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2. Buch - Die Stufen zur Vereinigung - Teil 1

2. Buch - Die Stufen zur Vereinigung

a. Die fünf Hindernisse und ihre Beseitigung.

b. Definition der acht Mittel und Wege.

Hauptthema: Die Mittel und Wege, um das Ziel zu erreichen.

(115)

DIE YOGA LEHRSPRÜCHE VON PATANJALI

2. Buch
Die Stufen zur Vereinigung

1. Der wirksam tätige Yoga, der zur Vereinigung mit der Seele führt, ist glühendes Streben, geistiges Studium und Hingabe an Ishvara.

2. Das Ziel dieser drei Bestrebungen ist, die Vision der Seele zu erreichen und die Hindernisse zu beseitigen.

3. Die Leid-verursachenden Hindernisse sind Avidya (Unwissenheit), Ichgefühl, Begehren, Hass und Anhangen.

4. Avidya (Unwissenheit) ist die Ursache aller anderen Hindernisse, mögen sie nun latent sein, gerade beseitigt werden, überwunden oder in voller Wirksamkeit sein.

5. Avidya ist der Zustand, in dem das Dauernde, das Reine, das Glückselige, das Selbst verwechselt wird mit dem Vergänglichen, dem Unreinen, dem Leidvollen, dem Nicht-Selbst.

6. Das Ichgefühl entsteht dadurch, dass sich der Wahrnehmende mit den Werkzeugen der Wahrnehmung identifiziert.

7. Begehren ist Anhangen an Objekten, die Wohlgefühle schaffen.

8. Hass ist heftiger Widerwille gegen irgendein Objekt sinnlicher Wahrnehmung.

9. Intensives Verlangen nach empfindendem Dasein ist Anhangen. Es wohnt in jeder Form, erneuert sich ständig von selbst und ist sogar dem Weisen hohen Grades bekannt.

10. Wenn diese fünf Hindernisse zutiefst erkannt sind, können sie durch eine entgegenwirkende mentale Einstellung überwunden werden.

11. Ihre Wirksamkeit muss durch stetige Meditation beseitigt werden.

12. Selbst das Karma hat seine Wurzeln in diesen fünf Hindernissen, und es muss in diesem oder in einem späteren Leben zur Auswirkung kommen.

13. Solange die Wurzeln oder Samskaras bestehen, bewirken sie Geburt und ein Dasein mit Lust- oder Leiderfahrung.

14. Aus diesen Keimen (oder Samskaras) erwächst Freud oder Leid, je nachdem ob das, was der Mensch säte, gut oder böse war.

15. Der erleuchtete Mensch betrachtet das ganze Dasein (in den drei Welten) als leidvoll, und zwar wegen der Wirksamkeiten der Gunas. Diese Wirksamkeiten sind von dreifacher Art: sie bringen karmische Folgen, Kümmernisse und bange Ahnungen mit sich.

16. Leid, das noch bevorsteht, kann abgewendet werden.

17. Die Illusion, dass der Wahrnehmende und das Wahrgenommene ein und dasselbe sind, ist die Ursache (der leidschaffenden Wirkungen), die verhütet werden muss.

18. Das Wahrgenommene hat drei Qualitäten: Sattva, Rajas und Tamas (Rhythmus, Aktivität und Trägheit); es besteht aus den Elementen und Sinnesorganen, deren Gebrauch Erfahrung bringt und schliesslich zur Befreiung führt.

19. Die Gunas (oder Qualitäten der Materie) haben ein vierfaches Wirkungsfeld: das Offensichtliche, das Subtile, das Angedeutete und das Unfassbare.

20. Der Seher ist reines Erkennen (Gnosis). Dennoch betrachtet er die dargestellte Idee durch das Medium seines Denkvermögens.

21. Alles Erschaffene besteht nur um der Seele willen.

22. Für den Menschen, der das Ziel des Yoga (die Vereinigung) erreicht hat, besteht die äussere Welt nicht mehr; sie besteht indes weiter für jene, die noch nicht frei sind.

23. Die Verbindung der Seele mit dem Denksinn und folglich mit dem, was der Denksinn wahrnimmt, führt dazu, das Wesen des Wahrgenommenen und auch des Wahrnehmenden zu erkennen.

24. Die Ursache dieser Verbindung ist Unwissenheit oder Avidya, die überwunden werden muss.

25. Wenn die Unwissenheit beendet ist, weil keine Bindung mehr an das Wahrgenommene besteht, dann ist das die grosse Befreiung.

26. Der Zustand der Unfreiheit wird durch beständige Anwendung des Unterscheidungsvermögens überwunden.

27. Die gewonnene Erkenntnis ist von siebenfacher Art und wird stufenweise erlangt.

28. Wenn die Mittel zum Yoga ständig angewendet wurden und die Unreinheit überwunden ist, kommt es zu einer Erhellung, die zur vollen Erleuchtung führt.

29. Die acht Mittel des Yoga sind: Die Gebote (für richtiges Verhalten) oder Yama, die Regeln der Selbstzucht oder Nijama, richtige Haltung oder Asana, Beherrschung der Lebenskraft oder Pranayama, Abstraktion oder Pratyahara, Konzentration oder Dharana, Meditation oder Dhyana, Kontemplation oder Samadhi.

30. Nicht schädigen oder unrecht tun, Wahrhaftigkeit gegenüber allen Wesen, Enthaltung von Diebstahl, von Ausschweifung und von Habgier - das sind die fünf Gebote oder Yama.

31. Yama oder die fünf Gebote sind allgemein gültige Verpflichtungen, die ohne Rücksicht auf Rasse, Ort, Zeit und Umstände eingehalten werden müssen.

32. Innere und äussere Reinigung, Zufriedenheit, glühendes Streben, geistiges Studium und Hingabe an Ishvara bilden Niyama (oder die fünf Regeln).

33. Wenn sich Gedanken einstellen, die dem Yoga schädlich sind, sollte man entgegengesetzte Gedanken wachrufen.

34. Dem Yoga entgegenstehende Gedanken sind: Unrecht und Schädigung, Falschheit, Diebstahl, Ausschweifung und Habsucht, einerlei ob man diese Dinge selbst tut, ob man sie billigt oder ob man andere dazu veranlasst; gleichgültig, ob die Gedanken aus Habgier, Zorn oder Verblendung (Unwissenheit) entstanden sind und ob die Versündigung geringfügig, mittelmässig oder gross ist. Immer enden sie in grossem Leid und Unwissenheit. Darum müssen entgegengesetzte Gedanken gebildet werden.

35. In der Gegenwart eines Menschen, der keinem Wesen mehr ein Leid oder Unrecht zufügt, hört alle Feindschaft auf.

36. Wer die Wahrhaftigkeit gegenüber allen Wesen wirklich vollkommen erreicht hat, dem wird die Wirksamkeit seiner Worte und Handlungen sofort sichtbar.

37. Wenn es dem Yogi gelungen ist, sich von Diebstahl jeglicher Art völlig zu enthalten, fällt ihm alles zu, was er braucht.

