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1. Buch - Das Problem der Vereinigung - Teil 1

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1. Buch - Das Problem der Vereinigung.

a. Definition der höheren und niederen Natur.

b. Betrachtung der Hindernisse und deren Beseitigung.

c. Eine Zusammenfassung des Raja-Yoga-Systems.

Hauptthema: Die unbeständige psychische Natur.

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DIE YOGA LEHRSPRÜCHE VON PATANJALI

1. Buch

Das Problem der Vereinigung.

1. AUM. Die folgende Unterweisung handelt von der Wissenschaft der Vereinigung.

2. Diese Vereinigung (Yoga) wird durch Unterjochung der psychischen Natur und durch die Zügelung des Chitta (Denkvermögens) erreicht.

3. Wenn das erreicht ist, erkennt sich der Yogi so, wie er in Wirklichkeit ist.

4. Bisher hat sich der innere Mensch mit seinen Formen und mit den fortwährenden Modifikationen (Veränderungen) dieser Formen identifiziert.

5. Es gibt fünf Zustände des Denkens, die Lust- oder Schmerzempfindungen unterworfen sind; sie sind (also) schmerzlich oder nicht schmerzlich.

6. Diese Modifikationen sind: Rechtes Wissen, falsches Wissen, Einbildung, Passivität (Schlaf) und Erinnerung.

7. Die Grundlage rechten Wissens (oder Erkennens) sind richtige Wahrnehmung, richtige Schlussfolgerung und klarer Beweis.

8. Unrichtiges Erkennen beruht darauf, dass nur die Form, nicht der Zustand des wirklichen Seins wahrgenommen wird.

9. Einbildungen beruhen auf Phantasiegebilden, die kein wirkliches Dasein haben.

10. Passivität (Schlaf) beruht darauf, dass der Strom der Vrittis (Gedankenimpulse) zum Stillstand gekommen ist, (d.h. darauf, dass die Sinne nicht wahrnehmen).

11. Gedächtnis ist das Festhalten dessen, was man erlebt hat und weiss.

12. Die Kontrolle über diese Modifikationen des inneren Organs, des Denkvermögens, wird durch unermüdliches Bemühen und Nicht-Anhangen erreicht.

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13. Unermüdliches Bemühen ist die beständige Anstrengung, die ruhelosen Gedankenimpulse im Zaum zu halten.

14. Wenn das zu erreichende Ziel richtig gewertet, und das Bemühen, es zu erreichen, beharrlich und ohne Unterlass fortgesetzt wird, dann ist die Stetigkeit der Denktätigkeit (die Zügelung der Vrittis) gesichert.

15. Nicht-Anhangen ist Freisein vom Verlangen nach allen Wunsch-Objekten, ganz gleich, ob es sich um irdische Dinge oder um ein Festhalten an Überlieferungen, ob es sich um Dinge des Diesseits oder des Jenseits handelt.

16. Das erreichte Nicht-Anhangen führt zu einer genauen Kenntnis des geistigen Menschen, der sich von den Eigenschaften der Materie, den Gunas, freigemacht hat.

17. Eine sichere Kenntnis von einem Objekt wird durch Konzentration auf dessen vierfältige Natur erlangt. Die Form wird durch genaue Prüfung erkannt; die Qualität (Guna) durch scharfe Beobachtung und Einfühlung; der Zweck durch Inspiration (beglückende Erfahrung), und die Seele durch das Einswerden mit ihr.

18. Ein weiterer Zustand, das Samadhi, wird erreicht, wenn durch äusserst konzentriertes Denken die Sinne von der Aussenwelt abgelenkt und ruhig werden. In diesem Zustand ist das Chitta, die Denksubstanz, nur für innere Eindrücke empfänglich.

19. Der eben beschriebene Zustand (Samadhi) geht nicht über die Grenzen der Erscheinungswelt hinaus; er geht auch nicht über den Bereich der Götter und jener Wesen hinaus, die sich mit Dingen der körperlichen Welt befassen.

20. Andere Yogis erreichen den Zustand des Samadhi und erkennen den reinen Geist durch den Glauben; diesem folgen Energie, Erinnern, Meditation und rechte Wahrnehmung.

21. Wer einen starken Willen hat, erreicht diesen Zustand (geistiges Bewusstsein) sehr schnell.

22. Aber auch bei denen, die den Willen einsetzen, gibt es Unterschiede, denn der Einsatz des Willens kann intensiv, gemässigt oder sanft sein. Um wahres Geist-Bewusstsein zu erlangen gibt es noch einen anderen Weg.

23. Durch intensive Hingabe an Ishvara erlangt man Wissen über ihn.

24. Dieser Ishvara ist die von Begrenzungen nicht behinderte, von Karma und Verlangen freie Seele.

25. In Ishvara, dem Gurudeva, hat sich der Keim alles Wissens zur Allwissenheit entfaltet.

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26. Ishvara, der von zeitbedingten Zuständen unabhängige Gurudeva, ist der Lehrer der Urherren.

27. Das Wort Ishvaras ist AUM (oder OM). Es ist das Pranava.

28. Wer das Wort ertönen lässt und über dessen Bedeutung nachdenkt, findet den Weg.

29. Dadurch lernt man das Selbst (die Seele) erkennen und es werden alle Hindernisse beseitigt.

30. Die Hindernisse für das Erkennen der Seele sind: körperliches Unvermögen, mentale Trägheit, falsches Fragestellen, Zerstreutheit, Schlaffheit, Mangel an Gelassenheit, irrige Wahrnehmung, Unfähigkeit zur Konzentration, und das Unvermögen, die erreichte meditative Haltung beizubehalten.

31. Schmerz, Verzweiflung, falsch angebrachte körperliche Aktivität und unrichtige Lenkung (oder Steuerung) der Lebensströme sind die Folgen der Hindernisse in der niederen psychischen Natur.

32. Um die Hindernisse und ihre Begleiterscheinungen zu überwinden, muss man den Willen intensiv auf eine Grundwahrheit (oder Prinzip) richten.

33. Die Ruhe des Chitta (der Denksubstanz) kann durch stetes Mitgefühl, Herzensgüte, Zielstrebigkeit und dadurch erlangt werden, dass man in Freud und Leid und gegenüber jeder Art von Gut und Böse gleichmütig-gelassen bleibt.

34. Die Ruhe des Chitta kann auch durch Regulierung des Prana oder Lebensodems erreicht werden.

35. Beständigkeit des Denkens kann durch jene Konzentrationsarten erreicht werden, die mit den Sinneswahrnehmungen zu tun haben.

