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2. Buch - Die Stufen zur Vereinigung - Teil 2

Die wichtigste Aufgabe des Menschen, der den Okkultismus studiert, besteht darin, Kräfte geschickt zu handhaben und in jene Welt einzudringen, in der Kräfte in Bewegung gesetzt werden, die sichtbare Wirkungen zur Folge haben. Er muss das Wirken des Gesetzes von Ursache und Wirkung studieren; er muss es tatsächlich und in voller Klarheit verstehen und aufhören, sich nur mit Wirkungen zu befassen. Er muss seine Aufmerksamkeit auf die Ursachen richten, welche die Wirkungen hervorrufen. Er kommt (in bezug auf sich selbst) zu der Erkenntnis, dass die primäre Ursache seines objektiven Daseins in den drei Welten das Ego selbst ist, und dass die sekundären Ursachen alle jene fundamentalen egoischen Impulse sind, die zur Entwicklung des Reaktionsvermögens auf Sinnesberührung in den drei Welten geführt haben. Diese Impulse haben Wirkungen erzeugt, die sich gesetzmässig auf der physischen Ebene sichtbar auswirken müssen. Darum ist die Herstellung einer direkten Verbindung mit dem Ego - über den Lebensfaden (oder das Sutratma) - von so grosser Bedeutung, denn nur auf diese Weise kann der Aspirant die Ursachen herausfinden, die den Manifestationen seines jetzigen Lebens zugrundeliegen; und nur so kann er beginnen, sich mit den Samskaras oder Keimen seines zukünftigen Handelns zu befassen. Diese Keime sind dem Wesen nach kama-manasisch (d.h. teils emotional, teils mental), denn das Verlangen ist mächtig in seinen Auswirkungen und erzeugt das physische Manifestations-Instrument in seinen beiden Aspekten.

a. Das niedere Manas (oder konkrete Denken) ist die Grundursache für das Entstehen des Ätherkörpers.

b. Kama oder Verlangen [145] ist die treibende Kraft, die den physischen Körper ins Dasein bringt.

Kama und Manas zusammen sind die massgebenden Ursachen des manifestierten Daseins (des Entstehens der Erscheinungswelt.)

Es ist wohlbekannt, dass der Baum des Lebens mit den Wurzeln nach oben und mit den blühenden Zweigen nach unten dargestellt wird. Für den kleinen Lebensbaum des Ego gilt die gleiche symbolische Darstellung. Die Wurzeln befinden sich auf der Mentalebene. Das Erblühen zum sichtbaren Dasein und die Ausreifung geschieht auf der physischen Ebene. Darum ist es notwendig, dass der Aspirant die Axt an die Wurzel des Baumes legt, also sich mit den Gedanken und Begierden befasst, die den physischen Körper ins Dasein bringen. Er muss in den inneren Bereich eindringen, wenn er sich mit dem befassen will, was ihn an das Rad der Wiedergeburt gebunden hält. Wenn die Keime ausgerottet sind, ist auch kein Ausreifen mehr möglich. Wenn die Wurzeln von ihren Verzweigungen auf den drei Ebenen getrennt sind, kann auch die Lebensenergie nicht mehr hineinströmen. Die drei Worte: Geburt, Dasein und Erleben fassen das menschliche Dasein, dessen Zweck und Ziel zusammen, und damit brauchen wir uns hier nicht zu befassen. Das ganze Thema des Karma (oder des Gesetzes von Ursache und Wirkung) wird in diesem Lehrsatz aufgeworfen; es ist zu umfassend, als dass es hier ausgeführt werden könnte. Es genügt der Hinweis, dass - vom Standpunkt der Yoga-Lehrsprüche aus - Karma von dreifacher Art ist:

1. Latentes Karma. Das sind jene Keime und Ursachen, die noch unentwickelt und unwirksam sind, die aber in diesem oder einem folgenden Leben zur Auswirkung kommen werden.

2. Wirkendes Karma. Das sind die Keime und Ursachen, die sich [146] jetzt entwickeln und auswirken, und für die das gegenwärtige Leben den Nährboden abgeben soll, in dem sie zur Reife kommen sollen.

3. Neues Karma. Das sind die Keime und Ursachen, die in diesem Leben geschaffen werden, und die zwangsläufig die Umstände eines späteren Lebens bestimmen werden.

Der Anfänger in dieser Wissenschaft des Yoga kann sich zuerst mit seinem jetzt sich auswirkenden Karma befassen, indem er alle Ereignisse und Umstände seines Lebens als Gelegenheiten betrachtet, um bestimmte Wirkungen aufzuheben. Er kann sich bemühen, über seine Gedanken so zu wachen, dass keine neuen Samen gesät werden, dass also kein neues Karma in einem zukünftigen Leben entstehen kann.

Schwieriger ist es für den Neuling auf dem Pfad, mit den Keimen des latenten Karma fertig zu werden. Hier kann ihm sein Meister in der Weise helfen, dass er auf seine Lebensumstände und seine Umgebung in den drei Welten so einwirkt, dass die Art seines Karmas schneller zur Auswirkung kommen und abgetragen werden kann.

14. Aus diesen Keimen (oder Samskaras) erwächst Freude oder Leid, je nachdem, ob das, was der Mensch säte, gut oder böse war.

Gut ist das, was sich auf das Eine Prinzip bezieht, auf die Wirklichkeit, die allen Formen innewohnt; auf den Geist des Menschen, [147] der sich durch die Seele kundtut; auf den Vater im Himmel, der sich durch den Sohn manifestiert. Das Böse bezieht sich auf die Form, auf das Gehäuse, auf die Materie; es betrifft tatsächlich die Beziehung des Sohnes zu seinem Manifestations-Instrument. Wenn der kosmische oder menschliche Sohn Gottes von seiner Form eingeengt, eingekerkert und der klaren Sicht beraubt ist, dann hat das böse Macht über ihn. Wenn er sich seines Selbstes bewusst ist, unbehindert durch Formen und frei von der Knechtschaft der Materie, dann ist das die Macht des Guten. Völliges Freisein von der Materie bringt Glückseligkeit und Freude - die Freude der erkannten Wirklichkeit. Das Böse verursacht Leiden, denn der Grad der Beeinträchtigung des inneren Herrschers durch seinen Manifestationskörper bestimmt auch das Mass des Leidens.

15. Der erleuchtete Mensch betrachtet das ganze Dasein in den drei Welten als leidvoll, und zwar wegen der Wirksamkeiten der Gunas. Diese Wirksamkeiten sind von dreifacher Art: sie bringen karmische Folgen, Kümmernisse und bange Ahnungen mit sich.

Die drei «Gunas» sind die drei Qualitäten der Materie selbst, Sattva, Rajas und Tamas - oder Rhythmus, Aktivität und Trägheit; sie sind in allen Formen enthalten. Der Studierende darf nicht vergessen, dass jede Form auf jeder Ebene diese Merkmale aufweist; das gilt für die höchste Form genau so wie für die niedrigste. Die sichtbare Äusserung dieser Qualitäten ist nur dem Grad nach verschieden.