38. Durch Enthaltsamkeit erlangt man Energie.

39. Wer sich von Gier und Geiz völlig freigemacht hat, lernt das Gesetz der Wiedergeburt verstehen.

40. Innere und äussere Reinheit bewirkt Abkehr von der Form, von der eigenen und von allen Formen.

41. Reinheit bewirkt ferner ein ruhig-sanftes Gemüt, konzentrierte Aufmerksamkeit, Beherrschung der Organe und die Fähigkeit, das Selbst zu schauen.

42. Durch Zufriedenheit wird Glückseligkeit erlangt.

43. Durch glühendes geistiges Streben und durch Beseitigen aller Unreinheiten kommen die Kräfte im Körper und die Sinne zur vollen Entfaltung.

44. Geistiges Studium führt zum Kontakt mit der Seele (oder dem Göttlichen.)

45. Durch völlige Hingabe an Ishvara wird das Ziel der Meditation (der Samadhi-Zustand) erreicht.

46. Die eingenommene Haltung muss beständig und ungezwungen sein.

47. Ruhige, ungezwungene Haltung kann erreicht werden durch beharrliche kleine Anstrengungen und durch Konzentration der Gedanken auf das Unendliche.

48. Wenn ein Mensch das erreicht hat, wird er von den Gegensatzpaaren nicht mehr berührt.

49. Wenn man die rechte Haltung (Asana) erreicht hat, folgt die rechte Beherrschung des Prana und das richtige Einatmen und Ausatmen.

50. Die richtige Beherrschung des Prana (oder der Lebensströme) ist äusserlich, innerlich oder bewegungslos; sie hängt von Ort, Zeit und Zahl ab, ist langanhaltend oder kurz.

51. Es gibt einen vierten Zustand, der über die Stadien der inneren und äusseren Beherrschung hinausgeht.

52. Dadurch wird das, was das Licht verdunkelt, allmählich beseitigt.

53. Und das Denken ist für konzentrierte Meditation geeignet.

54. Abstraktion (oder Pratyahara) ist die Unterjochung der Sinne unter das Denkprinzip und deren Abkehr von den bisher erstrebten Dingen.

55. Diese Mittel bewirken die vollständige Unterwerfung der Sinnesorgane.

DIE YOGA LEHRSPRÜCHE VON PATANJALI

2. Buch - Die Stufen zur Vereinigung

1. Der wirksam tätige Yoga, der zur Vereinigung mit der Seele führt, ist glühendes Streben, geistiges Studium und Hingabe an Ishvara.

Das zweite Buch [119] beschreibt den praktischen Teil der zu leistenden Arbeit; es gibt die Regeln an, die befolgt werden müssen, wenn der Aspirant sein Ziel erreichen will, und es weist auf die Methoden hin, die zur Verwirklichung des geistigen Bewusstseins führen. Das Endziel ist in Buch I behandelt worden. Der Aspirant wird am Schluss des ersten Buches natürlicherweise sagen: «Wie erstrebenswert und wie richtig, aber wie soll man da vorgehen? Was muss ich tun? Wo soll ich anfangen?»

Patanjali beginnt ganz am Anfang, und in diesem zweiten Buch weist er hin auf:

1. Die grundsätzlichen Erfordernisse der Persönlichkeit.

2. Die Hindernisse, die dann von dem ernsthaften Jünger festgestellt werden können.

3. Die «acht Mittel des Yoga» oder die acht Arten von Tätigkeit, welche die erforderlichen Resultate hervorbringen.

Diese Angaben [120] sind gerade wegen ihrer Einfachheit von aussergewöhnlichem Wert; da gibt es keine Unklarheit und keine komplizierten Abhandlungen, sondern nur eine klare und einfache Feststellung der Erfordernisse.

Hier ist es angezeigt, die verschiedenen Yoga-Arten zu erläutern, damit sich der Leser ein klares Bild über die Unterschiede machen und so seine Unterscheidungskraft schulen kann. Es gibt drei Hauptarten des Yoga; die verschiedenen anderen sogenannten «Yogas» finden ihren Platz in einer dieser drei Gruppen:

1. Raja Yoga                        der Yoga des Denkens oder Willens.

2. Bhakti Yoga                    der Yoga des Herzens oder des von glühender Liebe zu Gott erfüllten Mystikers.

3. Karma Yoga                   der Yoga des wirksamen Tätigseins.

Raja Yoga steht allein an erster Stelle und ist die Königliche Wissenschaft. Er ist die Summierung aller anderen Systeme und der Höhepunkt, der das Werk der Entwicklung im Menschenreich vollendet. Er ist die Wissenschaft des Denkens und des zielbewussten Willens, und er bringt die höheren Körperhüllen des Menschen in den drei Welten unter die Herrschaft des inneren Regenten. Diese Wissenschaft koordiniert den gesamten niederen dreifachen Menschen und zwingt ihn in eine Position, in der er nichts ist als ein Werkzeug für die Seele oder den Gott im Innern. Raja Yoga umfasst alle anderen Yoga-Systeme samt den Errungenschaften dieser Systeme. Raja Yoga fasst das Werk der Entwicklung zusammen und krönt den Menschen zum König.

Bhakti Yoga ist der Yoga des Herzens; er ist das Unterordnen [121] aller Gefühle, Wünsche und Empfindungen unter den einen Geliebten, der im Herzen erlebt und erkannt wird. Er ist die Sublimierung aller anderen Liebesgefühle und das Abtun allen Sehnens und Begehrens bis auf das eine Verlangen, den Gott der Liebe und die Liebe Gottes kennenzulernen.

Bhakti Yoga war die «königliche» oder die höchste Wissenschaft der letzten Stammrasse, der atlantischen, so wie die Wissenschaft des Raja Yoga die grosse Wissenschaft unserer arischen Zivilisation ist. Durch Bhakti Yoga wurde der Jünger ein Arhat und kam dadurch zur vierten Einweihung. Raja Yoga macht ihn zum Adepten und führt ihn zum Portal der fünften Einweihung. Beide führen zur Befreiung, denn der Arhat ist vom Rad der Wiedergeburt befreit; aber Raja Yoga macht ihn so frei, dass er voll und ganz als weisser Magier dienen und wirken kann. Bhakti Yoga ist der Yoga des Herzens, des Astralkörpers.

Karma Yoga hat eine spezifische Beziehung zur Tätigkeit auf der physischen Ebene; er ist bestrebt, alle inneren Impulse in der äusseren Welt zu verwirklichen. In seiner frühesten und einfachsten Form war er der Yoga der dritten oder lemurischen Stammrasse, und seine beiden bekanntesten Ausdrucksformen sind:

a. Hatha Yoga.

b. Laya Yoga.

Der erste hat insbesondere mit dem physischen Körper zu tun, mit dem bewussten (nicht unterbewussten und automatischen) Funktionieren und mit all den verschiedenartigen Anwendungsweisen, die dem Menschen die Herrschaft über die Organe und den ganzen mechanischen Apparat des physischen Körpers geben. Der Laya Yoga befasst sich mit dem Ätherkörper, mit den Kraftzentren oder [122] Chakras, die sich in diesem Körper befinden, mit der Lenkung der Kraftströmungen und dem Erwecken des Schlangenfeuers.