36. Durch Meditieren über Licht und Strahlung kann man ein Wissen über den Geist gewinnen und so Frieden erlangen.

37. Das Chitta wird beständig und frei von Illusionen, wenn die niedere Natur geläutert und ihr nicht mehr nachgegeben wird.

38. Ruhe (Beständigkeit des Chitta) lässt sich durch Meditation über das Wissen erreichen, das uns durch Träume vermittelt wird.

39. Ruhe kann auch dadurch erlangt werden, dass man sich auf das konzentriert, was dem Herzen am teuersten ist.

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40. So erstreckt sich sein Erkenntnisbereich vom unendlich Kleinen bis zum unendlich Grossen, und so vervollkommnet er sein Wissen, angefangen von Annu (dem Atom oder kleinsten Teilchen) bis zum Atma (Geist).

41. Wer die Vrittis (mentalen Modifikationen) völlig beherrscht, erlangt einen Zustand der Wesenseinheit oder Gleichheit mit dem, was erkannt wird. Der Erkennende, das Erkannte und das Feld des Erkennens werden eins, so wie ein Kristall die Farben dessen annimmt, was sich in ihm widerspiegelt.

42. Wenn der Wahrnehmende das Wort, die Idee (oder zugrundeliegende Bedeutung) und das Objekt miteinander in Verbindung bringt, so nennt man diesen mentalen Vorgang verständiges Beurteilen und Folgern.

43. Wahrnehmung ohne vernunftgemässes Urteilen wird erreicht, wenn der Einfluss des Gedächtnisses ausgeschaltet ist, und wenn jenseits von Wort und Objekt nur noch die Idee vorhanden ist.

44. Die beiden Arten der Konzentration (mit und ohne verständiges Beurteilen) können auch auf feinstoffliche Dinge angewendet werden.

45. Das Grobstoffliche führt zum Feinstofflichen, und dieses führt stufenweise fortschreitend zum Zustand reinen geistigen Seins, der Pradhana genannt wird.

46. Das alles gehört zur Meditation mit einem Saatgedanken.

47. Wenn dieser überkontemplative Zustand erreicht ist, erlangt der Yogi durch die ausgeglichene Ruhe des Chitta (der Denksubstanz) reine geistige Erkenntnis.

48. Seine Wahrnehmung ist nun unfehlbar genau. (oder: sein Denken enthüllt nur die Wahrheit).

49. Diese besondere Wahrnehmung ist einzigartig; sie offenbart das, was das rationelle Denken (das auf Beweis, Ableitung und Folgerung beruht) nicht ergründen kann.

50. Sie ist allen anderen Eindrücken feind und verdrängt sie.

51. Wenn auch dieser Zustand des Wahrnehmens überwunden oder verdrängt ist, dann ist das reine Samadhi erreicht.

DIE YOGA LEHRSPRÜCHE VON PATANJALI

Buch I

1. AUM. (OM) Die folgende [7] Unterweisung behandelt die Wissenschaft von der Vereinigung.

AUM ist das Wort der Herrlichkeit. Es bedeutet das fleischgewordene Wort und die sichtbare Schöpfung des zweiten göttlichen Aspekts auf der Ebene der Materie. Dieses strahlende Erscheinen der Söhne der Rechtschaffenheit in der Welt wird dadurch erreicht, dass die in diesem Buch enthaltenen Regeln befolgt werden. Wenn alle Menschenkinder bewiesen haben, dass sie auch Gottes Kinder sind, wird auch der kosmische Gottessohn in noch grösserer Herrlichkeit erstrahlen. Der grosse Eingeweihte Paulus hat das visionär erschaut, als er sagte: «Alle Kreatur sehnt sich mit uns und ängstet sich noch immerdar ... wartend auf die Offenbarung der Kinder Gottes». (Römer VIII))

Raja Yoga, die Wissenschaft der Vereinigung, gibt die Regeln und Wege an, wie

1. ein bewusster Kontakt mit der Seele, dem zweiten Aspekt, dem Christus in uns, hergestellt werden kann,

2. Wissen über das Selbst erlangt und dessen Herrschaft über das Nicht-Selbst aufrechterhalten werden kann;

3. die Kraft des [8] Egos (der Seele) im täglichen Leben verspürt werden kann und wie die Seelenkräfte offenbar werden können;

4. die niedere psychische Natur unterworfen werden kann und die höheren psychischen Fähigkeiten sichtbar bekundet werden können;

5. das Gehirn mit der Seele in Verbindung kommt und Botschaften von ihr empfangen werden können;

6. das «Licht im Kopf» verstärkt werden kann, so dass der Mensch zu einer lebendigen Flamme wird;

7. der Weg gefunden und der Mensch selbst zum Weg werden kann.

Die nachstehend angeführten Dreiheiten können für den Schüler von Wert sein, besonders wenn er daran denkt, dass die mittlere Spalte die Ausdrücke enthält, die auf die Seele, den zweiten Aspekt, anwendbar sind. Die zu erstrebende Vereinigung ist die des dritten und zweiten Aspekts. Dieses Ziel wird bei der dritten Einweihung (in christlicher Terminologie: durch die Verklärung) erreicht. Später kommt dann eine Synthese zwischen dem vereinigten dritten und zweiten Aspekt, und dem ersten Aspekt zustande.

1. Aspekt                                                     2. Aspekt                                     3. Aspekt

Geist                                                             Seele                                            Körper

Vater                                                             Sohn (Christus)                          Heiliger Geist

Monade                                                        Ego                                               Persönlichkeit

Göttliches Selbst                                         Höheres Selbst                           Niederes Selbst

Leben                                                            Bewusstsein                               Form

Energie                                                          Kraft                                            Materie

Der Herr                                                       Der Engel des Herrn                 der Mensch

Es ist da ein klarer Unterschied zu machen zwischen dem eben angedeuteten Christus-Prinzip (einem hohen geistigen Aspekt, den jeder Mensch erreichen muss) und dem gleichen Ausdruck, der auf eine Persönlichkeit hohen Ranges angewandt wird, die dieses Prinzip repräsentiert, sei es in historischer Beziehung auf den Meister von Nazareth oder in anderer Weise.

2. Diese Vereinigung (Yoga) wird durch Unterjochung der psychischen Natur und durch die Zügelung des Chitta (Denkvermögens) erreicht.

Der nach Vereinigung [9] strebende Mensch hat zweierlei zu tun:

1. Er muss über die «unbeständige psychische Natur» die Herrschaft erlangen, und

2. Er muss das Denken davon abhalten, die vielen Formen anzunehmen, die es so willig bildet. Diese werden häufig «Modifikationen des Denk-Prinzips» genannt.