Dem Menschen, der sich der Vollkommenheit nähert, wird es immer klarer, dass jede Form, durch die er, der göttliche, geistige Mensch sich manifestiert, Begrenzung und Schwierigkeit verursacht. Das physische Formgefäss des Adepten, das vorwiegend aus sattvischer Substanz besteht, ausgeglichen und harmonisch ist, bindet ihn trotzdem an die Welt des physischen Bemühens und beeinträchtigt die Kräfte und Fähigkeiten des wahren Menschen. Allgemein könnte man sagen:

1. Das Attribut [148] der Trägheit (oder Tamas) kennzeichnet das niedere persönliche Selbst, die Hüllen des dreifachen niederen Menschen.

2. Das Attribut der Aktivität ist das Hauptmerkmal der Seele, und diese Qualität ist es, die das intensive Tätigsein und das ständige Bemühen des Menschen veranlasst; zuerst, wenn er Erfahrung sucht, und später, wenn er dienen will.

3. Das Attribut des Rhythmus oder des Ausgeglichenseins ist die Qualität des Geistes oder der Monade. Dieses Streben nach Vervollkommnung ist die Ursache der menschlichen Entwicklung in Zeit und Raum; es ist die treibende Kraft, die alles Leben durch alle Formen hindurch zur Vollendung führt. Wir müssen indes im Auge behalten, dass diese drei Qualitäten die Eigenschaften der Substanz sind, durch die sich der dreifältige Geist in diesem Sonnensystem manifestiert. Das Wesen des Geistes an sich ist uns bis jetzt unbekannt, denn wir können nur in Form-Begriffen denken, wie transzendental diese Formen auch sein mögen. Nur jene Seelen, welche die höchste Einweihung erlangt haben und über unseren solaren Einflussbereich hinausgehen können, wissen etwas von der essentiellen Natur dessen, was wir Geist nennen.

Zur praktischen Auswirkung der Tätigkeit der Gunas in den drei Welten kann in bezug auf den Menschen folgendes gesagt werden:

1. Das Attribut des Ausgeglichenseins oder Rhythmus zeichnet den mentalen Körper aus. Wenn dieser systematisch aufgebaut ist, und wenn sich der Mensch von seinem Denken leiten lässt, dann wird auch sein Leben harmonisch und geordnet, und die Regelung seiner Angelegenheiten geschieht in einer ausgeglichenen Weise.

2. Die Qualität der Aktivität oder Beweglichkeit ist das Kennzeichen [149] der Emotional- oder Astralnatur; und wenn diese vorherrscht, ist das Leben unausgeglichen, leidenschaftlich, gefühlsbetont und jeder Stimmung und jedem Gefühl nachgebend. Es ist hauptsächlich die Qualität des Wunschlebens.

3. Trägheit ist die Qualität, die im physischen Körper vorherrscht. Das ganze Bemühen des Ego zielt darauf hin, diese Trägheit zu beseitigen und seinen niedrigsten Träger zu einer Tätigkeit anzutreiben, die zu dem gewünschten Ergebnis führen soll. Darum sind in den Frühstadien des Bemühens das Wirken des Gunas der Beweglichkeit und die volle Tätigkeit der Wunschnatur notwendig.

Leiden ist die Folge dieser Aktivitäten der Formen, denn Leiden resultiert aus der naturgegebenen Verschiedenheit zwischen den Gegensatzpaaren Geist und Materie. Beide Faktoren sind ihrem Wesen nach so lange «im Friedenszustand», bis sie miteinander in Verbindung gebracht werden; sie leisten dann einander Widerstand und erzeugen Reibung und Leiden, wenn sie in Zeit und Raum miteinander verbunden sind.

Patanjali weist darauf hin, dass dieses Leiden umfassend ist und sich über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft erstreckt.

1. Karmische Folgen. Leiden entsteht durch die Handlungsweise in der Vergangenheit und dadurch, dass sich das Karma auswirkt: Fehler müssen gutgemacht und der Preis für Irrtümer muss gezahlt werden. Die Erfüllung früherer Verpflichtungen und die Begleichung von Schulden ist immer ein kummervoller Vorgang. Gewisse Vorkommnisse in der Vergangenheit bedingen die Zustände in der Gegenwart - Erbanlagen, Umwelt und Körpertyp; und die Form - des Trägers und der Gruppenbeziehung - ist schmerzvoll für die Seele, die dadurch eingeengt wird.

2. Kümmernisse. Sie beziehen sich auf die Gegenwart und werden manchmal mit «Befürchtungen» übersetzt. Wenn der Leser diesen [150] Ausdruck studiert, wird er feststellen, dass er nicht nur die Furcht vor dem Übel des Leidens bezeichnet, sondern auch die Angst vor dem Versagen des geistigen Körpers im Dienen. Beides verursacht Schmerz und Kummer und entspringt dem Erkennen des wirklichen Menschen, der sich seines Erbgutes bewusst wird.

3. Bange Ahnungen. Sie beziehen sich auf die Zukunft und sind jene Vorahnungen von Tod, Leiden und Not, die über so viele Menschen Gewalt haben. Es ist das Unbekannte mit seinen Möglichkeiten, das wir für uns und andere Menschen fürchten, und das bringt wiederum Leiden.

16. Leid, das noch bevorsteht, kann abgewendet werden.

Die Sanskritworte geben hier einen zweifachen Begriff wieder. Sie lassen sich erstens so auslegen, dass gewisse Arten künftiger «Trübsal» (wie es in einigen Übersetzungen heisst) dadurch vermieden werden können, dass der Mensch seine Energien in die richtige Ordnung bringt; dann sind infolge der geänderten Geisteshaltung schmerzliche Rückwirkungen nicht mehr möglich und alte «Strafen» sind nicht mehr zu erwarten, da er sein Wunschleben umgewandelt hat. Zweitens ist daraus zu entnehmen, dass ein Leben in der Gegenwart so gelebt werden kann, dass keine Ursachen in Bewegung gesetzt werden, die zu leidschaffenden Wirkungen führen. Diese zweifache Schlussfolgerung wird im Leben des Yogi eine zweifache Selbst-Disziplinierung bewirken: erstens die feste Entschlossenheit, stets Nicht-Anhangen zu pflegen, zweitens die ständige Disziplinierung der niederen Natur. Dadurch wird eine mentale Aktivität von solcher Art entwickelt, dass alte Neigungen, Sehnsüchte und Begierden keine Anziehungskraft mehr haben; und [151] es wird auch nicht mehr solchen Tätigkeiten und Wünschen nachgegeben, die späteres Karma oder leidvolle Wirkungen auslösen könnten.

