind die Hindernisse und das Karma überwunden.

Die beiden Sätze, die wir jetzt studiert haben, haben den Strebenden von der Stufe des Adepten zu der des Christus geführt.

Alles, was dem vollen Ausdruck des göttlichen Lebens im Wege stand, ist überwunden, alle Schranken sind niedergerissen, alle Hindernisse beseitigt. Das Rad der Wiedergeburt hat seinen Zweck erfüllt, und die geistige Einheit, die beim Eintreten in die Form alle potentiellen Kräfte und latenten Möglichkeiten mit sich führte, hat diese nun voll und ganz entwickelt und die Blüte der Seele entfaltet. Das Gesetz von Ursache und Wirkung, das in den drei Welten wirksam ist, hat keine Macht mehr über die befreite Seele; sein individuelles Karma hat ein Ende, und obwohl er noch dem planetarischen oder solaren Gruppenkarma unterworfen sein mag, so hat [427] er doch selbst nichts mehr abzutragen; und er leitet nichts mehr ein, was ihn mit den Fesseln des Verlangens an die drei Welten binden könnte. Sein Zustand ist im nächsten Lehrspruch zusammengefasst.

31. Wenn durch die Beseitigung der Hindernisse und die Läuterung der Körperhüllen dem Menschen alles Wissen offen steht, bleibt ihm nichts mehr zu tun übrig.

Das zweifache Werk ist vollendet. Die Hindernisse, die das Ergebnis von Unwissenheit, Blindheit, Umwelt und Aktivität waren, sind hinweggeräumt; da die groben Körperhüllen sublimiert sind und die Yogamittel befolgt wurden, wird dem Menschen alles Wissen zugänglich. Der Yogi ist sich seiner essentiellen Allgegenwart bewusst, das heisst, er ist sich dessen bewusst, dass seine Seele eins ist mit allen Seelen; sie ist deshalb ein Teil der einen essentiellen Einheit, des einen allesdurchdringenden Lebens, des grenzenlosen, unwandelbaren Prinzips, das die Ursache aller Manifestation ist. Er ist auch allwissend, denn alles Wissen steht ihm zu Gebote, und alle Wege zum Wissen stehen ihm offen. Er ist unabhängig vom Feld des Erkennens, doch kann er darin wirken; er kann das Instrument des Erkennens benutzen und alles ausfindig machen, was er wissen will, aber er selbst steht mitten im Bewusstsein des Erkennenden. Weder Zeit noch Raum können ihn halten, noch kann die materielle Form ihn einkerkern; und dann kommt für ihn die grandiose Vollendung, die Patanjali uns in den drei abschliessenden Lehrsätzen angibt:

«Lehrspruch 32. Dann [428] haben die durch die innewohnenden Grundeigenschaften der drei Gunas entstehenden Modifikationen der Denksubstanz ein Ende, denn sie haben ihren Zweck erfüllt.

Lehrspruch 33. Die Zeit, die eine Aufeinanderfolge der Modifikationen des Denkens ist, hat ebenfalls ein Ende und weicht dem ewigen Jetzt.

Lehrspruch 34. Der Zustand losgelösten Einsseins wird möglich, sobald die drei Grundeigenschaften der Materie (die drei Gunas oder Wirkkräfte der Natur) keinen Einfluss mehr auf das Selbst ausüben. Das reine Geistbewusstsein zieht sich in das Eine zurück».