Diese beiden Bemühungen führen zur Beherrschung des emotionellen Körpers und damit des Verlangens; sie bringen den mentalen Körper und damit das Manas (das begriffliche Denken) unter Kontrolle. Der Schüler sollte daran denken, dass unbeherrschtes Verlangen und unreguliertes Denken das Licht der Seele ausschalten und dem geistigen Bewusstsein entgegenwirken. Eine Vereinigung ist so lange unmöglich, als die Schranken bestehen. Der Meister lenkt darum (zu Beginn der Unterweisung) die Aufmerksamkeit des Schülers auf die praktische Arbeit, die getan werden muss, um dieses Licht freizumachen, so dass es «an einem dunklen Ort», das heisst auf der physischen Ebene hervorbrechen kann. Man muss dabei folgendes bedenken: Erst wenn (okkult gesprochen) die niedere Natur beherrscht ist, kann sie die höhere offenbaren. Erst wenn der zweite Aspekt des niederen persönlichen Selbstes (der emotionelle Körper) unterjocht oder umgewandelt ist, kann das Christus-Licht (der zweite Aspekt des Ego) gesehen werden. Später wird dann in diesem Licht die Monade, der Vater, der Eine, offenbar werden.

Ebenso wird, wenn der erste Aspekt des niederen persönlichen Selbstes, der Mentalkörper, beherrscht wird, der Willensaspekt des Ego, und durch dessen Wirksamkeit der Wille des Logos erkannt. Es gibt [10] im geistigen Leben gewisse Linien des geringsten Widerstandes, durch die bestimmte Kräfte oder Energien freigesetzt werden.

a. Emotionell                     intuitiv/buddhisch                        monadisch                   zum Herzen des Strebenden.

b. Mental                            spirituell/atmisch                         logoisch                        zum Kopf des Strebenden.

Dem Schüler wird darum das Wort der Zügelung (der Kontrolle) als Schlüssel für alle seine Bemühungen gegeben.

Das Chitta ist die Denksubstanz, der Mentalkörper, die Fähigkeit des Denkens und der Bildung von Gedankenformen, die Gesamtsumme der mentalen Vorgänge. Es ist das vom Ego (von der Seele) beherrschte Material, aus dem Gedankenformen gebildet werden.

Die «psychische Natur» ist das Kama-Manas (Wunschdenken), der emotionelle oder Astralkörper mit einem Anflug von Denken. Es ist das Material, in das alle unsere Wünsche und Gefühle gekleidet sind. Dadurch werden sie zum Ausdruck gebracht.

Diese beiden Arten von Substanz folgen ihrer eigenen Entwicklungslinie. Nach dem Plan des Logos werden die Lebensgeister oder göttlichen Funken durch das wechselseitige Einwirken von Geist und Materie zunächst zu ihnen hingezogen und dann von ihnen eingeschlossen. Durch die Beherrschung dieser Substanzen und durch die Zügelung ihrer instinktmässigen Tätigkeiten sammeln diese Lebensgeister Erfahrung und erlangen schliesslich die Befreiung. So wird die Vereinigung mit der Seele erreicht.

Es ist [11] eine Vereinigung, die im physischen Körper auf der Ebene der dichtesten Stofflichkeit durch bewusste intelligente Beherrschung der niederen Natur erlebt wird.

3. Wenn das erreicht ist, erkennt sich der Yogi so, wie er in Wirklichkeit ist.

Das könnte auf folgende Weise erklärt werden: Der Mensch, der die Bedingungen kennt und sie so erfüllt hat, wie es im vorhergehenden Lehrspruch angedeutet wurde,

1. sieht das Selbst,

2. begreift das wahre Wesen der Seele,

3. identifiziert sich mit der inneren Wirklichkeit und nicht mehr mit den sie verbergenden Formen,

4. lebt im Zentrum und nicht mehr an der Peripherie,

5. erlangt geistiges Bewusstsein,

6. erwacht zum Erkennen des innewohnenden Gottes.

In diesen drei Lehrsprüchen sind die Methode und das Ziel klar und eindeutig beschrieben, und damit ist auch der Weg für eine mehr ins einzelne gehende Unterweisung bereitet. Der Strebende erkennt sein Problem; er hat jetzt den Schlüssel zur Lösung, und es wird ihm die Belohnung Vereinigung mit der Seele vor sein suchendes Auge gehalten.

Im nächsten Spruch wird kurz die Vergangenheit behandelt.

4. Bisher hat sich der innere Mensch mit seinen Formen und den ständig wirkenden Modifikationen (Veränderungen} dieser Formen identifiziert.

Diese Formen sind die Modifikationen, die in den verschiedenen Übersetzungen erwähnt werden; sie vermitteln die geheimnisvolle [12] Wahrheit über die unendliche Teilbarkeit des Atoms; sie sind die verbergenden Hüllen und ausserordentlich rasch wechselnden Umformungen, die verhindern, dass die wahre Natur der Seele offenbar werden kann. Es sind die äusseren Formen, die das Licht des inneren Gottes daran hindern, nach aussen zu leuchten, und die (okkult gesprochen) «einen Schatten vor das Antlitz der Sonne werfen».

Die innewohnende Natur der Lebenspartikel, aus denen diese aktiven, vielseitigen Formen bestehen, hat sich bisher für die Seele (den Christus in uns, wie der Christ sagt) als zu stark erwiesen und hat die volle Auswirkung der Seelenkräfte verhindert. Die instinktiven Kräfte der «animalischen Seele», die Wirksamkeit der ungeheuren Menge von Lebenszellen, aus denen die Hüllen oder Körper bestehen, kerkern den wirklichen Menschen ein und beeinträchtigen die Entfaltung seiner Anlagen. Diese Lebenspartikel sind intelligente Einheiten, die sich auf dem involutionären Bogen der Entwicklung befinden und bestrebt sind, ihr Wesen zum Ausdruck zu bringen. Ihr Ziel ist jedoch ein anderes als das des inneren Menschen, und sie behindern seinen Fortschritt und seine Selbst-Verwirklichung. Er wird «in ihre Wirksamkeiten verstrickt» und muss sich frei machen, bevor er sein Erbe der Macht, des Friedens und der Glückseligkeit antreten kann. Er kann «das Mass der vollen Grösse Christi» (Epheser 4, 13) erst dann erreichen, wenn sich keine Modifikationen mehr bemerkbar machen, wenn die Formen umgewandelt sind, wenn ihre Tätigkeit zum Stillstand gekommen und ihre Ruhelosigkeit gestillt ist.