Das Vergangene kann nur jetzt abgetragen werden, und man muss diese Art von Karma, das in seinem Ablauf Leiden, Sorgen und Nöte mit sich bringt, eben ertragen. Gegenwärtiges Karma oder das Auftreten der Wirkungen, die das Ego für diesen Lebenszyklus plant, muss bei der Freimachung der Seele ebenfalls seine Rolle spielen. Es ist dem geistigen Menschen jedoch möglich, den niederen Menschen so zu beherrschen, dass die karmisch bedingten Ereignisse (oder die Folgen, die sich in der physischen Welt auswirken) keinen Schmerz oder Kummer mehr auslösen, da sie von dem nichtverhafteten Yogi erkannt werden und er sich entsprechend verhält. Er wird auch darauf bedacht sein, keine weiteren schmerzerzeugenden Ursachen mehr zu schaffen.

17. Die Illusion, dass der Wahrnehmende und das Wahrgenommene ein und dasselbe sind, ist die Ursache (der leidschaffenden Wirkungen), die verhütet werden muss.

Dieser Lehrsatz bringt uns die grosse grundsätzliche Dualität der sichtbaren Schöpfung, die Vereinigung von Geist und Materie in Erinnerung. Es ist die gegenseitige Einwirkung dieser beiden Komponenten, die alle formbildenden Modifikationen oder Aktivitäten auf den verschiedenen Ebenen hervorruft und die Ursache der Begrenzung ist, die das reine Bewusstsein sich auferlegt hat. In einer so kurzen Erläuterung wie dieser ist es unmöglich, dieses Thema ausführlich zu behandeln. Nur soweit es den Menschen betrifft, soll es hier gestreift und wie folgt zusammengefasst werden: - Alles [152] Leid und alle Sorge wird dadurch verursacht, dass sich der geistige Mensch mit seinen objektiven Formen in den drei Welten und mit dem Reich der Erscheinungen identifiziert, in dem diese Formen ihr Wirkungsfeld haben. Wenn er sich vom Reich der Sinne loslösen und sich erkennen kann als «den, der nicht das ist, was gesehen, berührt und gehört wird», dann kann er sich freimachen von allen Begrenzungen der Form und dastehen als der göttliche Wahrnehmende und Handelnde. Er kann dann ganz nach Wunsch Formen benutzen, um bestimmte Vorhaben auszuführen, aber er betrachtet sie nicht als sich selbst. Der Yoga-Schüler sollte sich immer dessen bewusst sein, dass in den drei Welten (mit denen allein er in diesem Stadium zu tun hat) er der höchste Faktor bei den wohlbekannten Dreiheiten ist:

Der Wahrnehmende                  die Wahrnehmung                     das, was wahrgenommen wird.

Der Denker                                  der Gedanke                                die Gedankenformen.

Der Erkennende                         die Erkenntnis                              das Feld des Erkennens.

Der Seher                                     die Sehkraft                                  das, was gesehen wird.

Der Beobachter                           die Beobachtung                         das, was beobachtet wird.

Der Zuschauer                             das Schauen                                 das Schauspiel.

und viele andere ebenso bekannte Dreiheiten.

Das grosse Endziel des Raja Yoga ist die Befreiung des Denkers von den Modifikationen des Denkprinzips, so dass er nicht mehr aufgeht in der grossen Welt der Gedankenillusionen und sich nicht mehr identifiziert mit dem, was nur zur Erscheinungswelt gehört. Er ist dann frei und losgelöst und benutzt die Welt der sinnlichen Wahrnehmung als das Feld intelligenten Handelns, und nicht mehr als das Feld, um Experimente zu machen und Erfahrungen zu sammeln.

Man muss im [153] Auge behalten, dass die Wahrnehmungsmittel die sechs Sinne sind, also Gehör, Tastsinn, Gesichtssinn, Geschmackssinn, Geruchssinn und das Denkvermögen, und dass diese sechs überschritten und erkannt werden müssen als das, was sie sind. Die Sinnesorgane enthüllen die grosse Maya, die Welt der Illusion, die aus Formen jeder Art besteht; die Substanz dieser Formen muss hinsichtlich ihres atomaren und molekularen Aufbaus und ihrer Grundelemente, die dieser Substanz ihre spezifischen Unterschiede und Eigenschaften geben, erforscht werden. Dabei sollte der Studierende bedenken, dass er die Natur der folgenden Faktoren, die wir im Gegensatz zum Geist Materie nennen, erforschen muss:

1. Atome,

2. Molekulare Materie,

3. Die Elemente,

4. Die drei Gunas oder Qualitäten,

5. Die Tattvas oder Kraft-Differenzierungen in ihren sieben Formen.

Wenn er die Natur und die Unterschiede der Materie erkennt und versteht, begreift er auch die Welt der Formen, die seinen Geist so lange gefangen gehalten hat. Darauf weist Patanjali im nächsten Lehrsatz hin:

18. Das Wahrgenommene hat drei Qualitäten: Sattva, Rajas und Tamas (Rhythmus, Aktivität und Trägheit); es besteht aus den Elementen und den Sinnesorganen, deren Gebrauch Erfahrung bringt und schliesslich zur Befreiung führt.

Das ist einer der wichtigsten Lehrsätze des Buches, denn hier sind in ein paar kurzen Sätzen das Wesen der Substanz, ihre Struktur, [154] ihr Zweck und ihre primäre Ursache zusammengefasst. Der Betrachtung eines jeden Satzes könnte viel Zeit gewidmet werden. Die Worte «die Qualitäten», «die Elemente», «die Sinne», «Entwicklung» und «Befreiung» drücken die Gesamtsumme der Faktoren aus, die am Wachsen des Menschen beteiligt sind. Diese fünf Worte betreffen die menschliche Einheit am meisten, denn sie umfassen die lange Laufbahn des Menschen, angefangen von der ersten Menschwerdung, über den ganzen Kreislauf der Inkarnationen bis zu dem Zeitpunkt, da er durch die Tore der verschiedenen Einweihungen in das grössere Leben des Kosmos eingeht.

Zuerst kennzeichnet ihn Trägheit. Seine Formen sind von so schwerer und grober Art, dass viele und heftige Anstösse notwendig sind, ehe er sich seiner Umgebung bewusst wird und sie später richtig wahrnehmen kann. Die grossen Elemente Erde, Wasser, Feuer und Luft spielen ihre Rolle beim Aufbau seiner Formen und werden seinem ganzen Wesen einverleibt. Langsam werden seine verschiedenen Sinnesorgane wirksam. Zuerst die fünf Sinne; später, wenn die zweite Qualität, Rajas oder Aktivität, fest begründet ist, entfaltet sich allmählich auch der sechste Sinn, das Denkvermögen. Sodann beginnt er in allem, was ihn umgibt, die gleichen Qualitäten und Elemente wahrzunehmen, die in ihm selbst vorhanden sind. und sein Wissen nimmt immer mehr zu. Dann kommt er einen Schritt weiter: er erkennt den Unterschied zwischen sich, dem Wahrnehmenden, und dem, was er als seine Formen und ihre Daseinswelt wahrnimmt. Der sechste Sinn wird immer mehr vorherrschend und wird schliesslich vom wahren Menschen unter Kontrolle gebracht. Ein solcher Mensch kommt dann in den sattvischen Zustand, in dem er innerlich völlig ausgeglichen ist; folglich harmoniert [155] er auch mit allem, was ihn umgibt. Seine Daseinsform ist rhythmisch und im Einklang mit dem grossen Ganzen. Er sieht dem Schauspiel zu und sorgt dafür, dass die Formen, deren er sich in der Welt der Erscheinungen bedient, richtig beherrscht werden, und dass alle seine Handlungen mit dem grossen Plan übereinstimmen.

