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KAPITEL II - Teil 2

Ich erinnere mich kaum noch an irgend etwas Wichtiges, was sich während dieser ersten Wochen in Meerut ereignete, aber meine wirkliche Erfahrung begann in Quetta. Meine Arbeit im Soldatenheim in Quetta ist mir als eine der interessantesten Phasen meiner Betätigung im Gedächtnis geblieben. Ich liebe Quetta. Es liegt ungefähr 1500 Meter hoch, ist im Sommer sehr heiss und trocken und im Winter sehr kalt. Trotzdem mussten wir damals selbst bei bitterster Kälte Tropenhelme tragen. Wie ich höre, trägt man heute kaum noch Tropenhelme; zwei meiner Töchter, die mit ihren Männern jahrelang in Indien weilten, trugen sie selten und lachten über meine Idee, aber zu meiner Zeit waren sie vorgeschrieben.

Quetta ist die grösste Stadt in Belutschistan, und Belutschistan ist eine Art Pufferstaat zwischen Indien und Afghanistan. Ich hielt mich dort fast zwei Jahre auf, allerdings mit Unterbrechungen, da ich verschiedene Male nach Indien hinunter musste und dabei die Sindwüste fünfmal durchquerte. Belutschistan hat wenig Vegetation, ausser Wacholderbäumen, und erst wenn das Land bewässert wird, kann etwas wachsen. Ich habe selten anderswo schönere Rosen gesehen als in Quetta, und zu meiner Zeit prangten sie in jedem Garten. Im Frühling schwelgt die ganze Landschaft in Chrysanthemen, und später kommen die Sonnenblumen. Damit ist eine Geschichte verknüpft. Eines Sonntags nachmittag sprach ich in meiner Bibelstunde in Quetta und erzählte den Soldaten, wie das menschliche Wesen sich ganz natürlich und normalerweise zu Gott wendet. Ich benutzte die Sonnenblume als Beispiel dafür und wies darauf hin, dass sie deshalb ihren Namen trägt, weil sie sich stets dorthin wendet, wo die Sonne gerade am Himmel steht. Am nächsten Morgen kam ein Soldat an die Tür unseres Wohnzimmers und fragte mich mit sehr ernster Miene, ob ich nicht vielleicht einen Augenblick in den Garten kommen könne. Ich folgte ihm, und ohne ein Wort zu sagen, zeigte er auf die Sonnenblumen. Jede einzelne davon, und es waren ihrer Hunderte, stand mit dem Rücken zur Sonne.

In Quetta war es, wo ich zum erstenmal eine Verantwortung zu tragen hatte und wo ich mehr oder weniger auf mich selbst gestellt war, obwohl Miss Clara Shaw bei mir war. Die Mannschaften hatten sich im dortigen Soldatenheim derart eingenistet, dass sie ernstlich ausser Kontrolle gerieten. Die leitende Dame bekam es vermutlich mit der Angst zu tun, obwohl sie wahrscheinlich nicht so viel Angst hatte wie ich. Eine Soldatenbande machte sich Abend für Abend einen besonderen Spass daraus, den Laden auf den Kopf zu stellen. Etwa zwanzig von ihnen kamen zusammen aus der Kaserne, gingen in die Kantine, bestellten sich Kakao und Spiegeleier und verbrachten dann die übrige Zeit damit, die Kakaotöpfe mitsamt den Eiern gegen die Wände zu schleudern. Was dabei herauskam, kann man sich vorstellen. Es herrschte ein wüstes Durcheinander, aber das Benehmen der Soldaten war noch schlimmer. Ich wurde also hingeschickt, um zu sehen, was sich dagegen tun liess. Ich war einfach entsetzt und wusste mir keinen Rat. Die ersten paar Abende ging ich zwischen der Kantine und den Leseräumen hin und her, aber nur um festzustellen, dass meine Gegenwart sie nur noch schlimmer machte. Es wurde das Gerücht verbreitet, dass ich ein ausgekochtes, junges Ding sei und sie wahrscheinlich bei den Behörden anzeigen würde. Sie wollten mir's also zeigen.