Der Schüler wird dringend gebeten, die Wesensart dieses Aspekts der Entwicklung zu beachten, die zusammen mit seiner eigenen Entwicklung fortschreitet. Wenn er dieses Problem richtig erfasst [13] hat, versteht er die praktische Arbeit, die getan werden muss, und der zukünftige Yogi kann sein Werk beginnen.

Die niederen Formen sind ständig und unaufhörlich tätig; fortwährend verändern sie sich entsprechend den auf sie einwirkenden impulsiven Wünschen oder dynamischen Gedanken. Erst wenn diese «Formenbildung» überwacht wird und der Aufruhr der niederen Natur gestillt ist, wird es der innewohnenden beherrschenden Wesenheit möglich, sich von der Sklaverei zu befreien und den niederen Modifikationen ihre Schwingung aufzuerlegen.

Das wird durch Konzentration erreicht - durch das konzentrierte Bemühen der Seele, unablässig die Rolle des Beobachters, des Wahrnehmenden, des Sehers beizubehalten. Erst wenn das erreicht ist, verschwindet das niedere «Schauspiel» der rasch wechselnden Gedanken- und Wunschformen, und dann kann das Reich der Seele, der wahre Wissensbereich der Seele, erkannt werden und mit diesem Reich ein Kontakt zustande kommen.

5. Es gibt fünf Zustände des Denkens, die den Empfindungen von Lust oder Schmerz unterworfen sind; sie sind schmerzlich oder nicht schmerzlich.

Im Original kommt das Wort «Lust» nicht vor. Der übermittelte Gedanke ist mehr ein Fachbegriff, der gewöhnlich mit «nicht schmerzlich» übersetzt wird. Jedenfalls ist der zugrundeliegende Gedanke der, dass die Gegensatzpaare ein Hindernis für die Erkenntnis bilden. Der Schüler muss bedenken, dass wir uns in diesem Lehrspruch mit dem Einfluss des Chitta, der Denksubstanz, befassen, mit all den Veränderungen, denen sie so lange unterliegt, als ihre Unbeständigkeit und Aktivität die beherrschenden Faktoren sind. Er darf die Tatsache nicht ausser acht lassen, dass wir uns mit [14] der niederen psychischen Natur befassen. Das ist ein Ausdruck, der im okkulten Sinn sowohl für die niederen Denkvorgänge als auch für die astralen oder emotionellen Reaktionen gebraucht wird. Jede Aktivität in der niederen Natur ist die Wirkung von Kama-Manas, d. h. von Denken-Fühlen, des Wunsch-Denkens des niederen Menschen. Das Ziel des Raja-Yoga-Systems ist es, diese Impulse durch überlegtes, intelligentes Handeln der Seele, des geistigen Menschen, zu ersetzen, dessen Wesen Liebe, dessen Handeln (okkult verstanden) weise und dessen Beweggrund die Entwicklung der Gruppe ist. Darum muss die Reaktion, die Schmerz heisst, genau so überwunden werden wie die der Lust, denn beide beruhen auf der Identifizierung mit der Form. An ihrer Stelle muss Losgelöstheit treten.

Es ist interessant, dass es fünf Modifikationen des inneren Organs (des Denkvermögens) gibt. Das Manas, die Denkenergie, das antreibende Prinzip des Chitta (der Denksubstanz) ist das fünfte Prinzip, das sich wie alles andere in der Natur als Zweiheit manifestiert. Diese Zweiheit ist:

1. Niederes konkretes Denken als Ausdruck der Aktivität des Mentalkörpers.

2. Abstraktes Denken als Ausdruck des niedersten Aspekts des Ego.

Im Mikrokosmos «Mensch» wird diese Zweiheit zu einer dreifachen Modifikation auf der Mentalebene, und in diesen dreien haben wir im kleinen ein Bild der makrokosmischen Manifestation. Diese drei sind:

1. das mentale permanente Atom, der niederste Aspekt der spirituellen Triade;

2. der egoische oder Kausalkörper, das Karana Sharira;

3. der Mentalkörper, der höchste [15] Aspekt des niederen, persönlichen Selbstes.

Der Mentalkörper selbst hat fünf Modifikationen und ist daher eine Widerspiegelung des fünften Prinzips, das sich auf der fünften Ebene, der Mentalebene manifestiert. Diese Modifikationen sind die niederen Schattenbilder von Manas (dem Denken in mikrokosmischer Manifestation), und dieses Denken ist eine Reflektion von Mahat (dem universalen Denken), jenem Denken, das sich im Makrokosmos manifestiert. Das ist ein grosses Mysterium, das sich aber jenem Menschen enthüllen wird, der die fünf Modifikationen des niederen Denkens überwindet, der sich durch Loslösung vom niederen Denken mit dem höheren Denken identifiziert und so das Rätsel des «Makara» löst und den Weg der Kumaras geht. Hierin liegt für die fortgeschrittenen Schüler dieser Wissenschaft ein Hinweis auf das esoterische Problem des Makara, das in der «Geheimlehre» von H.P. Blavatsky angedeutet wird.

6. Diese Modifikationen sind: rechtes Wissen, falsches Wissen, Einbildung, Passivität (Schlaf) und Erinnerung.

Es gibt ein grosses Wissensgebiet, das der Seher früher oder später kennenlernen muss. Von okkulten Psychologen wird allgemein zugegeben, dass es drei Arten des Wahrnehmens und Erkennens gibt:

1. Direkte Wahrnehmung durch die Sinne. Jeder Sinn bringt, wenn er gebraucht wird, den Gebraucher in Kontakt mit einem bestimmten Bereich von Schwingungen, die sich als Form zeigen.

2. Ableitung oder Schlussfolgerung. Hier gebraucht der Erkennende die Urteilskräfte des Verstandes für das, was er nicht direkt [16] wahrnehmen kann. Für den Studenten der Esoterik ist das die Anwendung des Gesetzes der Entsprechungen (oder der Analogie).

