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VORWORT

 

«Es ist [8] leicht zu zeigen, dass in der Wechselbeziehung zwischen Körper und Seele kein grösseres Rätsel vorliegt als in irgendeinem anderen Beispiel der Ursächlichkeit, und dass nur die falsche Eingebildetheit, dass wir von der einen Frage etwas begreifen, unser Erstaunen erregt, dass wir von der anderen nichts verstehen.»

Rudolf Hermann Lotze

«Die Bedeutung, die von der zentralen Hoffnung des Ich's herabsteigt, umhüllt den Körper; er wird zu einer Ansammlung von Bedeutungen und nicht nur zu einer Ansammlung von Zellen. Seine Organe sind keine blossen Tatsachen, sondern gefährliche und tiefgründige Symbole. Er wird als Ganzes zu einem Gegenstand von Wert, von Schönheit oder Missgestaltung, der Anmut und des Mechanismus, von einer schweigenden Philosophie; und Haltungen des Stolzes und der Scham, das unendliche Interesse der Kunst, die vielseitige Bedeutung des Tanzes werden alle verständlich. Haltung, Gebärden und eine Million subtiler ausdrucksvoller Veränderungen von Farbe und Spannung werden zu unmittelbaren, unbeabsichtigten Manifestationen des inneren Spieles. Poesie und Moralität, Religion und Logik gewinnen von neuem ihren Platz sowohl in unseren Gliedern als auch in unserem Denken, und der Welt kommt die konkrete Einheit, derer unsere Analysen uns zu berauben drohten, wieder zum Bewusstsein.»

Hocking, Wm. E.: Self, Its Body and Freedom            -          (Das Ich, sein Körper und seine Freiheit), S. 97

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VORWORT

Unsere Haltung dem philosophischen und psychologischen Denken des Ostens gegenüber ist grösstenteils entweder die einer kritiklosen Ehrfurcht oder eines ebenso kritiklosen Misstrauens. Dies ist bedauerlich. Die Anbeter sind ebenso schädlich wie die misstrauischen Menschen. Keiner von beiden bringt uns einer gerechten Bewertung jener grossen Masse östlichen Denkens näher, das sich so seltsam von unserem eigenen Denken unterscheidet und das doch, wie man nach einiger Zeit entdeckt, in seiner wesentlichen Forschung so grundsätzlich gleichartig ist.

Gerade diese kritiklose Haltung ist zweifellos schuld daran, dass das östliche Denken in unseren philosophischen und psychologischen Büchern nahezu gänzlich ausgelassen wird, - diese Tatsache und noch etwas anderes. Der Osten hat seine eigenen Idiome, die dem Westen schwer verständlich sind. Wenn sie nicht übersetzt werden, geben sie den Anschein, dass die östlichen Schriften ein seltsames Kauderwelsch entweder einer verwirrten dichterischen Verherrlichung oder einer Selbst-Mystifikation sind.

Frau Bailey hat der Menschheit in diesem Buch den grossen Dienst erwiesen, östliches Denken kritisch zu erwägen, eine Erwägung, die anzuerkennen bereit ist, dass das östliche ebenso wie das westliche Denken keinen Anspruch auf der Weisheit letzten Schluss erheben kann. Sie kommt nicht mit Ehrfurcht erweckendem Gewand und einer Geste, welche die Bewohner des Westens auffordert, ihre unreifen Unzulänglichkeiten aufzugeben, um eine geheimnisvolle Lehre anzunehmen, die um so wunderbarer ist, weil sie ihm absurd erscheinen mag. Sie sagt tatsächlich: «Die Bedeutung [10] des östlichen Denkens liegt in einem Erforschen der tieferen Probleme des Daseins. Es ist nicht unbedingt besser als das westliche Denken. Es ist anders. Es tritt auf eine andere Weise an die Fragen heran. Sowohl der Osten als auch der Westen haben ihr Denken spezialisiert. Deshalb besitzt jeder von ihnen den Wert seiner eigenen Aufrichtigkeit und seines ihm eigenen Hindurchdringens. Aber Spezialisierung ist nur dann von Wert, wenn sie zu schliesslicher Integrierung führt. Ist es nicht an der Zeit, Osten und Westen auf diesem tiefsten Gebiet des Lebens eines jeden von ihnen zusammenzuführen, nämlich auf dem Gebiet ihres philosophischen und psychologischen Denkens?»