Wenn wir den menschlichen Körper in drei Abteilungen einteilen, könnte man folgendes sagen:

1. Karma Yoga bewirkte das Erwachen der vier Zentren unterhalb des Zwerchfells.

2. Bhakti Yoga bewirkte ihre Umwandlung und Verlegung in die zwei Zentren oberhalb des Zwerchfells - in das Herz - und Kehlzentrum.

3. Raja Yoga hingegen fasst alle Kräfte des Körpers im Kopf zusammen, und von da aus werden sie verteilt und gelenkt.

Patanjali befasst sich in der Hauptsache mit Raja Yoga, der die Auswirkungen aller anderen Systeme einbezieht. Dieser Yoga ist nur dann möglich, wenn man sich bereits mit den anderen Systemen befasst hat; das bedeutet aber nicht, dass es in diesem Leben gewesen sein muss. Die Entwicklung hat alle Menschen (die bereit sind, Schüler oder Jünger zu sein) die verschiedenen Rassen durchlaufen lassen. In der lemurischen Rasse (oder in der vorhergehenden Runde) waren sie alle Hatha- oder Laya-Yogis. Das führte zur Entwicklung und Beherrschung des zweifachen physischen Körpers, des dichten und ätherischen Körpers.

In der atlantischen Rasse hingegen wurde der Wunsch- oder Astralkörper entwickelt, und die Elite dieser Rasse waren die wahren Söhne des Bhakti Yoga und echte Mystiker. Jetzt muss der höchste der drei Körper zur vollen Entfaltung gebracht werden, und das soll durch den Raja Yoga erreicht werden, dessen Regeln Patanjali zu diesem Zweck ausgearbeitet hat. Diese höhere Entfaltung [123] wird der Beitrag der arischen Rasse zur allgemeinen Entwicklung sein; die Mitglieder der ganzen menschlichen Familie (mit Ausnahme eines kleinen Prozentsatzes, der zu spät hinzukam, um noch zur vollen Entfaltung der Seele zu kommen) werden als Gotteskinder in Erscheinung treten, die alle Kräfte Gottes entfaltet haben und bewusst auf der physischen Ebene und im physischen Körper anwenden. Patanjali sagt, dass drei Dinge dieses zustandebringen werden, im Verein mit gewissen Methoden und Regeln; diese drei sind:

1. Glühendes Streben, die Beherrschung des physischen Menschen, so dass jedes Atom seines Körpers vor Eifer und Bemühen brennt.

2. Geistiges Studium, das sich auf die Fähigkeit des Mentalkörpers bezieht, ein Symbol zu verstehen, d.h. den Wesensgehalt hinter der äusseren Form zu erkennen.

3. Völlige Hingabe an Ishvara, die sich auf den Astral- oder Emotionalkörper bezieht. Das ganze Herz verströmt sich in Liebe zu Gott - zu Gott im eigenen Herzen, zu Gott im Herzen des Bruders und zu Gott, der in jeder Form erkannt wird.

Glühendes Streben ist die Sublimierung von Karma Yoga. Hingabe an Ishvara ist die Sublimierung von Bhakti Yoga; geistiges Studium hingegen ist die erste Stufe zum Raja Yoga.

«Hingabe an Ishvara» ist ein weitreichender und allgemeiner Begriff; er umfasst die Beziehung des persönlichen Selbstes zum höheren Selbst, zum Ishvara oder Christusprinzip im Herzen. Er umfasst auch die Beziehung des individuellen Ishvara zum universalen oder kosmischen Ishvara. Er betrifft auch die Erkenntnis, dass die [124] Seele im Menschen ein Wesensteil der Überseele ist. Daraus entsteht Gruppenbewusstsein, das Endziel der königlichen Wissenschaft.

Hingabe bedingt gewisse Qualitäten, die der Hingebende erkennen und besitzen muss.

1. Die Fähigkeit, sich zu dezentralisieren, seine egozentrische und selbstsüchtige Einstellung umzuwandeln in die Hinwendung zu dem, was geliebt wird. Es wird auf alles verzichtet, wenn nur das Objekt der Verehrung gewonnen wird.

2. Unterordnung unter das, was geliebt wird, wenn dieses erst einmal erkannt worden ist. Das ist in einigen Übersetzungen «unbedingter Gehorsam gegenüber dem Meister» genannt worden; und das ist die richtige und genaue Übersetzung. Aber angesichts der Tatsache, dass das Wort Meister (für den Okkultisten) einen Adepten bezeichnet, haben wir das Wort «Ishvara» vorgezogen, den einen Gott im Herzen des Menschen, den göttlichen Jiva, den «Punkt göttlichen Lebens» im Mittelpunkt des Seins eines Menschen. Er ist in allen Menschen gleich, im Wilden sowohl als auch im Adepten. Der Unterschied liegt nur darin, bis zu welchem Grad er offenbar und wirksam wird. Völliger Gehorsam im Sinn der Unterordnung des Willens unter den Willen eines Lehrers oder Meisters wird in der wahren Yoga-Wissenschaft niemals gelehrt. Alle Methoden und Regeln des Yoga dienen nur dem einen Zweck, den niederen Menschen dem Willen des Innengottes unterzuordnen. Das muss sorgfältig beachtet werden. «Geistiges Studium» ist die wichtigste okkulte Vorbedingung dafür.

Jede Form ist das Ergebnis von Gedanke und Ton. Jede Form umhüllt oder verbirgt eine Idee oder Vorstellung. Jede Form ist daher nur das Symbol oder die versuchte Darstellung einer Idee; [125] und das gilt ohne Ausnahme für alle Ebenen unseres Sonnensystems, auf denen Formen zu finden sind, mögen diese nun von Gott, von Menschen oder von Devas geschaffen sein.

Eines der Ausbildungsziele eines Jüngers ist es, ihn zu befähigen, herauszufinden, was irgendeiner Form in irgendeinem Naturreich zugrunde liegt, und dadurch die Art der geistigen Energie zu bestimmen, welche die Form ins Dasein brachte. Die gewaltige Grösse und Vielseitigkeit dieser kosmischen Symbolik dürfte auch dem oberflächlichsten Denker einleuchten. Der Anfänger auf dem Pfad der Jüngerschaft muss lernen, die vielen Formen in spezielle Gruppen zu sondern, die für gewisse Grundgedanken typisch sind. Er muss die Ideen deuten, die gewissen Symbolen zugrunde liegen, und auf die besonderen Impulse achten, die latent in jeder Form enthalten sind. Er kann das praktisch in der Umgebung und an dem Platz tun, wo er sich befindet. Er kann die Idee zu ergründen suchen, die sich in der Form seines Bruders verhüllt. Er kann hinter dem Körper eines jeden Menschen nach Gott suchen.