3. Die unmittelbare Wahrnehmung des Yogi oder Sehers, der im Bewusstsein des Selbstes, des Egos auf seiner eigenen Ebene, konzentriert ist. Das wird dadurch erreicht, dass das Denkvermögen richtig, das heisst als Organ der geistigen Schau und Übermittlung benützt wird. Patanjali sagt: «Der Seher ist reines Erkennen (Gnosis). Obgleich die Erkenntnis unmittelbar ist, sieht er den dargestellten Gedanken durch das Medium der Denkfähigkeit». (Buch II. Sutra 20)

Deduktion, die Ableitung des Besonderen aus dem Allgemeinen, ist keine sichere Methode zur Erlangung von Wissen; und die anderen Modifikationen beziehen sich hauptsächlich auf die falsche Anwendung der Vorstellungskraft, auf die selbst herbeigeführte Passivität des Denkens (einen Zustand des Halbschlafes) und auf das Festhalten von Gedankenformen in der mentalen Aura durch das Gedächtnis. Jeder dieser Punkte wird nun von Patanjali in einem besonderen Lehrspruch behandelt.

7. Die Grundlagen rechten Wissens sind richtige Wahrnehmung, richtige Schlussfolgerung und klarer Beweis.

Eine der umwälzendsten Erkenntnisse, nach denen sich der Student des Okkulten richten muss, ist die, dass die Denkfähigkeit ein Mittel ist, um Wissen oder Erkenntnis zu erlangen. Im Westen besteht vorwiegend die Auffassung, dass das Denkvermögen derjenige Teil des menschlichen Mechanismus ist, der sich das Wissen zunutze macht. Der «Vorgang, bei dem man sich die Dinge durch den Kopf gehen lässt», das Bemühen, Probleme durch schwere Gedankenarbeit lösen zu wollen, hat im Grund mit der Entfaltung der Seele [17] nichts zu tun; es ist nur ein vorläufiges Stadium und muss durch eine andere Methode ersetzt werden.

Der Student des Raja Yoga muss zu der Einsicht kommen, dass das Denkvermögen dazu bestimmt ist, ein Organ der Wahrnehmung zu sein; nur so wird er zu einem richtigen Verstehen dieser Wissenschaft kommen. Der anzustrebende Verlauf des Denkprozesses könnte etwa wie folgt beschrieben werden:

1. Richtige Kontrolle der Modifikationen (oder des Tätigkeitstriebs) des Denkprinzips.

2. Stabilisierung der Denktätigkeit, die sodann von der Seele als Instrument geistiger Schau, als sechster Sinn und als Synthese der anderen fünf Sinne benützt wird.

Das Ergebnis ist: Richtiges Wissen und Erkennen.

3. Richtiger Gebrauch der Wahrnehmungsfähigkeit, damit der neue Erkenntnisbereich so gesehen wird wie er ist.

4. Das, was wahrgenommen wird, wird durch die darauffolgende Zustimmung der Intuition und der Vernunft richtig gedeutet.

5. Richtige Weiterleitung der Wahrnehmungen an das physische Gehirn; die Aussage des sechsten Sinnes wird richtig gedeutet und mit okkulter Genauigkeit übermittelt.

Das Ergebnis ist: Richtiges Reagieren des physischen Gehirns auf das übermittelte Wissen.

Wird dieser Vorgang studiert und befolgt, dann werden dem Menschen auf der physischen Ebene die Dinge der Seele und die Geheimnisse des Reiches der Seele - des «Reiches Gottes» - immer mehr bewusst. Alle Gruppenangelegenheiten und das Wesen des Gruppen-Bewusstseins werden ihm offenbar.

Diese Regeln werden [18] sogar dort, wo es sich um eine genaue Darstellung von Weltangelegenheiten handelt, als wesentliche Voraussetzungen angesehen. Wenn diese gleichen Regeln in der niederen und höheren Welt psychischen Strebens angewendet werden, erfolgt eine Klärung der bestehenden Verwirrung. In einem alten, für Jünger eines gewissen Grades geschriebenen Buch finden wir folgende Sätze, die für alle Jünger wertvoll sind. Die Übersetzung ist nicht wörtlich, gibt aber den Sinn wieder:

«Der Mensch, der Ausschau hält, sollte dafür sorgen, dass das Fenster, durch das er hinaussieht, das Licht der Sonne durchlässt. Wenn er in der Morgendämmerung hinausschaut (am Beginn seines Bemühens A.A.B.) sollte er bedenken, dass die Sonne noch nicht aufgegangen ist. Die klaren Umrisse können noch nicht wahrgenommen werden; gespenstische Formen und Schatten, düstere Räume und finstere Bereiche verwirren seine Sicht».

Am Schluss dieses Satzes steht ein seltsames Symbol, das dem Jünger sagen will: «Sei schweigsam und behalte Deine Meinung für Dich».

8. Unrichtiges Erkennen beruht darauf, dass nur die Form, und nicht der Zustand des wirklichen Seins wahrgenommen wird.

Es ist nicht leicht, den Sinn dieses Satzes verständlich zu machen; er besagt etwa folgendes:

Wissen, Ableitung und ein Urteil, das sich auf Äusserlichkeiten und auf die Form gründet, durch die irgendein Leben in irgendeinem Naturreich sich zum Ausdruck bringt, ist (für den Okkultisten) falsches und unwahres Wissen.

Im jetzigen [19] Stadium des Entwicklungsprozesses ist noch keine Form so beschaffen, dass sie das innewohnende Leben in angemessener Weise zum Ausdruck bringt. Ein wahrer Adept beurteilt irgendeine Ausdrucksform des Göttlichen nicht nach dem dritten Aspekt dieser Form. Raja Yoga schult den Menschen, in seinem zweiten Aspekt zu wirken und sich durch diesen mit dem «wahren Wesen» in Verbindung zu setzen, das in jeder Form verborgen ruht. Das «Sein» ist die essentielle Wirklichkeit, und alle Wesen streben danach, dieser Wirklichkeit wahren Ausdruck zu geben. Alles Wissen, das durch die niederen Fähigkeiten erworben wird und sich auf den Formaspekt gründet, ist daher fehlerhaftes Wissen.

Nur die Seele kann richtig erkennen; nur die Seele hat die Fähigkeit, mit dem Urborn, dem Buddhi-Prinzip (in der christlichen Terminologie: Christus-Prinzip) in Berührung zu kommen, das sich im Innern eines jeden Atoms befindet - sei es das Atom der Materie, das im Laboratorium des Wissenschaftlers erforscht wird, sei es das menschliche Atom im Schmelztiegel des täglichen Erlebens, sei es das planetarische Atom, in dessen Wirkungsbereich alle unsere Naturreiche bestehen, oder sei es das solare Atom, Gott, der sich durch ein Sonnensystem manifestiert. Christus «wusste, was im Menschen war», und deshalb konnte er ein Erlöser sein.