An diesem Punkt angelangt ist er ein Teil des Ganzen, schon frei und unbeschwert von der Herrschaft der Welt der Formen, der Elemente und der Sinne. Jetzt benutzt er sie, nicht mehr benutzen sie ihn.

19. Die Gunas (oder Qualitäten der Materie) haben ein vierfaches Wirkungsfeld: das Offensichtliche, das Subtile, das Angedeutete und das Unfassbare.

Es ist interessant, dass die drei Gunas oder Qualitäten der Materie (die Gesamtsumme der Attribute oder Aspekte der Substanz unseres Sonnensystems) in vier Bereiche aufgeteilt sind. In dieser siebenfachen Einteilung haben wir eine Analogie zu den Siebenfältigkeiten, die im ganzen Universum zu finden sind. Zuerst haben wir die wichtigsten drei Aspekte der Denk-Substanz:

1. Sattvische Substanz                                       Rhythmus, Gleichgewicht, Harmonie.

2. Rajasische Substanz                                      Beweglichkeit, Aktivität.

3. Tamasische Substanz                                   Beharrung, Festigkeit.

Diese drei gliedern sich in folgende Kategorien oder Stufen:

1. Das Offensichtliche                                        manifestierte Elemente, Formen.

2. Das Nicht-offensichtliche                             die Sinne, die Auswirkungen von Kräften, die Tanmatras.

3. Das Angedeutete                                           Ursubstanz, die Tattvas, atomare Materie.

4. Das Unfassbare                                             Das grosse Leben, die Gesamtheit von allem.

Dieser Lehrspruch [156] will die technischen Einzelheiten des Formaspekts der Manifestation behandeln, ob es sich nun um die Manifestation eines menschlichen Atoms oder einer solaren Gottheit handelt; er deutet einfach hin auf die naturgegebene Dreifaltigkeit der Substanz, auf ihr siebenfältiges Wesen und ihre verschiedenen Wandlungen. Er beschreibt das Wesen jenes göttlichen Lebensaspekts, der von den Hindus Brahma, und von den Christen Heiliger Geist genannt wird. Das ist der dritte Aspekt der Trinität, der Aspekt der wirkenden, intelligenten Materie, aus welcher der Körper Vishnus oder des kosmischen Christus aufgebaut werden soll, damit Shiva, der Vater oder Geist, ein Medium der Offenbarung hat. Es könnte deshalb nützlich sein, die Wesensart der vier Kategorien der drei Gunas anzugeben. Zuvor aber nennen wir die Synonyme für diese Gunas:

Die drei Gunas:

1. Die Qualitäten der Materie.

2. Die Aspekte der Denksubstanz oder des universalen Denkprinzips.

3. Die Attribute von Kraft-Materie.

4. Die drei Wirkkräfte.

Diese Dreiheiten sollten sorgfältig studiert werden, denn sie sind die Mittel, durch welche ein Bewusstsein in seinen verschiedenen Graden ermöglicht wird. Wir befassen uns hier mit der grossen Illusion der Formen, mit denen sich der wirkliche Mensch zu seinem eigenen Leid während des langen Kreislaufs von Inkarnationen identifiziert und von denen er letzten Endes befreit werden [157] muss. Ein noch umfassenderer Gedanke ist darin enthalten: Die Einkerkerung des Lebens eines Sonnen-Logos in die Form eines Sonnen-Systems, dessen entwicklungsgemässe Entfaltung durch das Medium dieser Form, und die schliessliche Vollendung und Freisetzung dieses Lebens von der Form am Ende eines grossen solaren Zyklus. Der kleinere Kreislauf des Menschen ist in dem grösseren enthalten, und sein Erfolg und die Art seiner Befreiung ist nur relativ im Verhältnis zum grösseren Ganzen.

1. Der offensichtliche Wirkungsbereich der Gunas.

Dieser äussere oder spezifizierte Wirkungsbereich der Gunas besteht aus sechzehn Abteilungen, die hauptsächlich mit den menschlichen Reaktionen auf die greifbare, objektive Welt zu tun haben.

a. Die fünf Elemente: Äther, Luft, Feuer, Wasser, Erde. Das sind die unmittelbaren Auswirkungen des inneren Tones oder Wortes.

b. Die fünf Sinnesorgane: Das Ohr, die Haut, das Auge, die Zunge, die Nase, also jene physischen Organe oder Kontaktmitte!, die es ermöglichen, dass sich der Mensch mit der dinghaften Welt identifiziert.

c. Die fünf Organe der Tätigkeit: Hände, Füsse, Sprachorgan, die Ausscheidungs- und Fortpflanzungsorgane.

d. Das Denkvermögen. Das ist der sechste Sinn, das Organ, das alle anderen Sinnesorgane zu einer Synthese vereinigt und schliesslich deren Gebrauch überflüssig machen wird.

Diese sechzehn Mittel der Wahrnehmung und Tätigkeit in der Erscheinungswelt sind Kommunikationsmittel für den wirklichen, denkenden Menschen; sie sind der Beweis für seine aktive Wirklichkeit und sind die Gesamtsumme der physischen Tatbestände, die [158] jeden verkörperten Gottessohn betreffen. In ihrer kosmischen Bedeutung sind sie die Gesamtsumme der Fakten, welche die Wirklichkeit einer kosmischen Inkarnation demonstrieren. «Das Wort ist Fleisch geworden» gilt im individuellen wie im kosmischen Sinn.

2. Der subtile Wirkungsbereich der Gunas.

Er besteht aus sechs Abteilungen, die mit dem zu tun haben, was dem offensichtlichen Bereich zugrundeliegt, was innerlich und ungreifbar ist; es betrifft die Entfaltung von Kräften, welche die sichtbaren Formen hervorbringen.

In den Schriften der Hindus werden sie fachmännisch Tanmatras genannt. Sie haben mehr mit dem Bewusstsein zu tun als mit der Form und sind die «besonderen Modifikationen der Buddhi oder des Bewusstseins» (Ganganatha Iha). Sie sind:

1. Das Element des Hörens oder das, was das Ohr erzeugt - die erste Anlage des Hörens.

2. Das Element des Fühlens oder das, was die Organe der Berührung (die Haut etc.) erzeugt, - der Ansatz für den Tastsinn.