Dieser Lehrspruch führt daher den Aspiranten mitten in das praktische Leben; er stellt ihn vor die drei Grundfragen, und durch das Bemühen, sie richtig zu beantworten, verschafft sich der Aspirant zwangsläufig das Rüstzeug für den Pfad. Diese drei Gewissensfragen sind:

1. Auf welches Ziel richtet sich alles Verlangen und Streben meiner Seele, auf Gott oder auf materielle Dinge?

2. Bringe ich meine ganze niedere Natur unter die Herrschaft Ishvaras, des wahren geistigen Menschen?

3. Sehe ich in meinen täglichen Begegnungen Gott hinter jeder Form und jedem Ereignis?

2. Das Ziel [126] dieser drei Bestrebungen ist, die Vision der Seele zu erreichen und die Hindernisse zu beseitigen.

Es ist interessant, dass hier «die Vision der Seele» vor der Beseitigung der Hindernisse rangiert; das besagt, dass die Vision auch denen möglich ist, die sich noch nicht vervollkommnet haben. Die Vision kommt in jenen Augenblicken erregender Begeisterung und hohen geistigen Strebens, für welche die meisten Menschen empfänglich sind. Sie gibt den notwendigen Antrieb zu jener Entschlossenheit und Ausdauer, die für die Beseitigung der Hemmnisse erforderlich sind. Der Ausdruck «Beseitigung der Hemmnisse» oder das «Zunichtemachen der Hindernisse» (wie er manchmal übersetzt wird) ist ein weiter und allgemeiner Begriff. Hindu-Kommentatoren weisen darauf hin, dass er sogar die Ausrottung der Keime jener Hindernisse und ihre totale Vernichtung wie durch Feuer mit einschliesst. So wie ein verbrannter, verdorrter Keim nicht mehr fähig ist, sich fortzupflanzen und Früchte zu tragen, genauso werden die das geistige Wachstum hemmenden Keime unfruchtbar gemacht. Diese Keime kommen in drei Gruppen vor; eine jede von ihnen erzeugt eine grosse Menge von Hindernissen oder Hemmnissen auf den drei Ebenen der Entwicklung des Menschen. Es sind dies: Erstens die im physischen Körper latenten Keime, zweitens jene, welche die Hindernisse im Astralkörper hervorrufen, und schliesslich die Keime, die im Mentalkörper schlummern. In jeder Gruppe sind sie von dreierlei Art, so dass es genau neun Arten von Keimen sind.

1. Keime, die aus früheren Leben herübergebracht wurden.

2. Keime, die in diesem Leben gesät wurden.

3. Keime, die durch [127] die Familie oder Rasse, mit der man verbunden ist, in unseren Lebensbereich gebracht wurden.

Diese Keime sind es, die das Erschauen der Seele und das freie Strömen der geistigen Energie hemmen und behindern. Patanjali sagt, dass es fünf Arten von Hindernissen sind, und führt sie einzeln auf. Einige Erläuterer haben das Wort mit Ablenkung übersetzt. Alle drei Ausdrücke sind gleich richtig und jeder kann gebraucht werden. Es könnte vielleicht folgendes gesagt werden:

a. Das Wort «Hemmnis» ist technisch richtiger, wenn es auf die physische Ebene angewendet wird.

b. Das Wort «Hindernis» ist richtiger, wenn es auf jene Dinge angewendet wird, die durch das Medium des Astralkörpers die Vision der Seele verhindern.

c. Das Wort «Ablenkung» bezieht sich mehr auf die Schwierigkeiten, die auf den Menschen zukommen, der versucht, das Denken zur Ruhe zu bringen, um die Seelen-Vision zu erlangen.

3. Die leid-verursachenden Hindernisse sind Avidya (Unwissenheit), Ichgefühl, Begehren, Hass und Anhangen.

Das sind die fünf falschen Denkweisen oder Vorstellungen, die seit undenklichen Zeiten und viele Leben hindurch die Menschen an der Erkenntnis hindern, dass sie Söhne Gottes sind. Diese Vorstellungen bringen den Menschen dazu, dass er sich mit dem Niederen und Materiellen identifiziert und die göttliche Wirklichkeit [128] vergisst. Diese falschen Auffassungen sind es, die aus der göttlichen Monade einen verlorenen Sohn machen und ihn fortschicken, in das ferne Land, wo er sich von den Trebern irdischen Daseins ernährt. Diese irrigen Vorstellungen müssen überwunden und abgetan werden, ehe ein Mensch «seine Augen aufheben», wieder den Vater und des Vaters Haus mit seinen geistigen Augen schauen und bewusst den Heimweg antreten kann.

Zwei der Hindernisse, Unwissenheit und Ichgefühl, sind mit der Persönlichkeit, der Synthese auf der physischen Ebene verbunden; Begierde hat eine ursächliche Beziehung zum Astralkörper, zum Träger der Gefühle; Hass und Anhangen (oder Verhaftetsein) sind die Folgen von egoistischen Tendenzen (dem Ahamkara-Prinzip) und beleben den Mentalkörper. So ist die dreifache Persönlichkeit das Feld für die Saatkeime, die sich im Boden des persönlichen Lebens in den drei Welten vermehren, die gedeihen und wachsen und den wahren Menschen in seinem Wachstum behindern. Diese Keime müssen zerstört werden; ihre Vernichtung hat drei Ergebnisse:

a. Das Karma wird abgetragen.

b. Die Befreiung wird erreicht.

c. Die Schau der Seele wird vollkommen.

4. Avidya (Unwissenheit) ist die Ursache aller anderen Hindernisse, mögen sie nun latent sein, gerade beseitigt werden, überwunden oder in voller Wirksamkeit sein.

Zuerst erweckt der Umfang dieses Lehrspruchs unsere Aufmerksamkeit. Er führt uns in Gedanken zum Ursprung allen Übels, und in seinem Hinweis auf die Hindernisse umfasst er alle nur möglichen Stadien ihres Bestehens. Dieser Satz summiert die Verfassung [129] eines jeden Menschen, angefangen vom Zustand des Wilden, über alle Zwischenstadien bis zum Zustand der Arhatschaft, in dem die letzten Fesseln der Unwissenheit abgestreift werden. Er besagt, dass der Grund, warum das Böse existiert, warum Selbstsucht und persönliches Begehren jeder Art offensichtliche Tatsachen sind, letzten Endes Avidya oder Unwissenheit ist, die durch die Einengung in eine Form entsteht.

Bei der Erforschung der Gesetze der geistigen Entfaltung wird der Aspirant gleich am Anfang daran erinnert, dass zwei Faktoren berücksichtigt werden müssen, die auf der Tatsache der Manifestation beruhen:

1. Die Tatsache, dass die göttlichen Funken geistigen Lebens vom Nicht-Selbst angezogen und im Verlauf der Involution (Abstieg des Geistes in die Materie) absorbiert werden.