9. Einbildungen beruhen auf Phantasiegebilden, die kein wirkliches Dasein haben.

Das bedeutet, dass diese Gebilde insofern keinen wirklichen Bestand haben, als sie von den Menschen selbst heraufbeschworen, innerhalb ihrer mentalen Aura aufgebaut, durch ihren Willen oder [20] ihr Verlangen belebt worden sind und folglich sich auflösen, wenn die Aufmerksamkeit auf etwas anderes gerichtet wird.

«Dem Denken folgt Energie» das ist ein Grundlehrsatz des Raja-Yoga-Systems, und er gilt sogar in dem Fall, wenn es sich um diese Phantasiegebilde handelt. Von diesen nur in der Vorstellung bestehenden Gebilden gibt es drei Gruppen, über die der Studierende nachdenken sollte.

1. Die Gedankenformen, die er selbst erschafft, die rasch dahinschwinden und von der Qualität seines Verlangens abhängen; sie sind also weder gut noch böse, weder hoch noch niedrig, können aber durch niedere Neigungen oder idealistisches Streben belebt werden; zwischen diesen Extremen gibt es alle möglichen Zwischenstadien. Der Aspirant (geistig Strebende) muss darauf achten, dass er sie nicht irrtümlich für Wirklichkeit hält. So kommt es beispielsweise vor, dass Menschen leicht zu der irrigen Annahme kommen, sie hätten einen Meister der Weisheit gesehen, während es in Wirklichkeit nur die Gedankenform eines Meisters war. Der Wunsch war der Vater des Gedankens, und sie sind das Opfer einer solchen unrichtigen Wahrnehmung geworden, die Patanjali Einbildung nennt.

2. Jene Gedankenformen, die von einer Rasse, Nation, Gruppe oder Organisation geschaffen werden. Gruppen-Gedankenformen jeglicher Art (von der planetarischen Form bis zu der von irgendeiner Denkergruppe hervorgebrachten) bilden die Gesamtsumme der «grossen Illusion». In diesen Worten liegt ein Hinweis für den ernsthaften Aspiranten.

3. Die von einem Menschen geschaffene Gedankenform, die seit seinem ersten Erscheinen in physischer Form besteht und «Hüter [21] der Schwelle» genannt wird. Da sie vom niederen persönlichen Selbst, nicht von der Seele geschaffen wurde, ist sie vergänglich und wird nur von der niederen Energie des Menschen zusammengehalten. Wenn der Mensch als Seele zu wirken beginnt, wird dieses «Bild», das er in seiner «Einbildung» oder auf Grund einer irrigen Auffassung geschaffen hat, durch eine äusserste Anstrengung zerstreut. Es hat kein wirkliches Dasein, sobald im Menschen nichts mehr besteht, wodurch es genährt wird; und diese Erkenntnis macht ihn fähig, sich aus der Sklaverei dieser Gedankenform zu befreien.

Das ist einer der Lehrsprüche, die so kurz und einfach, und dennoch von tiefster Bedeutung sind; sogar hohe Eingeweihte, die das Wesen des Schöpfungsprozesses des Planeten erforschen und sich mit der Beseitigung der planetarischen Illusion befassen, studieren diesen Satz.

10. Passivität (Schlaf) beruht darauf, dass der Strom der Vrittis (der Gedankenimpulse) zum Stillstand gekommen ist, oder anders gesagt, dass die Sinne nicht wahrnehmen.

Hier müsste vielleicht zuerst eine Erklärung über das Wesen der Vrittis gegeben werden. Die Vrittis sind mentale Wellen oder Gedankenschwingungen, die dadurch zustandekommen, dass zwischen dem angesprochenen Sinn und der Wahrnehmung oder Empfindung eine bewusste Verbindung hergestellt wird. Abgesehen von einer gewissen Modifikation des Denkvorgangs oder von der bewusst empfundenen Vergegenwärtigung «Ich-bin», können die Sinne tätig sein, ohne dass sich der Mensch ihrer bewusst wäre. Der Mensch weiss, dass er sieht, schmeckt oder hört; er sagt, «ich sehe, ich schmecke, ich höre», und es ist die Aktivität der Vrittis (jener mentalen Wahrnehmungen, die zu den fünf Sinnen in Beziehung stehen), die es ihm ermöglicht, diese Tatsache zu erkennen. Dadurch, [22] dass er sich von einer aktiven Sinneswahrnehmung zurückzieht indem er das «nach aussen gehende» Bewusstsein nicht mehr benützt und dieses Bewusstsein von der Peripherie in das Zentrum zurückzieht, kann er einen Zustand der Passivität herbeiführen, einen Mangel an Bewusstheit, der weder das Samadhi des Yogi, noch äusserste Konzentration ist, wie sie der Yogaschüler erstrebt, sondern eine Art Trance ist. Diese selbstauferlegte Stillung ist nicht nur für das Erreichen des höchsten Yoga nachteilig, sondern in vielen Fällen sogar äusserst gefährlich.

Der Yogaschüler sollte sich stets vor Augen halten, dass ein in der richtigen Weise tätiges und richtig benütztes Denkvermögen das Ziel des Yoga ist; und dass der Zustand der sogenannten Geistesabwesenheit und ein Zustand passiver Empfänglichkeit, in dem die Sinnesverbindungen abgeschnitten oder geschwunden sind, nichts mit diesem Prozess zu tun hat. Der hier gemeinte Schlaf ist nicht das Einschlummern des Körpers, sondern das Einschläfern der Vrittis. Es ist ein Abschalten der Sinneskontakte, ohne dass der sechste Sinn (das Denkvermögen) deren Tätigkeit ersetzt. In diesem Schlafzustand ist der Mensch für Halluzinationen, Selbsttäuschungen, falsche Eingebungen und Besessenheit anfällig.

Es gibt verschiedene Arten von Schlaf, und in einer Erläuterung wie dieser ist nur eine kurze Aufzählung möglich.

1. Der gewöhnliche Schlaf des physischen Körpers, während dessen das Gehirn auf irgendwelche Sinneskontakte nicht reagiert.

2. Die Bewegungslosigkeit der Vrittis, also jener Modifikationen des Denkvorgangs, die den Menschen mittels der Sinnesempfindung und des Denkens mit seiner Umgebung in Wechselbeziehung bringen.

3. Der Schlummer [23] der Seele, der, okkult gesprochen, sich über eine bestimmte Zeitspanne menschlichen Erlebens erstreckt. Dieser Zeitabschnitt beginnt mit der ersten Inkarnation und dauert so lange, bis der Mensch zu einem Wissen um den Plan «erwacht» und sich bemüht, den niederen Menschen mit dem Wesen und Willen des inneren geistigen Menschen in Übereinstimmung zu bringen.