3. Das Element des Sehens oder das, was das Auge erzeugt.

4. Das Element des Schmeckens oder das, was die Geschmackswerkzeuge hervorbringt.

5. Das Element des Riechens oder das, was die Riechorgane erzeugt. Hinter diesen fünf steht das sechste Tanmatra (oder die Modifikation des Bewusstseinsprinzips), das sogenannte «Persönlichkeitsgefühl», das Ich-Bewusstsein, das Ahamkara-Prinzip; dieses erzeugt das Gefühl der personellen Wirklichkeit und die Vorstellung, eine abgesonderte Bewusstseinseinheit zu sein. Es ist die Grundlage für die grosse «Ketzerei der Absonderung» und die Ursache davon, dass der wirkliche [159] oder geistige Mensch in die grosse Illusion hineingerät. Es ist das, was den Menschen äonenlang gezwungen hat, sich mit den Dingen der Sinne zu identifizieren; aber es ist auch das, was ihn schliesslich dazu führt, dass er Befreiung sucht.

3. Das Angedeutete.

Den sechzehn spezifischen und den sechs subtilen Bereichen liegt das zugrunde, was die Ursache von all diesem ist; es wird in den Hindu-Schriften Buddhi oder reine Vernunft genannt; es ist Erkenntniskraft ohne das niedere Denken, auch Intuition genannt, deren Wesen Liebe-Weisheit ist. Das ist das Christus-Leben oder Christus-Prinzip, das sich bei der Verkörperung (beim Annehmen einer Form, wie wir sie kennen) als das Sichtbare und das Subtile manifestiert. Bis jetzt ist es bei der Mehrheit der Menschen nur «angedeutet». Wir vermuten, dass es da ist. Durch Ausübung des Raja Yoga soll diese schwache Vermutung zum vollen Wissen werden, so dass die Theorie zur Tatsache wird und das Verborgene, gläubig Vermutete zur Gewissheit werden und als das erkannt werden kann, was es ist.

4. Das Unfassbare. Schliesslich kommen wir zum vierten Wirkungsbereich der Gunas oder Aspekte, zu dem, «in dem wir leben, weben und sind», dem unberührbaren, unbekannten Gott. Das ist die grosse Lebens- und Daseinsform, in der unsere kleinen Formen enthalten sind. Das ist die Gesamtsumme der denkenden Substanz, von der unser kleines Denkvermögen ein Teil ist; das ist die gesamte Schöpfung Gottes, die sich durch den kosmischen Christus manifestiert, von dem jeder kleine Gottessohn ein Teil ist. Das [160] Bewusstsein des Menschen kann dieses Unfassbare und Unbekannte jetzt noch nicht begreifen.

20. Der Seher ist reines Erkennen (Gnosis). Dennoch betrachtet er die dargestellte Idee durch das Medium seines Denkvermögens.

Die vorzügliche Übersetzung dieses Lehrspruchs durch Johnston ist bereits erwähnt worden; sie lautet: «Der Seher ist reines Schauen. Obwohl rein, sieht er dennoch das Erschaute durch die Hülle des Denkens». Ganganatha Iha hellt den Gedanken weiter auf, indem er sagt: «Der Schauende ist absolutes, reines Erkennen, das durch intellektuelle Vorstellungen erfolgt». Damit soll gesagt werden, dass der wahre Mensch, der Schauende, Wahrnehmende oder Denker, die Gesamtsumme aller Wahrnehmung ist, ob nun durch die Sinnesorgane oder durch das Verstandesdenken. Er ist an sich Wissen, klares Schauen oder richtige Wahrnehmung. Alles was in den drei Welten besteht, ist nur seinetwegen und für ihn da. Er ist die Ursache, dass es besteht; und wenn er es nicht mehr begehrt oder gar nicht sehen will, dann existiert es auch nicht für ihn. Dieser Lehrspruch ist einer der fundamentalsten dieses Buches, denn er gibt uns den Schlüssel für die gesamte Wissenschaft des Yoga. In seiner Formulierung sind gewisse Gedanken angedeutet, die das gesamte Wissensgebiet umfassen; der Studierende sollte ihm daher grösste Beachtung schenken. Er hat eine mantrische Wirkung, und wenn man ihn als Bekenntnis spricht und ständig anwendet, wird er uns schliesslich die Wahrheit des Ausspruchs bestätigen: «Wie der Mensch denkt, so ist er».

«Ich bin [161] reines Erkennen, trotzdem sehe ich dargestellte Ideen durch das Medium des Denkvermögens».

Wir haben hier:

1. Den Seher oder Zuschauer, der (von seinem göttlichen Standpunkt aus) diese Welt der Wirkungen, diese grosse Maja der Illusion betrachtet.

2. Die dargestellte Idee. Damit soll der Gedanke ausgedrückt werden, dass jede Form, die in dem grossen Panorama des Lebens in den drei Welten an dem Beschauer vorüberzieht, eine «dargestellte Idee» ist, dass also diese dargestellten Ideen verkörperte Gedanken irgendeiner Art sind und als solche betrachtet werden müssen. Die Aufgabe des Okkultisten besteht darin, sich mit den Kräften hinter jeder Form zu befassen, und nicht so sehr mit der Form, die nur die Wirkung irgendeiner Ursache ist. Diese zielstrebige Methode kann nur allmählich entwickelt werden. Von den Formen und ihrer rechtmässigen Bedeutung in seiner unmittelbaren Umgebung und in seiner eigenen winzigen Welt geht der Zuschauer allmählich weiter zu den verschiedenen Formen des Weltgeschehens, bis ihm die Welt der Ursachen offenbar wird und die Welt der Wirkungen einen untergeordneten Platz erhält.

Zuerst nimmt er die Formen in den drei Welten wahr. Dann erkennt er allmählich das, was sie verursacht hat und welche Art von Kraft sie ins Dasein gebracht hat. Später entdeckt er die Idee, die sich in der Form verkörpert, und indem er sie stufenweise auf ihren Ursprung weiter- oder zurückverfolgt, kommt er bis zu den grossen Lebensträgern, welche die Ursache der Manifestation sind. So tritt er heraus aus dem Reich des Gegenständlichen, heraus aus den mentalen, emotionalen und physischen Bereichen und kommt in die [162] Welt der Seele oder der inneren Ursache dieser dreifältigen sichtbaren Schöpfung. Das ist die Welt der Ideen und folglich des reinen Wissens, der reinen Vernunft und des göttlichen Denkbereichs. Später, in einem sehr fortgeschrittenen Zustand, kommt er schliesslich bis zu dem einen Lebenszentrum, in welchem die vielen Leben zu einer Synthese vereinigt sind, dem einen Willen, der die vielen Ideen zu einem gleichgerichteten Plan vereinigt.