2. Die Tatsache, dass das Annehmen einer Form zwangsläufig mit Beschränkung verbunden ist.

Diese beiden Tatsachen müssen als wahr in bezug auf den Sonnenlogos, den planetarischen Logos, auf einen Menschen oder ein Atom anerkannt werden. Jede Form göttlichen Lebens (die unendlich kleine und die unendlich grosse) verhüllt oder verbirgt einen Bruchteil geistiger Energie. Der Funke geistigen Daseins ist infolgedessen zwangsläufig eingeschlossen, abgeschnitten und in sich selbst begrenzt, und nur die Kontakte des Daseins und das Ringen der geistigen Einheit in der Form können die schliessliche Freisetzung zustandebringen.

Unter den gegebenen Umständen und während der Inkarnation bleibt der verhüllte Lichtfunke in Unwissenheit dessen, was ausserhalb seiner selbst liegt; er muss sich schrittweise zu immer grösserer Freiheit durchkämpfen.

Sein Bewusstsein [130] geht zuerst nicht über den Bereich seiner Form hinaus, und er bleibt in Unwissenheit über alles, was ausserhalb dieses Bereichs liegt. Die durch Begehren zustandegekommenen Kontakte bewirken, dass aus Unwissenheit allmählich Wissen wird, und dass der Mensch (denn wir wollen in diesem Zusammenhang nur die menschliche Einheit betrachten, obwohl die Grundgesetze für alle Formen göttlichen Lebens gelten) allmählich seiner selbst und seiner Umgebung bewusst wird. Da diese Umgebung dreifältig ist - physisch, astral und mental - und da er drei Körperhüllen hat, mittels deren er mit den drei Welten in Verbindung treten kann, ist der Zeitraum, in dem dieses Erwachen vor sich geht, ungeheuer lang. Der alte Kommentar sagt hierzu:

«In der Vorhalle des Nicht-Wissens werden die dreifachen Hüllen erkannt. Das solare Leben hat seinen dichtesten Punkt erreicht, und so tritt der ganze Mensch in Erscheinung».

Dann wird sich der Mensch seiner Gruppe bewusst, zu der er gehört. Er entdeckt nämlich, dass seine eigene innere Wirklichkeit latent in seiner Persönlichkeit vorhanden ist. Er erkennt, dass er, das menschliche Atom, ein Teil einer Gruppe oder eines Zentrums im Körper eines himmlischen Menschen (eines planetarischen Logos) ist, und dass er:

a. die Schwingung,

b. die Absicht oder Zielsetzung, und

c. das Zentrum seiner Gruppe wahrnehmen und diese Fähigkeit entwickeln muss.

Das ist die Stufe des Probepfads oder des Pfads der Jüngerschaft bis zur dritten Einweihung. Im Alten Kommentar heisst es weiter:

«In der Halle der Belehrung wird das zentrale Mysterium erspürt. Der Weg der Befreiung wird gesehen, das Gesetz richtig befolgt, und der Mensch kann die Adeptschaft erreichen».

Schliesslich [131] betritt der Mensch die Halle der Weisheit, zu der er anfangs gelegentlich, nach der ersten Einweihung immer häufiger Zutritt erhielt. Er erfährt, welchen Platz seine Gruppe im planetarischen Plan einnimmt, und er bekommt auch eine Ahnung vom kosmischen Gesamtplan der Entwicklung. Unwissenheit (nach unseren Begriffen) ist natürlich beseitigt, aber es kann nicht oft genug betont werden, dass auch dem Adepten noch vieles unbekannt bleibt; ja, dass selbst Christus, der grosse Weltlehrer, nicht den ganzen Bewusstseinsinhalt des Königs der Welt kennt. Die Yogalehrsprüche von Patanjali befassen sich jedoch nur mit dem Überwinden jener Unwissenheit, die den Menschen an das Rad der Wiedergeburt gebunden hält und ihn daran hindert, die wahren Kräfte der Seele zu entfalten. Zu dieser letzten Stufe sagt der alte Kommentar:

«In der Halle der Weisheit scheint das Licht voll auf den Weg des Adepten. Er kennt und versteht den siebten Teil und erschaut visionär alles Übrige. Er ist selbst ein Siebenfältiger, und aus dieser Halle geht Gott hervor».

5. Avidya ist der Zustand, in dem das Dauernde, das Reine, das Glückselige, das Selbst verwechselt wird mit dem Vergänglichen, dem Unreinen, dem Leidvollen, dem Nicht-Selbst.

Dieser Zustand der «Unwissenheit» (der Avidya) ist kennzeichnend für alle jene Menschen, die noch nicht unterscheiden können zwischen dem Wirklichen und dem Unwirklichen, zwischen Tod und Unsterblichkeit, zwischen Licht und Finsternis. Er beherrscht daher das Leben in den drei Welten, denn die Unwissenheit des [132] inkarnierten Menschen auf der physischen Ebene hat ihre Parallele auf allen Ebenen. Sie ist eine Begrenzung des Geistes selbst und eine notwendige Folge des Annehmens einer Form. Die geistige Einheit wird blind und empfindungslos geboren. Am Beginn der Zeiten und Zyklen der Wiedergeburt kommt sie in einem Zustand völliger Unbewusstheit in eine Form. Sie muss sich erst dessen bewusst werden, was sich um sie herum befindet; daher muss sie zuerst die Sinne entwickeln, wodurch ein Kontakt und Gewahrwerden möglich wird. Die Methode und der Prozess, wie der Mensch die fünf Sinne (oder Zugangswege zum Nicht-Selbst) entwickelt hat, sind wohlbekannt; jedes Standardlehrbuch über Physiologie kann die gewünschten Informationen geben. In bezug auf die geistige Einheit müssen drei Faktoren beachtet werden:

1. Die fünf Sinne müssen entwickelt werden;

2. sie müssen sodann als solche erkannt und benützt werden.

3. Dann folgt eine Zeit, in welcher der geistige Mensch die Sinne für die Erfüllung seines Begehrens nutzbar macht und sich dabei mit seinem Manifestations-Apparat identifiziert.

Er ist doppelt blind, denn er wird nicht nur blind und gefühllos geboren, sondern er ist auch gedanklich blind; er sieht sich und die Dinge nicht so, wie sie wirklich sind, sondern er macht den Fehler, sich als die materielle Form anzusehen, und das tut er viele Zyklen hindurch. Er hat kein Gefühl für Werte oder Wertmassstäbe, sondern betrachtet den vergänglichen, leidenden, unreinen, materiellen, niederen Menschen (seine drei Körperhüllen in ihrer Gesamtheit) als sich selbst, die Wirklichkeit. Er kann sich von seinen Formen nicht loslösen. Die Sinne gehören zu seinen Formen; sie sind nicht der [133] geistige Mensch, der in der Form wohnt. Sie sind ein Teil des Nicht-Selbstes und das Medium, durch das er mit dem planetarischen Nicht-Selbst in Berührung kommt.

Durch Unterscheidung und Leidenschaftslosigkeit kann sich das Selbst, das unvergänglich, rein und glückselig ist, schliesslich loslösen vom Nicht-Selbst, das vergänglich, unrein und voller Schmerzen ist. Solange das nicht verstanden wird, ist der Mensch in einem Zustand der Unwissenheit. Wenn der Prozess der Loslösung im Gange ist, geht der Mensch den Weg des Vidya oder Wissens, einen vierfachen Weg. Wenn die Seele so erkannt wird, wie sie ist, und wenn das Nicht-Selbst an den ihm zukommenden Platz verwiesen wird als eine Hülle, ein Träger oder Werkzeug, dann wird auch das Wissen selbst überschritten, und der Wissende allein bleibt. Das ist die Befreiung und das Ziel.