4. Die Trance des gewöhnlichen Mediums, wobei der Ätherkörper teilweise aus dem physischen Körper austritt und auch vom Astralkörper teilweise abgetrennt ist - ein Zustand, der sehr gefährlich sein kann.

5. Samadhi, der Schlaf des Yogi. Dieser Zustand der Versenkung kommt dadurch zustande, dass sich der wahre Mensch bewusst und in wissenschaftlicher Weise aus seinen niederen dreifachen Hüllen zurückzieht, um sich auf höheren Ebenen auf irgendeinen aktiven Dienst in der äusseren Welt vorzubereiten.

6. Der «Schlaf» der Nirmanakayas. Das ist ein Zustand einer solch intensiven geistigen Konzentration im geistigen (atmischen) Körper, dass das nach aussen gehende Bewusstsein nicht nur aus den drei Ebenen menschlichen Bemühens, sondern auch aus den zwei niederen Ausdrucksformen der geistigen Triade zurückgezogen wird. Um eine besondere Aufgabe durchzuführen, «schläft» der Nirmanakaya auf allen Ebenen, ausser auf der dritten, der atmischen Ebene.

11. Gedächtnis ist das Festhalten dessen, was man erlebt hat und weiss.

Dieses Erinnerungsvermögen umfasst mehrere Gruppen von Erfahrungen - aktiven oder latenten; es hat mit gewissen Ansammlungen bekannter Faktoren zu tun, die wie folgt aufgezählt werden könnten:

1. Die Gedankenbilder von dem, was greifbar und anschaulich und dem Denkenden auf der physischen Ebene bekannt geworden ist.

2. Kama-manasische (durch Verlangen [24] und verstandesmässiges Denken entstehende) Vorstellungen von früheren Wünschen und ihrer Befriedigung. Die Vorstellungskraft des Durchschnittsmenschen beruht auf seinen Wünschen (auf hohen oder niederen, auf emporstrebenden oder niederwärts ziehenden Wünschen) und ihrer erlebten Befriedigung. Das gilt für das Gedächtnis eines unersättlichen Menschen mit seiner latenten Vorstellung einer befriedigenden Mahlzeit ebenso wie für das Gedächtnis eines orthodoxen Heiligen, der sich einen freudvollen Himmel ausgemalt hat.

3. Die Tätigkeit des Gedächtnisses, die das Ergebnis mentaler Schulung und durch Lesen oder Lernen erworbenen Wissens ist; der Beweggrund ist nicht ausschliesslich ein Verlangen, sondern ebenso intellektuelles Interesse.

4. Alle die verschiedenartigen Kontakte, die von den fünf niederen Sinneswahrnehmungen ausgehen und vom Gedächtnis festgehalten werden.

5. Jene mentalen Bilder, die im Erinnerungsvermögen latent vorhanden und die Gesamtsumme aller Kenntnisse und jener Erkenntnisse sind, die durch die richtig angewandte Denkfähigkeit (den sechsten Sinn) gewonnen wurden.

Alle diese Formen des Erinnerungsvermögens müssen abgetan und dürfen nicht mehr festgehalten werden; sie müssen als Modifikationen des Denkprinzips und folglich als Teil der unbeständigen psychischen Natur erkannt werden, die beherrscht werden muss, ehe der Yogi hoffen kann, von Begrenztsein und jeder niederen Tätigkeit frei zu werden. Das ist das Ziel.

6. Schliesslich (denn [25] es ist nicht nötig, weitere komplizierte Unterteilungen anzuführen) enthält das Gedächtnis auch alle die Erfahrungen, die von der Seele im Laufe vieler Inkarnationen angesammelt wurden und die im wahren Bewusstsein der Seele aufgespeichert sind.

12. Die Kontrolle über diese Modifikationen des inneren Organs, des Denkvermögens, wird durch unermüdliches Bemühen und Nicht-Anhangen erreicht.

Bei diesem Lehrspruch, der so leicht zu verstehen ist, sind nur einige kurze Erklärungen nötig; der Sinn und Zweck ist ganz klar, aber die praktische Durchführung schwer.

1. Das innere Organ ist natürlich das Denkvermögen. Denker des Westens sollten beachten, dass der Okkultist des Ostens mit den Organen nicht die physischen Organe meint. Der Grund dafür ist, dass der physische Körper in seiner dichten, greifbaren Form nicht als ein Prinzip, sondern lediglich als die sichtbare Auswirkung der wirklichen Prinzipien angesehen wird. Die Organe sind, okkult gesprochen, Aktivitätszentren wie z.B. die Denkfähigkeit, die verschiedenen permanenten Atome und die Kraftzentren in den verschiedenen Körperhüllen. Alle diese Organe haben ihre objektiven «Schatten» oder Auswirkungen; und diese Emanationsprodukte sind die äusseren physischen Organe. Das Gehirn zum Beispiel ist der «Schatten», das äussere Organ der Denkfähigkeit; und der Forscher wird herausfinden, dass der Inhalt der Gehirnkammer mit den Aspekten des menschlichen Mechanismus auf der Mentalebene [26] übereinstimmt. Dieser letzte Satz muss betont werden; er gibt jenen einen Hinweis, die fähig sind, daraus Nutzen zu ziehen.

2. Unermüdliches Bemühen bedeutet buchstäblich: durch beständige Übung, unaufhörliche Wiederholung und immer neue Anstrengung einen neuen Lebensrhythmus zu erlangen und tiefverwurzelte Denkgewohnheiten und Modifikationen durch Herbeiführung von Seeleneindrücken zu beseitigen. Der Yogi (der Meister) ist das Ergebnis geduldiger Ausdauer; seine Errungenschaft ist die Frucht beharrlicher Anstrengung, die auf intelligenter Einschätzung der zu leistenden Arbeit und des zu erreichenden Ziels, nicht auf vorübergehender Begeisterung beruht.

3. Nicht-Anhangen oder Losgelöstsein ist der Zustand, der schliesslich alle Sinneswahrnehmungen dazu bringt, die ihnen angemessenen Funktionen auszuüben. Wenn der Mensch sich nicht mehr durch Sinneswahrnehmungen fesseln lässt, wird ihre Macht über ihn immer kleiner; schliesslich kommt die Zeit, da er vollständig Herr seiner Sinne und aller Sinnenkontakte ist. Das bedeutet nicht, dass sie geschwunden oder nutzlos geworden sind, sondern es ist ein Zustand, in dem der Yogi sie nutzen kann, wann und wie er will; er macht von ihnen Gebrauch, um seine Leistungsfähigkeit im Gruppendienst und Gruppenbemühen zu steigern.