3. Das Denkvermögen. Das ist das Instrument, welches der Seher benützt, um dargestellte Ideen oder Gedankenformen wahrzunehmen. Des besseren Verstehens wegen kann man die dargestellten Ideen in fünf Gruppen von Gedankenformen einteilen:

a. Die greifbaren, dinghaften Formen in der physischen Welt des täglichen Lebens. Mit diesen hat sich der Sehende in den frühen, vorgeschichtlichen Stadien des menschlichen Daseins lange Zeiten hindurch identifiziert.

b. Die Stimmungen, Gefühle und Begierden, die alle in der astralen Welt, der Welt der Gefühlsbewegungen, Formen haben.

c. Die Myriaden verschiedenartiger Gedankenformen, welche die Mentalwelt erfüllen.

Durch diese «dargestellten Ideen» erlangt der Seher ein Wissen über das Nicht-Selbst.

d. Die Gedankenformen, die er selbst schaffen kann, sobald er gelernt hat, sein Instrument, das Denkvermögen, zu beherrschen, und sobald er unterscheiden kann zwischen der täuschenden Welt der vorhandenen Ideen und jenen Wirklichkeiten, welche die Welt des Geistes ausmachen.

Durch diesen Werdegang kommt er zu einem Wissen über sich selbst. Während der ganzen Zeit seines Erfahrungslebens, da er das Nicht-Selbst kennenlernt und sein wahres Selbst erkennt, benutzt er seine Denkfähigkeit als Medium des Suchens, Erklärens und Ausdeutens, denn die Sinne und alle seine Kontaktmittel [163] telegraphieren dem Denkvermögen (über das kleinere Instrument des Gehirns) ständig Informationen und Reaktionen. Nachdem der Seher dieses Stadium erreicht hat, ist er fähig, das Denkvermögen in umgekehrter Weise zu benutzen. Anstatt seine Aufmerksamkeit auf das Nicht-Selbst oder die täuschende Welt der Wirkungen zu richten, und anstatt seine eigene niedere Natur zu erforschen, kann er nun, infolge der erreichten Gedankenkontrolle, zum fünften Stadium gelangen:

e. Er sieht die Ideen, die sich ihm in der Welt des geistigen Lebens, im Reich geistigen Wissens und im Reich Gottes im wahrsten Sinn darbieten.

Dadurch kommt der Seher zu einer wirklichen Erkenntnis Gottes und lernt das Wesen des Geistes verstehen. Das Denkvermögen dient dann einem dreifachen Zweck:

a. Der Seher sieht durch das Denkvermögen auf das Reich der Ursachen, das geistige Reich.

b. Durch das Denkvermögen kann die Welt der Ursachen in Begriffen des Verstandes gedeutet werden.

c. Durch den richtigen Gebrauch des Denkvermögens kann der Seher an das physische Gehirn des niederen persönlichen Selbstes (der Widerspiegelung des wahren Menschen in der Welt der Wirkungen) das übermitteln, was die Seele sieht und weiss. Dann bildet sich folgendes Dreieck und kommt in wirksame Tätigkeit: Erstens der Seher oder geistige Mensch, zweitens das Denkvermögen, sein Werkzeug des Erkennens oder das Fenster durch das er hinausschaut, (entweder auf die Welt der Wirkungen, auf sich selbst, oder auf die Welt der Ursachen) und drittens das Gehirn, die aufnehmende Platte, in die der Seher sein «reines Erkennen» einprägen kann, wobei er das Denken als Übersetzer und Übermittler benutzt.

21. Alles Erschaffene [164] besteht nur um der Seele willen.

Der Mensch sollte nicht so anmassend sein und diesen Lehrspruch so auslegen, als bestände alles Erschaffene für ihn. Der Sinn ist viel weiterreichend. Die Seele, die hier gemeint ist, ist die des höchsten Wesens, von dem die Seele des Menschen nur ein unendlich kleiner Teil ist. Die kleine Welt des Menschen, seine begrenzte Umwelt und seine unbedeutenden Kontakte bestehen um der Erfahrung willen, die sie ihm bringen, und wegen der schliesslichen Befreiung, die sie zustandebringen. Er ist der Anlass ihrer Manifestation, und sie sind das Ergebnis seiner eigenen Denkkraft. Aber um ihn herum und durch ihn ist jenes grössere Ganze zu finden, von dem er ein Teil ist; und das ganze riesige Universum (das planetarische und solare) besteht um dieser grösseren Lebenseinheit willen, in deren Körper er nur ein Atom ist. Die ganze Welt der Formen ist das Resultat der Denktätigkeit irgendeines Lebensträgers; das ganze materielle Universum ist der Erkenntnis- und Erfahrungsbereich für eine Wesenheit.

22. Für den Menschen, der das Ziel des Yoga (die Vereinigung) erreicht hat, besteht die äussere Welt nicht mehr; sie besteht indes weiter für jene, die noch nicht frei sind.

In diesem Lehrspruch haben wir die Grundlage der ganzen Wissenschaft des Denkens. Seine Voraussetzung gründet sich auf die Erkenntnis, dass alles, was wir sehen, Modifikationen der Denksubstanz sind, dass der Denkende - ob Gott oder Mensch - sich seine eigene Welt erschafft. Wenn einmal ein Mensch durch die Yoga-Wissenschaft (der Lehre die sich mit der «Unterjochung der Aktivität des Denkprinzips» oder mit der Gedankenbeherrschung befasst) völlige Gewalt über das Denken und über die mentale Substanz erreicht hat, dann ist er frei von der Herrschaft jener Formen, die den Grossteil der Menschen in den drei Welten gefangen halten.

Er steht [165] dann abseits von der grossen Illusion. Die Körper, die ihn bisher gefesselt haben, tun es nicht mehr; die grossen Ströme von Gedanken, Ideen und Wünschen, die durch die «Modifikationen des Denkprinzips» des inkarnierten Menschen entstehen, beherrschen oder beeinflussen ihn nicht mehr; und die Myriaden von Gedankenformen, die Wirkungen dieser Ströme in der mentalen, astralen und physischen Welt, schliessen ihn nicht mehr ab von den Wirklichkeiten (oder der wahren inneren Welt der Ursachen) und von den Kraftausstrahlungen. Er lässt sich nicht mehr täuschen, denn er kann zwischen dem Wirklichen und Unwirklichen unterscheiden, dem Wahren und Falschen, und zwischen dem Leben des Geistes und der Welt der Erscheinungen. Er wird dann empfänglich für die Gedankenströmungen und Ideen, die von grossen geistigen Wesen ausgehen; und der grosse Plan des Erbauers des Universums kann sich vor ihm entfalten. Er ist losgelöst und frei, und er ist nur den neuen Lebensbedingungen unterworfen, die für den gelten, der die grosse Einswerdung vollzogen hat. Die Gesetze der drei Welten sind nicht aufgehoben, sondern überschritten, denn das Grössere schliesst immer das Geringere ein; und obwohl er - um zu dienen - sich auf ein scheinbar dreidimensionales Leben beschränken mag, geht er dennoch hinaus in die Welt höherer Dimensionen, wenn er es will und wenn es für die Ausdehnung des Reiches Gottes nötig ist.