6. Das Ichgefühl entsteht dadurch, dass sich der Wahrnehmende mit den Werkzeugen der Wahrnehmung identifiziert.

Dieser Lehrsatz ist ein Kommentar zum vorhergehenden. Der Schüler sollte beachten, dass der Erkennende (der geistige Mensch) verschiedene Werkzeuge besitzt, um mit seiner Umgebung in Berührung zu kommen und auf diese Weise in zunehmendem Mass folgendes kennenzulernen:

1. Seine drei Hüllen oder Körper, die den Kontakt auf drei Ebenen vermitteln; es sind dies:

a. Der physische Körper.

b. Der Emotional- oder Astralkörper.

c. Der Mentalkörper.

2. Auf der physischen Ebene hat er die fünf Sinne: Gehör, Tastsinn, Sehvermögen, Geschmackssinn und Geruchssinn.

3. Das Denkvermögen, der [134] grosse sechste Sinn, von dem man auf dreierlei Art Gebrauch machen kann. Bis jetzt wird aber von den meisten Menschen nur eine Möglichkeit genutzt.

Vor allem und am häufigsten wird das Denkvermögen dazu benützt, um die wahrgenommenen Kontakte zusammenzufassen und als Information an das Ego oder den Erkennenden weiterzuleiten; in ähnlicher Weise leitet das Nervensystem die äusseren Wahrnehmungen an das Gehirn weiter. Gerade diese Anwendung des Denkvermögens bewirkt hauptsächlich das Ichgefühl, das in dem Mass zu schwinden beginnt, in dem die anderen Anwendungsarten möglich werden.

Die zweite Anwendungsweise des Denkvermögens, die durch die ersten fünf Mittel des Yoga zustandegebracht wird, ist die Fähigkeit, dem physischen Gehirn die Gedanken, die Wünsche und den Willen der Seele zu übermitteln. Das bringt dem persönlichen Selbst ein Erkennen der Wirklichkeit, so dass das Gefühl, mit dem Nicht-Selbst identisch zu sein, immer schwächer wird.

Die dritte Anwendungsweise des Denkvermögens ist die, dass es von der Seele als ein Organ des Schauens benutzt wird, wodurch der Mensch mit dem Reich der Seele in Verbindung kommen und es erkennen kann. Die letzten drei Mittel des Yoga bringen das zustande.

Es muss betont werden, dass dies eine höchst wichtige Tatsache ist. Wenn der Aspirant die Entwicklung und den vollen Gebrauch der Denkfähigkeit (des sechsten Sinnes) als sein unmittelbares Ziel betrachtet und die drei Zwecke bedenkt, für die sie bestimmt ist, wird er sehr rasche Fortschritte machen. Das Ichgefühl wird schwinden, und das Gefühl, mit der Seele wesenseins zu werden, wird folgen. Das Ichgefühl ist eine der stärksten Fesseln, die den Menschen gebunden halten. Hier muss die Axt an die Wurzel des Baumes gelegt werden.

7. Begehren ist [135] Anhangen an Objekten, die Wohlgefühle schaffen.

Das ist zwar keine wörtliche Übersetzung, aber sie gibt den Grundgedanken so klar wieder, dass es am besten ist, den Lehrspruch so zu übersetzen.

Diese Objekte umfassen sämtliche Gelüste, die der Mensch entwickelt hat, angefangen vom Zustand des Wilden in der frühesten Epoche der Menschheit bis zu den fortgeschrittenen Graden der Jüngerschaft; sie umfassen sowohl das Verlangen nach gewöhnlichen Dingen auf der physischen Ebene als auch das Anhangen an jenen Dingen, Beschäftigungen und Reaktionen, die aus Empfindungen oder intellektuellen Bestrebungen resultieren; sie erstrecken sich über die ganze Skala sinnlichen Erlebens, angefangen vom Verlangen des Wilden nach Wärme und gutem Essen bis zur Ekstase des Mystikers.

Begehren ist ein Sammelbegriff, der das Hinstreben des Geistes zur Formenwelt bezeichnet. Er kann bedeuten die Lust des Kannibalen an dem, was er isst; die Liebe eines Menschen zu seiner Familie; die Freude des Künstlers an einem schönen Gemälde; die tiefe Verehrung des Frommen für Christus oder seinen Meister. All das ist Anhangen mit Gradunterschieden. Der Fortschritt der Seele liegt darin, dass sich der Mensch von einem Sinnesobjekt nach dem anderen loslöst, bis die Zeit kommt, da er auf sich allein gestellt ist. Er hat alle Dinge, an denen er hing, ausgeschöpft, und sogar sein Meister scheint ihn verlassen zu haben. Nur eine Wirklichkeit ist geblieben - jene innere Wirklichkeit, die er selbst ist; und nun richtet sich sein Verlangen nach innen. Es richtet sich nicht mehr auf äussere Dinge, sondern er findet das Reich Gottes im Innern. Alles Begehren fällt dann von ihm ab. Er bleibt auch weiterhin in Verbindung [136] mit seiner Umgebung und wirkt in den Bereichen der Illusion, aber er wirkt von dem Zentrum aus, wo sein göttliches Selbst wohnt, der Inbegriff allen Verlangens; und es gibt nichts mehr, was ihn auf Nebenwege locken könnte, die zu Lust oder Schmerz führen.

8. Hass ist heftiger Widerwille gegen irgendein Objekt sinnlicher Wahrnehmung.

Dieser Lehrspruch ist die Umkehrung des vorhergehenden. Der wahre Yogi fühlt weder Abscheu noch Begehren. Er ist ausgeglichen zwischen den Gegensatzpaaren. Hass erzeugt Absonderung, während Liebe die Einheit offenbart, die allen Formen zugrundeliegt. Hass ist die Folge davon, dass man sich ganz auf die Erscheinungsform konzentriert und das ausseracht lässt, was eine jede Form (in grösserem oder geringerem Mass) offenbart. Hass ist das Gefühl feindseliger Ablehnung und führt dazu, dass sich der Mensch von dem gehassten Objekt zurückzieht. Hass ist das Gegenteil von brüderlicher Gesinnung und daher ein Verstoss gegen eines der Grundgesetze des Sonnensystems. Hass wirkt der Einheit entgegen, errichtet Schranken und erzeugt jene Ursachen, die zu Erstarrung, Zerstörung und Tod führen. Hass ist Energie, die dazu benützt wird, um zurückzuweisen anstatt zu vereinen; daher wirkt er dem Gesetz der Entwicklung entgegen.