Selbst wenn dieses Buch einzig und allein nicht nur den Versuch machte, dem Westen den Osten und dem Osten den Westen auszudeuten, sondern auch die beiden Gedankengänge in die Harmonie eines einzigen Gesichtspunktes zu bringen, ist es von Bedeutung. Es bleibt dem Leser überlassen, zu entscheiden, ob es diese Integrierung erfolgreich herbeigeführt hat. Aber der Versuch ist bemerkenswert und sollte eine intelligentere Annäherung beider Arten des Denkens zum Ergebnis haben.

Was diesem Buch jedoch seine besondere Bedeutung verleiht, ist der einzigartige Vergleich, den die Verfasserin zwischen dem westlichen Studium der Drüsen und dem östlichen Studium der «Zentren» anstellt. Der westliche Philosoph Spinoza bemerkte vor langer Zeit den untrennbaren Parallelismus zwischen dem, was er Körper und Denkaspekt im Leben des Absoluten nannte, und im Leben jener Ausdrucksformen des Absoluten, die wir Einzelwesen nennen. Wenn ein solcher Parallelismus existiert, wird man erwarten, für jede äussere Manifestation die innere oder psychische [11] Kraft, die sich auf diese Weise manifestiert, zu finden. Bisher haben wir die Voraussetzung des Inneren und Äusseren nur in ganz verallgemeinerter Weise angenommen. Dadurch, dass dieses Buch sich hauptsächlich auf das Studium der Drüsen konzentriert, die sozusagen die Schrittmacher unserer Persönlichkeit sind, stellt es die Körper-Denkaspekt-Beziehung auf eine Weise dar, die nicht nur unerwartet reich an Vorschlägen für eine angepasstere Ausbildung des Einzelwesens ist, sondern auch faszinierende Möglichkeiten für weitere Forschung eröffnet. Im Westen sprechen wir von der Schilddrüse oder den Nebennieren gänzlich im Sinn ihres physiologischen Verhaltens. Ist ebenfalls ein psychisches Gegenstück dieses Verhaltens vorhanden? Das scheint eine merkwürdige Frage zu sein und eine Frage, die beim ersten Blick seitens der physiologischen Wissenschaftler verspottet werden würde. Und doch sprechen wir, wenn wir keine verkalkten Dogmatiker sind, die noch nicht aus der Dunkelheit des Materialismus des neunzehnten Jahrhunderts aufgetaucht sind, von dem psychischen Gegenstück jenes physiologischen Organs, das wir Gehirn nennen. Warum sollte es dann keine psychischen Gegenstücke der Schilddrüse, der Nebennieren und der übrigen Drüsen geben?

Wenn wir diese Frage bis zu ihrem logischen Ende verfolgen, werden wir es zweifellos lernen, unser Denken in bezug auf das, was das psychische Leben des einzelnen ist, weit über den ziemlich naiven intellektualistischen Standpunkt hinaus zu erweitern, der die Ansicht vertritt, dass das Leben ausschliesslich im Gehirn konzentriert ist.

Es ist nicht meine Aufgabe, für die versuchsweisen Schlussfolgerungen, zu denen die Verfasserin des Buches gelangt, zu sprechen. Die speziellen Schlussfolgerungen mögen einer Abänderung oder sogar einer Zurückweisung bedürfen. Aber ich hege absolut keine Zweifel, dass die Verfasserin neue Möglichkeiten erschlossen [12] hat, die schliesslich zu physiologischer und psychologischer Forschung führen mögen, die von tiefer Bedeutung sein wird. Das Buch ist nicht nur herausfordernd, sondern einzigartig aufklärend. Es wird das westliche Denken überraschen, aber ich denke, dass die Überraschung mit einer wirklich echten Bewunderung für Prozesse östlichen Denkens vermischt sein wird, mit denen wir im Westen viel zu wenig vertraut sind.

New York City

Mai 1930

H. A. OVERSTREET

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