Nachdem ich wenigstens festgestellt hatte, wer daran beteiligt war und wer die Rädelsführer waren, sandte ich eines Morgens eine Ordonnanz in die Kaserne, um diejenigen, die gerade dienstfrei waren, zu einer bestimmten Stunde ins Soldatenheim einzuladen. Zufällig hatte keiner von ihnen Dienst und reine Neugierde brachte sie alle zur Stelle. Als sie ankamen, lud ich sie in Gharris, packte alle Vorräte zu einem Picknick dazu und fuhr mit ihnen an einen Platz, der damals Woodcock Spinney hiess. Es war ein herrlicher, heisser, klarer Tag, und die Tatsache, dass dieser Platz damals von giftigen Schlangen verseucht war, machte uns scheinbar nichts aus. Dort kochten wir Tee und erzählten alberne Geschichten; wir gaben einander Rätsel auf und sprachen nicht ein einziges Mal über Religion; ich erwähnte auch nichts von ihren Missetaten, und als es dann Abend wurde, gingen wir nach Hause. Ich hatte kein Wort des Tadels, der Kritik oder der Erörterung fallen gelassen und auch keine Bitte ausgesprochen. Die Leute waren darüber offensichtlich verwundert. Auch später in der Kantine sagte ich nichts, sie gingen - immer noch erstaunt - in die Kaserne zurück. Am nächsten Nachmittag kam einer unserer Kantinenleiter und bat mich, einen Augenblick hinüberzukommen. Da fand ich all diese Leute damit beschäftigt, die Wände zu säubern und frisch zu übermalen, die Fussböden zu waschen und den Raum schöner zu machen, als er je gewesen war. Ich fragte mich: war ich zu eingeschüchtert, um die Sache zur Sprache zu bringen oder war ich einfach gescheit? So jedenfalls spielte sich die Episode ab, ohne dass ich einen bestimmten Plan entworfen hatte.

Ich lernte viel daraus. Ich bewies mir selbst, zu meiner grossen Überraschung, dass Verstehen und Liebe beim einzelnen Erfolg haben, wenn Tadel und Anschuldigen nichts ausrichten. Ich hatte mit dieser Bande nie mehr Schwierigkeiten. Einer von ihnen ist heute noch mein Freund, obwohl ich alle anderen aus den Augen verloren habe während der vierzig Jahre, die seitdem vergangen sind. Dieser Mann besuchte mich, als ich im Jahr 1934 in London war, und wir sprachen von jenen fernen Tagen. Es ging ihm gut. Ich machte jedoch eine überraschende Entdeckung. Diese Leute hatten sich nicht durch mein beredtes Predigen oder durch die Betonung theologischer Vorstellungen vom erlösenden Blut Jesu zu etwas Besserem bewegen lassen, sondern einfach durch Liebe und Verstehen. Ich hatte nicht geglaubt, dass das möglich wäre. Ich hatte noch zu lernen, dass Liebe der Leitgedanke der Lehre Christi ist, und dass es seine Liebe und sein Leben ist, was erlöst, und nicht irgendwelche wilden theologischen Verkündungen über die Furcht vor der Hölle.

Während meiner Indienzeit gab es noch manche kleinen Zwischenfälle, von denen ich erzählen könnte, aber sie sind wahrscheinlich von grösserem Interesse für mich als für andere. Ich ging von einem Heim zum anderen, überprüfte die Bücher, unterhielt mich mit den Heimleitern, hielt endlose religiöse Versammlungen ab, sprach mit den Soldaten über ihr Seelenheil oder ihre Familien, besuchte sie in den Militärlazaretten und beschäftigte mich mit den vielen Problemen, die sich ganz natürlich ergeben, wenn Hunderte von Männern, fern von der Heimat, in einem heissen Klima und einer ihnen fremden Zivilisation leben müssen. Ich wurde bei vielen Regimentern gut bekannt. Ich habe sie mir einmal zusammengezählt und stellte fest, dass ich in Irland und Indien bei vierzig Regimentern gearbeitet hatte. Manche von ihnen hatten einen besonderen Namen für mich. Ein bekanntes Kavallerie-Regiment nannte mich «Ganny» (Oma). Ein Garderegiment redete mich aus irgendeinem Grund stets mit «China» an. Ein sehr bekanntes Infanterie-Regiment sprach oder schrieb von mir als die B. O. L. und meinte damit «Benelovent Old Lady» (wohlwollende alte Dame). Die meisten Jungen nannten mich bloss «Mutter», wahrscheinlich, weil ich so jung war. Mein Briefwechsel wurde immer umfangreicher und ich wurde im Lauf der Zeit mit der Gedankenwelt eines Soldaten sehr vertraut. Nie fand ich, dass sie so sprechen, wie Rudyard Kipling es beschreibt. Der durchschnittliche Tommy Atkins ist über die Art, wie er von ihm dargestellt wird, geradezu beleidigt.