Hass ist in Wirklichkeit die Folge des Ichgefühls, der Unwissenheit und falsch angewandten Verlangens. Er ist fast die Kulmination der anderen drei. Es waren das Ichgefühl und die ausserordentliche Unwissenheit, verbunden mit dem Verlangen nach persönlichem Gewinn, die im Herzen Kains den Hass gegen Abel erweckten und den ersten Mord oder die Zerstörung der Form eines Bruders verursachten. Das sollte sorgfältig bedacht werden, denn in [137] jedem Menschenherzen sind Hass und Widerwille bis zu einem gewissen Grad vorhanden. Nur dann, wenn er völlig überwunden ist durch Liebe oder das Gefühl harmonischer Einheit, werden Tod, Gefahr und Furcht aus dem Gesichtskreis der menschlichen Familie verschwinden.

9. Intensives Verlangen nach empfindendem Dasein ist Anhangen. Es wohnt in jeder Form, erneuert sich ständig von selbst und ist sogar dem Weisen hohen Grades bekannt.

Diese Art des Verhaftetseins ist die Grundursache aller Manifestation (Erscheinungsformen). Sie wurzelt in der naturgegebenen Verkettung zwischen den beiden grossen Gegensätzen Geist und Materie; sie ist der beherrschende Faktor in der Formenwelt des Logos, und das ist der Grund, weshalb sogar «der sehr Weise» dieser Instinktregung unterworfen ist. Diese Art des Verlangens ist eine automatisch sich ständig selbst-erneuernde und selbst-erhaltende Kraft. Man darf nicht vergessen, dass die Überwindung dieser Tendenz, selbst dann, wenn sie durch einen Adepten zu ihrer höchsten Stufe gebracht worden ist, immer nur eine relative Überwindung ist. Solange wie der Logos unseres Sonnensystems (oder der absolute Geist) sich durch ein Sonnensystem manifestiert, wird diese Tendenz im höchsten planetarischen Geist und in der erhabensten geistigen Wesenheit fortbestehen. Um das Anhangen zu überwinden und das Verlangen abzutöten, kann man nichts anderes tun, als die Kraft zu entfalten, welche die Gegensatzpaare auf irgendeiner Ebene im Gleichgewicht hält, so dass man nicht mehr von den Formen dieser Ebene gefesselt wird und sich zurückziehen kann. Gewöhnlich werden den Worten «Anhangen», «Verlangen» und «Abtöten» völlig nebensächliche Ausdeutungen gegeben, die dem kleinen Fortschritt des Aspiranten entsprechen.

Es sind Worte, die [138] ganz unzulänglich und nur symbolisch eine okkulte Funktion auszudrücken versuchen. Sie können nur dann wirklich verstanden werden, wenn man das Gesetz der Anziehung und Abstossung beachtet und das System der okkulten Schwingungen versteht.

Der Wille, zu leben oder in Erscheinung zu treten, gehört zum göttlichen Lebensimpuls und ist darum richtig. Der Wille aber, auf einer besonderen Ebene zu sein oder sich durch irgendwelche spezifischen Gruppen oder Formen zu manifestieren, ist nicht richtig, wenn man diesem Bereich der Manifestation entwachsen ist. Wenn irgendwelche besonderen Formen ihren Zweck, als Medium für Erfahrungs-Kontakte zu dienen erfüllt haben, und wenn mit diesen Formen keine weiteren Lektionen mehr gelernt werden können, beginnt das Böse; denn eine Neigung zum Bösen ist nichts anderes als die Neigung, zum Gebrauch von Formen und zu Gewohnheiten zurückzukehren, denen der innere Mensch entwachsen ist. Aus diesem Grunde werden die groben körperlichen Sünden allgemein als Böses angesehen, da allgemein bekannt ist, dass der Bewohner der menschlichen Form dem dritten oder Tierreich entwachsen ist.

Ein Adept hat daher das Anhaften an Formen auf den drei Ebenen (physisch, astral und mental) überwunden und alles Verlangen nach den Formen dieser Ebenen abgetötet. Wenn das Leben oder der Geist sich zurückzieht, stirbt (okkult gesehen) die Form. Wenn sich das Denken des Ego oder höheren Selbstes mit seiner eigenen Ebene beschäftigt, fliesst keine Energie mehr in die Materie der drei Welten, so dass sich dort eine Form nicht mehr bilden und ein Verlangen danach nicht mehr einstellen kann. Das stimmt mit der okkulten Binsenwahrheit überein, dass «dem Denken Energie folgt»; und es stimmt auch mit der Lehre überein, dass der Körper des Christus-Prinzips (der buddhische Träger) sich erst dann zu koordinieren [139] beginnt, wenn die niederen Impulse schwinden.

Das steht auch im Einklang mit der Tatsache, dass der Kausalkörper, der Körper des höheren Selbstes in den abstrakten Bereichen der Mentalebene, während der Stadien der Jüngerschaft rascher an Schönheit, Umfang und Wirksamkeit zunimmt als vorher im gesamten Zyklus der früheren Inkarnationen. Egoische Energie ist eigentlich nicht ausströmend, sondern mehr auf die eigene Entwicklung gerichtet. Das Anhaften an Formen oder die Anziehungskraft der Form auf den Geist ist der Antrieb der Involution. Die Zurückweisung der Form und deren daraus sich ergebende Auflösung ist der grosse Drang der Evolution.

10. Wenn diese fünf Hindernisse zutiefst erkannt sind, können sie durch eine entgegenwirkende mentale Einstellung überwunden werden.

Die Worte «zutiefst erkannt» könnten auch heissen: «vom inneren Menschen erkannt». Der Gedanke, der mit diesen Worten ausgedrückt werden soll, ist in dem folgenden Kommentar von Dvidedi gut erklärt worden:

«Nachdem der Verfasser die Art der «Ablenkungen» beschrieben hat, weist er den Weg, wie sie überwunden werden können. Sie sind von zweifacher Art: fein und grob. Die ersten sind diejenigen, die in Form von Eindrücken im Unterbewusstsein schlummern; zur zweiten Art gehören diejenigen, die direkt auf das Denken einwirken. Die ersteren können nur dadurch vollständig überwunden werden, dass man die Herrschaft über ihren ganzen Träger, nämlich über das Denkprinzip erlangt».

Das ist die [140] erste Aufgabe des Yoga-Aspiranten. Er muss das Wesen der Hindernisse erkennen und dann mit der Beseitigung beginnen; das muss von der mentalen Ebene aus geschehen. Zuerst muss er die Kontrolle über den Denkapparat erlangen; dann muss er lernen, wie dieser Apparat gehandhabt werden muss; und wenn das erreicht ist, muss er damit beginnen, die Hindernisse durch Gegenströmungen unwirksam zu machen. Die Hindernisse sind die Folgen falscher Denkgewohnheiten und der missbräuchlichen Anwendung des Denkprinzips. Wenn man einmal diese falschen Denkgewohnheiten als die Keime erkannt hat, welche die hindernisschaffenden Formen hervorbringen, dann können sie im latenten Zustand durch richtige Denkgewohnheiten ausgerottet werden; und diese stellen sich ein, wenn man die freiheit-schaffenden Mittel benützt.