13. Unermüdliches Bemühen ist die beständige Anstrengung, die ruhelosen Gedankenimpulse im Zaume zu halten.

Das ist einer der Lehrsprüche, die sehr schwer so zu übersetzen sind, dass sie die wirkliche Bedeutung wiedergeben. Er will besagen, dass [27] der geistige Mensch beharrlich bestrebt sein muss, die Modifikationen (oder Wallungen) der Gedanken zu zügeln und die niedere psychische vielseitige Natur zu beherrschen, um sein geistiges Wesen voll zum Ausdruck zu bringen. So, und nur so, kann der geistige Mensch tagtäglich das Leben der Seele auf der physischen Ebene leben. Charles Johnston versucht in seiner Übersetzung, dies durch folgende Worte auszudrücken: «Die richtige Anwendung des Willens ist das beständige Bemühen, im geistigen Sein zu leben».

Der darin enthaltene Gedanke ist der, beim Denkvermögen (als dem sechsten Sinn) dieselbe Zügelung anzuwenden, die den fünf niederen Sinnen auferlegt wird: die nach aussen gerichtete Aktivität wird eingestellt, und sie werden davon abgehalten, auf den Einfluss oder die Anziehung ihres Erkenntnisbereichs zu reagieren.

14. Wenn das zu erreichende Ziel richtig gewertet und das Bemühen, es zu erreichen, beharrlich und ohne Unterlass fortgesetzt wird, dann ist die Stetigkeit der Denktätigkeit (die Zügelung der Vrittis) gesichert.

Alle Schüler des Raja Yoga müssen zuerst hingebungsvolle Verehrer sein. Nur die intensive Liebe zur Seele und zu all dem, was das Wissen um die Seele mit sich bringt, wird den Strebenden mit genügender Beharrlichkeit zu seinem Ziele führen. Das angestrebte Ziel - die Vereinigung mit der Seele und infolgedessen mit der Überseele und mit allen Seelen - muss richtig eingeschätzt werden; die Gründe, weshalb man es erreichen will, müssen richtig beurteilt, und die zu erzielenden Ergebnisse ernsthaft ersehnt (geliebt) werden, ehe der Strebende die genügend starke Anstrengung macht, die ihm Macht über die Modifikationen des Denkens und daher über seine ganze niedere Natur gibt.

Nur wenn [28] diese Würdigung echt genug und er fähig ist, die Unterwerfung und Beherrschung ununterbrochen voranzubringen, wird dem Schüler mit der Zeit immer mehr bewusst werden, welche Bedeutung die Zügelung der Modifikationen hat.

15. Nicht-Anhangen ist Freisein vom Verlangen nach allen Wunschobjekten, ganz gleich, ob es sich um irdische Dinge oder um ein Festhalten an Überlieferungen, ob es sich um Dinge des Diesseits oder des Jenseits handelt.

Nicht-Anhangen (Losgelöstsein) kann auch als Durstlosigkeit bezeichnet werden. Das wäre wohl der richtigste okkulte Ausdruck dafür, da er die duale Grundidee von Wasser, dem Symbol der materiellen Existenz und von Verlangen, der Eigenschaft der Astralebene, umfasst, deren Symbol gleichfalls das Wasser ist. Der Gedanke, dass der Mensch «Fisch» ist, wird hier auffallend vollkommen ausgedrückt. Dieses Symbol hat, wie alle Symbole, sieben Bedeutungen; zwei davon sollen hier angeführt werden:

1. Der Fisch ist das Symbol des Vishnu-Aspekts, des Christus-Prinzips, des zweiten Aspekts der Gottnatur, des Christus in Inkarnation, sei es der kosmische Christus, (der sich durch ein Sonnensystem manifestiert) oder der individuelle Christus, der potentielle Erlöser in jedem Menschen. Das ist der «Christus in euch, die Hoffnung auf Herrlichkeit» (Kolosser I, 27). Wenn der Schüler auch noch den Fisch-Avatar des Vishnu studieren will, wird er noch mehr erfahren.

2. Der Fisch, der in den Wassern der Materie schwimmt; das ist eine Ausweitung des gleichen Gedankens, der hier nur auf seinen sichtbaren zeitlichen Ausdruck, den Menschen als Persönlichkeit, übertragen ist.

Wo es kein Verlangen nach einem wie immer gearteten Objekt mehr gibt [29] und wo kein Wunsch nach Wiedergeburt besteht (stets das Endergebnis sehnsüchtigen Verlangens, sich durch eine körperliche Form zum Ausdruck zu bringen), dort ist die wahre Durstlosigkeit erreicht worden; der befreite Mensch wendet sich von allen Formen in den niederen drei Welten ab und wird ein wahrer Erlöser.

In der Bhagavad Gita finden wir die folgenden aufklärenden Worte:

«Denn die Weisen mit geistiger Schau, die den Früchten ihrer Werke entsagen, sind befreit von den Fesseln der Wiedergeburt und weilen dort, wo es kein Leid mehr gibt».

«Wenn du Seele den dichten Wald der Täuschungen durchquert hast, wirst du dich nicht mehr um das kümmern, was gelehrt wird oder gelehrt worden ist».

«Wenn dein Denken frei geworden ist von überlieferten Lehren, wenn es unerschütterlich in der Seele und ihrer geistigen Schau ruht, dann wirst du die Vereinigung mit der Seele erlangen». (Gita II, 51, 52, 53)

J. H. Woods erklärt dies in seiner Übersetzung des Kommentars von Veda Vyasa folgendermassen:

«Leidenschaftlos ist das Bewusstsein des Menschen, der sich vom Durst nach sichtbaren oder kundgewordenen Objekten frei gemacht hat».

«Wenn die Denksubstanz (Chitta) frei ist vom Verlangen nach sichtbaren Objekten, wie Frauen, Essen oder Trinken, oder vom Streben nach Macht, wenn sie frei ist vom Verlangen nach offenbarten Dingen (in den Heiligen Schriften) wie z.B. nach dem Himmel, nach einem körperlosen Zustand oder nach einem Aufgehen in der Urmaterie, dann wird sie, auch wenn sie mit diesen Dingen in Berührung steht, und der vergeistigte Mensch sich der Unzulänglichkeit der Dinge bewusst ist, das Bewusstsein haben, Meister zu sein».

[30]