Das Ziel dieser [166] Yoga-Wissenschaft besteht darin, dem Menschen zu zeigen, wie er sich selbst befreien kann. Bis zu diesem Punkt lief daher die Lehre Patanjalis darauf hinaus, dem Menschen den Platz zu zeigen, den er im Gesamtplan einnimmt; die Ursache für die Ruhelosigkeit des Menschen und für seinen Drang zur Tätigkeit dieser oder jener Art anzugeben; den Grund für das Bestehen der grossen Welt der Wirkungen aufzuzeigen und den Aspiranten dahin zu bringen, die Welt der Ursachen zu erforschen. Damit soll also gezeigt werden, wie notwendig eine weitere Entfaltung ist und von welcher Art die Hindernisse sind, die dieser Entfaltung entgegenwirken bis der Mensch so weit ist, dass er sagt: Wenn das alles so ist, welche Mittel und Wege gibt es dann, diese Vereinigung mit dem Wirklichen zu erreichen und die grosse Illusion zu zerstreuen? Dieses zweite Buch gibt die acht grossen Mittel des Yoga an und beschreibt kurz und genau die Massnahmen, die für die Regelung des physischen, psychischen und mentalen Lebens erforderlich sind.

23. Die Verbindung der Seele mit dem Denksinn und folglich mit dem, was der Denksinn wahrnimmt, führt dazu, das Wesen des Wahrgenommenen und auch des Wahrnehmenden zu erkennen.

In diesem Lehrspruch wird die Aufmerksamkeit des Studierenden auf die grundlegende Fähigkeit gelenkt, die entwickelt werden muss - die Fähigkeit der Unterscheidung. Der Sinn und Zweck dieses Spruches ist daher völlig klar, die Gegensatzpaare Geist und Materie, Purusha und Prakriti, sind in eine enge Verbindung [167] gebracht worden, und diese Vereinigung muss von der Seele, dem wahrnehmenden Bewusstsein, erkannt werden. Durch diese Verbindung der Dualitäten lernt die Seele, der Denker, sowohl sein wahres Wesen (die geistige Natur) erkennen als auch das Wesen der Erscheinungswelt verstehen, die er wahrnimmt, mit der er in Verbindung kommt, und die er benutzt. Das Organ der Wahrnehmung ist die Denkfähigkeit samt den fünf Sinnen, und vom Standpunkt der Seele bilden sie ein einziges Instrument. Für eine lange Zeit und in vielen Inkarnationen identifiziert sich die Seele oder der Denker mit diesem Wahrnehmungsorgan, und in den Frühstadien auch mit dem, was er vermittels dessen wahrnimmt. Er betrachtet den physischen Körper, den er benutzt, als sich selbst, denn er sagt z.B. «Ich bin hungrig» oder «ich bin müde». Er identifiziert sich mit seinem Empfindungs- oder Wunschkörper und sagt: «Ich bin ärgerlich» oder «ich möchte Geld haben». Er identifiziert sich mit dem mentalen Werkzeug und betrachtet sich als so und so denkend. Diese Identifizierung ist es, die zu theologischen Differenzen und den verschiedenen Glaubenslehren und Sekten geführt hat, die es überall gibt. In der fünften Stammrasse, und besonders in der jetzigen fünften Unterrasse, erreicht diese Identifizierung ihren Höhepunkt. Es ist die Pira des persönlichen, nicht des geistigen Selbstes. Diese Erkenntnis der niederen Natur ist ein Teil des grossen Entwicklungsprozesses, aber ihr muss das Erkennen des Gegenpols folgen, des geistigen Selbstes. Diese Erkenntnis kommt dadurch zustande, dass die Seele anfängt, Unterschiede zu erkennen; zuerst theoretisch und verstandesmässig (darum ist die jetzige Ära der Kritik und des [168] polemischen Diskutierens von grossem Wert, denn sie ist ein Teil der grossen planetarischen Entwicklung des Unterscheidungsvermögens), und später praktisch. Dieses Unterscheidungsvermögen bewirkt schliesslich dreierlei:

1. Ein Erkennen des Unterschieds zwischen Geist und Materie.

2. Ein Begreifen des Wesens der Seele, die das Ergebnis dieser Vereinigung ist; sie ist der Sohn, der durch die Vereinigung von Vater-Geist und Mutter-Materie gezeugt wurde.

3. Eine Entwicklung, in der die Seele beginnt, sich mit dem geistigen Aspekt zu identifizieren und nicht mit der äusseren Welt der Formen. Dieses spätere Stadium wird durch die Praxis des Raja Yoga sehr unterstützt und beschleunigt. Deshalb hat sich die Hierarchie entschlossen, dem kritischen und urteilsfähigen Westen diese Lehre bekanntzugeben. Man darf hierbei nicht vergessen, dass die Seele während des Vereinigungsprozesses durch grosse Stadien hindurchgeht, und dass das Wort Yoga sich auf den gesamten Entwicklungsprozess der Monade bezieht. Diese wichtigen Stadien sind:

1. Die Vereinigung der Seele mit der Form und ihre Identifizierung mit dem Materie-Aspekt.

2. Die Vereinigung des denkenden Menschen (des eigenbewussten Spiegelbildes in den drei Welten) mit dem geistigen Menschen auf seiner eigenen Ebene.

3. Die Vereinigung des geistigen Menschen (des göttlichen Denkers) mit dem Vater im Himmel, mit der Monade oder dem Geist-Aspekt. Die erste Stufe umfasst den Zeitraum von der ersten Inkarnation bis zum Betreten des Probepfads. Die zweite Stufe erstreckt sich über die Periode des Probepfads bis zur dritten [169] Einweihung auf dem Weg der Jüngerschaft. Die dritte Stufe umfasst die letzten Strecken des Weges der Einweihung.

24. Die Ursache dieser Verbindung ist Unwissenheit oder Avidya, die überwunden werden muss.

Unwissenheit über das wahre Wesen der Seele und der Drang, ihr eigenes Wesen und ihre Kräfte herauszufinden, sind die Ursache dafür, dass sich die verkörperte Seele mit den Organen der Wahrnehmung und mit dem identifiziert, was diese wahrnehmen und in das Bewusstsein der Seele hereinbringen. Wenn die Seele wegen dieser Unwissenheit und deren Folgen das nicht finden kann, was sie sucht, kommt eine Zeit, da die Suche eine andere Form annimmt und die Seele selbst nach der Wirklichkeit sucht. Man könnte das folgendermassen ausdrücken:

Die Identifizierung mit der Welt der Erscheinungen und die Benutzung der nach aussen gerichteten Wahrnehmungsorgane erstreckt sich über die Periode, die der wahre Mensch in der sogenannten Vorhalle des Nicht-Wissens verbringt. Überdruss, Ruhelosigkeit und ein Suchen nach Selbst-Erkenntnis (oder Wissen von der Seele) kennzeichnet die Periode, die in der Halle der Belehrung verbracht wird. Erkenntnis, Bewusstseinserweiterung und Identifizierung mit dem geistigen Menschen kennzeichnen die Zeit, die in der Halle der Weisheit zugebracht wird. Die Ausdrücke: menschliches Leben, mystisches Leben und okkultes Leben beziehen sich auf diese drei Stadien.