Unwissenheit (Avidya) muss durch wahres Wissen oder Vidya ersetzt werden. Bekanntlich bilden in dieser vierten Rasse, auf diesem vierten Planeten und in der vierten Runde die vier Vidyas, die vier edlen Wahrheiten und die vier Grundelemente die Gesamtsumme dieses Wissens.

Die vier Vidyas der Hindu-Philosophie sind folgende:

1. Yajna-Vidya. - Die Ausübung religiöser Riten, um bestimmte Ergebnisse oder Wirkungen hervorzurufen. Zeremonielle Magie; sie wirkt mit dem Ton (Laut), hat aber mit Akasha, dem Äther des Raumes zu tun. «Yajna» ist die unsichtbare Gottheit, die den Raum durchdringt.

2. Mahavidya. - Das grosse magische Wissen. Es ist entartet zur Tantrika-Verehrung. Bezieht sich auf den weiblichen Aspekt, den Aspekt der Materie (Mutter). Ist die Grundlage der schwarzen Magie.

Wahrer Maha-Yoga befasst [141] sich mit der Form (zweiter Aspekt) und ihrer Anpassung an den Geist und an seine Erfordernisse.

3. Guhya Vidya. - Die Wissenschaft der Mantrams. Das geheime Wissen der mystischen Mantrams. Die okkulte Macht des Tones, des Wortes.

4. Atma Vidya. - Wahres geistiges Wissen.

Die vier edlen Wahrheiten sind uns in der folgenden Rede Buddhas gesagt werden:

«Der Erhabene sprach:

«Weil wir die vier edlen Wahrheiten nicht verstanden haben und nicht in sie eingedrungen sind, meine Brüder, sind wir in die Irre gegangen auf dieser langen, langen Wanderung (oder im Kreislauf der Wiedergeburt). Welches sind diese vier Wahrheiten?

Die edle Wahrheit vom Leiden. die edle Wahrheit von der Entstehung des Leidens, die edle Wahrheit von der Aufhebung des Leidens; die edle Wahrheit vom Weg, der zur Aufhebung des Leidens führt».

Aber, meine Brüder, wenn die vier edlen Wahrheiten erkannt und durchschaut sind, dann ist das Verlangen nach Dasein entwurzelt, der Faden zur Wiedergeburt abgeschnitten und es kommt zu keinem weiteren Dasein mehr».

So sprach der Erhabene; als der Glückliche so gesprochen hatte, fügte er hinzu:

Blind waren wir für die edle vierfache Wahrheit,

Und sahen nicht die Dinge, wie sie wirklich sind.

Lange wanderten wir durch viele Geburten.

Wenn diese Wahrheiten erkannt werden, ist der Faden des Lebens zu Ende.

Es gibt kein neues Werden mehr, wenn die Wurzel des Leidens ausgerottet ist».

Die vier Elemente sind uns in dem folgenden Auszug aus der Geheimlehre angegeben worden. (I. 95):

«Das goldene Ei war umgeben von sieben natürlichen Elementen: Vier davon waren gleich zur Hand (Äther, Feuer, Luft, Wasser), die anderen waren verborgen».

11. Ihre Wirksamkeit muss [142] durch stetige Meditation beseitigt werden.

Die «entgegenwirkende mentale Einstellung», auf die im vorigen Lehrsatz hingewiesen wurde, bezieht sich ganz klar auf die Keime oder die latenten Neigungen, die im Mental- und Emotionalkörper bestehen. Diese gedankliche Einstellung muss zur aktiven mentalen Meditation und zum zielgerichteten Denken werden, wenn die Tätigkeiten des physischen Körpers einer gleichen Beherrschung unterworfen werden sollen. Vieles von dem, was wir tun, geschieht automatisch und ist die Folge von lange beibehaltenen Gewohnheiten des Fühlens und Denkens. Infolge lebenslanger Gewohnheit und der Abhängigkeit von einer Welt greifbarer Formen werden unsere Handlungen auf der physischen Ebene instinktiv durch die fünf Hindernisse gelenkt und bestimmt. Diese Wirksamkeit muss unterdrückt werden. Die Beseitigung der latenten Keime und die Unterdrückung der äusseren Tätigkeiten müssen gleichzeitig vor sich gehen. Die beständige Gegenwirkung der mentalen Einstellung bewirkt das eine; Meditation, bei der die drei Faktoren des Denkers, der Denkfähigkeit und des physischen Gehirns eingesetzt werden, wird das andere bewirken. Das darf nicht vergessen werden, sonst kann die Theorie nicht zur vernünftigen Praxis werden. Der Meditations-Prozess wird im dritten Buch behandelt und braucht deshalb hier nicht weiter ausgeführt zu werden.

12. Selbst das Karma hat seine Wurzeln in diesen fünf Hindernissen, und es muss in diesem oder in einem späteren Leben zur Auswirkung kommen.

Solange sich [143] ein Mensch von diesen fünf Hindernissen leiten und bestimmen lässt, genauso lange werden sie zwangsläufig alle die Wirkungen hervorrufen, die ihn an das Rad der Wiedergeburt gebunden halten und dazu verdammen, eine Form anzunehmen. Der Leser sollte sorgfältig beachten, dass diese fünf Hindernisse die Ursache aller Handlungen der niederen Persönlichkeit oder des niederen Menschen sind. Alles Tun und Wirken hat seinen Ursprung in einem dieser Hindernisse, und es gibt keine Tätigkeit des Durchschnittsmenschen in den drei Welten, die nicht die Folge von Unwissenheit und den sie begleitenden irrigen Identifizierungen und Reaktionen wäre.

Wenn einmal die Hindernisse überwunden sind und Unwissenheit (der Grund von allem) durch höheres Wissen ersetzt ist, dann gibt es immer weniger Wirkungen, die auf der physischen Ebene abzutragen sind; und die Ketten, die den Menschen an das grosse Rad der physischen Manifestation gefesselt halten, werden eine nach der anderen zerbrochen. Diese Ketten sind dreifach, so wie auch das Feld der Unwissenheit ein dreifaches ist; es sind die drei grossen Bewusstseinsebenen, das Feld der menschlichen Entwicklung. Wenn das Feld der Unwissenheit zum Feld bewussten Erlebens wird, und wenn die Ketten als Fesseln und Begrenzungen empfunden werden, dann ist der angehende Jünger im Befreiungsprozess einen grossen Schritt vorwärts gekommen. Wenn er den Kampf nach innen verlegen kann in das, was Ganganatha Iha das «unmanifestierte Leben» nennt, und was wir häufig «die inneren Ebenen» nennen, dann tritt er ein in die Halle der Belehrung und zerreisst die Ketten, an die ihn Kama (oder Begierde) und die falsche Anwendung der Denkfähigkeit so fest geschmiedet haben. Später wird er dann in die Halle des Wissens eintreten und gewisse esoterische und okkulte Methoden erlernen, welche die Befreiungsprozesse beschleunigen.

13. Solange die [144] Wurzeln oder Samkaras bestehen, bewirken sie Geburt und ein Dasein mit Lust- oder Leiderfahrung.