25. Wenn die Unwissenheit beendet ist, weil keine Bindung mehr an das Wahrgenommene besteht, dann ist das die grosse Befreiung.

Während der Inkarnation ist der Seher, die Seele, in der Maja oder Grossen Illusion versunken. Er ist ein Gefangener seiner eigenen Gedankenformen und Gedankenschöpfungen, und auch der in [170] den drei Welten. Er betrachtet sich als einen Teil der Erscheinungswelt. Wenn er durch Erfahrung und Urteilskraft gelernt hat, zwischen sich und diesen Formen zu unterscheiden, kann der Befreiungsprozess weitergehen und schliesslich zu einem Höhepunkt kommen in der grossen Entsagung, die den Menschen ein für allemal von den drei Welten frei macht. Das ist eine stufenweise Entwicklung, die nicht auf einmal bewältigt werden kann; sie erstreckt sich über zwei Perioden:

1. Die Periode des Probepfads oder in der christlichen Ausdrucksweise: der Pfad der Läuterung.

2. Die Periode der Jüngerschaft in zwei Abschnitten:

a. Die Jüngerschaft an sich oder die unablässige Schulung und Disziplinierung, die dem persönlichen niederen Selbst von der Seele auferlegt und vom Lehrer oder Meister geleitet wird.

b. Die Einweihung oder die stufenweisen Erweiterungen des Bewusstseins, die der Jünger unter der Führung eines Meisters erlangt.

Bestimmte Worte beschreiben diesen zweifachen Vorgang:

a. Geistiges Streben (Aspiration).

b. Disziplinierung.

c. Läuterung.

d. Die Anwendung der Mittel des Yoga oder der Vereinigung.

e. Einweihung.

f. Klare Erkenntnis.

g. Vereinigung.

26. Der Zustand der Unfreiheit wird durch beständige Anwendung des Unterscheidungsvermögens überwunden.

Hier sind einige Worte über die Unterscheidungs- und Urteilsfähigkeit angebracht, denn sie ist die erste grosse Etappe auf dem Weg des Freiwerdens von den drei Welten. Da sie sich auf die [171] Erkenntnis der essentiellen Dualität der Natur gründet und die Natur als ein Ergebnis der Vereinigung der beiden Polaritäten - Geist und Materie - ansieht, ist die Anwendung des Unterscheidungsvermögens anfangs eine geistige Haltung, die eifrig gepflegt werden muss. Die Voraussetzung der Dualität wird als logische Grundlage für weiteres Arbeiten angenommen; und die Theorie wird erprobt in dem Bemühen, die Wahrheit zu beweisen. Der Aspirant akzeptiert dann endgültig den Standpunkt der höheren Polarität (den des Geistes, der sich als Seele oder innerer Herrscher kundtut), und versucht, in den Angelegenheiten des täglichen Lebens die Unterschiede zu erkennen zwischen der Form und dem Leben, zwischen der Seele und dem Körper, zwischen der Gesamtheit der niederen Manifestation (physischer, astraler und mentaler Mensch) und dem wirklichen Selbst, der Ursache der niederen Manifestation.

Er ist bestrebt, im täglichen Leben ein Bewusstsein des Wirklichen zu kultivieren und dem Einfluss des Unwirklichen entgegen zu wirken, und er dokumentiert dieses Bestreben in allen seinen Beziehungen und Angelegenheiten. Durch beharrliche, ununterbrochene Übung gewöhnt er sich daran, zwischen dem Selbst und dem Nicht-Selbst zu unterscheiden und sich mit geistigen Dingen zu befassen, nicht mit denen der grossen Maja oder der Welt der Formen. Dieses Feststellen der Unterschiede ist zuerst theoretisch, dann verstandesmässig, wird aber später wirklicher und greift in das Geschehen der emotionalen und physischen Welt ein. Schliesslich führt diese Methode dazu, dass der Mensch in eine völlig neue Dimension eindringt und sich mit einem Leben und einer Seinswelt identifiziert, die über den drei Welten menschlichen Bemühens liegt. Wenn er [172] so weit gekommen ist, wird ihm die neue Umgebung so vertraut, dass er nicht nur die Form kennt, sondern auch die innere Wirklichkeit erkennt, die das Dasein der Form hervorruft oder verursacht.

Dann geht er einen Schritt weiter, um die nächste grosse Eigenschaft zu kultivieren: Leidenschaftslosigkeit oder Begierdelosigkeit. Ein Mensch mag vielleicht fähig sein zu unterscheiden zwischen dem Realen und dem Wahren, zwischen der Substanz und dem Leben, das sie beseelt, - und dennoch mag es ihn nach dem Formdasein verlangen. Auch das muss überwunden werden, ehe vollkommenes Freisein erlangt werden kann. In einer der alten Schriften, die sich in den Archiven der Meister befinden, heisst es:

«Es genügt nicht, dass man die Methode kennt oder die Kraft fühlt, die das Leben von den Formen der Maja befreit. Es muss ein bedeutsamer Augenblick kommen, in dem der Jünger durch eine Anspannung des Willens und ein Wort magischer Macht den trügerischen Faden durchreisst, der ihn an die Form bindet. Gleich der Spinne, die den Faden, an dem sie sich in unbekannte Gebiete hinein gewagt hat, wieder in sich zurückzieht, so zieht sich der Jünger zurück von allen Formen in den drei Reichen des Daseins, die ihn bisher angelockt haben».

Dieser Kommentar verdient gründliche Betrachtung und kann in Verbindung gebracht werden mit dem Gedanken, der in dem okkulten Ausspruch enthalten ist: «Ehe ein Mensch den Pfad betreten kann, muss er selbst zu diesem. Pfad werden».

27. Die gewonnene Erkenntnis ist von siebenfacher Art und wird stufenweise erlangt.

Nach der Hindu-Lehre gibt es sieben Zustände des Bewusstseins. Der [173] sechste Sinn und sein Gebrauch bringen sieben Arten des Denkens zustande, oder (fachlich ausgedrückt): es gibt sieben Haupt-Modifikationen des Denkprinzips. Diese sind:

1. Verlangen nach Wissen. Dieses Verlangen treibt den verlorenen Sohn, die Seele, fort in die drei Welten der Illusion, oder (um noch weiter zurückzugehen) es ist das, was die Monade oder den Geist in die Verkörperung hinaussendet. Dieses Grundverlangen ist es, das alles Erleben verursacht.