Ich spielte Tausende von Dame-Partien und erlangte darin allmählich grosse Gewandtheit, nicht weil ich nach wissenschaftlichen Grundsätzen spielte, sondern weil ich unheimlich gut erraten konnte, was mein Gegner tun würde. Den Geruch von Kakao und Spiegeleiern hatte ich stets in der Nase. Im Lesesaal pflegte ich die populären Schlager auf dem Klavier nach Gehör zu begleiten, bis mir davon todübel wurde, und ich einfach nicht mehr hören konnte wie die Leute dazu gröhlten: «Wie ein Efeu, häng, ich an dir» oder «Alle kleinen Stiefmütterchen, schau'n mich an und lächeln», was damals in aller Munde war. Für die Worte des Textes hatten die Leute allerdings ihre eigenen Abwandlungen, die ich nach Möglichkeit überhörte, um nicht dagegen einschreiten zu müssen. Ich spielte stundenlang Choräle auf dem Harmonium und kannte sie fast auswendig. Ich hatte damals eine recht gute und sehr geschulte Mezzo-Sopranstimme von grossem Umfang, verlor sie aber beim Singen in den stark verräucherten Räumen. Ich glaube, ich verkaufte mehr Zigaretten als ein Tabakladen. Es machte mir viel Freude, bei den Versammlungen die Choräle vorzusingen. Soldaten kennen keine Ehrfurcht, und ich merkte bald, dass sie «Wie ein Vogel flieg, ich zum Brunnen» meinten, wenn sie nach dem «Hühner-Choral» verlangten. In ähnlicher Weise erfanden sie ihre eigenen Bezeichnungen für manches andere Lied, und viele davon waren wenig andächtig, um es gelinde auszudrücken. Wir benutzten das Gesangbuch von Moody und Sankey, das sich durch wirklich schöne und einschmeichelnde Melodien auszeichnete, wenn es auch vom poetischen und literarischen Standpunkt aus unter aller Beschreibung war.

Ich weiss noch, wie ich eines Abends in Chakrata einmal einen Choral angesagt und mir dabei einen nicht gerade andachtsvollen Scherz über einen seiner Knüppelverse erlaubt hatte. Ich sah plötzlich auf und entdeckte in der hintersten Reihe einen General mit seinem Adjutanten und seinem Stab, der zur Besichtigung des Soldatenheims gekommen war und mal sehen wollte, was wir eigentlich machten. Mit einigem Erstaunen fanden diese Herren eine junge Frauensperson in weissem Kleid mit blauer Schärpe, die anscheinend keine besondere Ehrfurcht für Religion zeigte und jedenfalls nicht der Vorstellung entsprach, die sie von einer Evangelistin hatten. Ich möchte jedoch hier bemerken, dass die Offiziere der verschiedenen Regimenter immer äusserst nett zu mir waren. Ich war in meinem damaligen Leben (das heute so weit zurückliegt) wohl nie so masslos eingebildet, als wenn ich beim Verlassen der Kirche nach der Kirchenparade, von den Offizieren und Mannschaften gegrüsst wurde. Die freudige Erregung ist mir noch heute in Erinnerung.

Ich verbrachte meine charakterbildenden Jahre fast ausschliesslich unter Männern. Oft sprach ich wochenlang mit keiner Frau, ausser der Mitarbeiterin, die mir zu meinem Schutz beigegeben war. Ich muss offen gestehen, dass ich bis zum heutigen Tag kein Verständnis für weibliches Denken habe. Das ist natürlich eine grosse Verallgemeinerung, die deshalb nicht immer ganz zutrifft. Ich habe auch Freundinnen und bin ihnen sehr zugetan, aber im grossen ganzen ziehe ich maskulines Denken vor. Mit einem Mann kann man gelegentlich in ernste Schwierigkeiten geraten, während eine Frau einem ständig alberne kleine Schwierigkeiten in den Weg legen kann, und damit geb ich mich einfach nicht ab. Ich bin wohl keine Frauenrechtlerin, aber ich weiss, dass einer Frau, die wirklich etwas in sich hat und intelligent ist, die höchsten Stellungen offen stehen.

Morgens widmete ich mich gewöhnlich meinen Bibelstudien, denn ich musste durchschnittlich fünfzehn Versammlungen pro Woche abhalten sowie die laufenden Korrespondenzen erledigen und die Verhandlungen mit den Geschäftsführern leiten; und ausserdem raufte ich mir die Haare aus über die Buchführung, denn ich lernte es einfach nie, mit Zahlen umzugehen. Wir hatten jeden Morgen fünf- oder sechshundert Mann in der Kantine abzufüttern, und das bedeutete viel Einkaufen und Verkaufen. Meine Nachmittage verbrachte ich gewöhnlich in einem Lazarett, meist in den Sälen ohne weibliche Schwestern, denn dort wurde ich am meisten gebraucht. Ich ging dann in diesen grossen Militärlazaretten von einer Krankenbaracke zur anderen, beladen mit Schriften, Drucksachen und Büchern und natürlich auch mit den unvermeidlichen Traktätchen. Von letzteren sind mir nur zwei in Erinnerung geblieben. Das eine hiess: «Warum die Biene die Mutter stach» (ich kam niemals darauf, warum) und das andere: «Einfache Worte für einfache oder unansehnliche (engl. «plain») Leute» und ich fragte mich immer, warum die gut aussehenden davon ausgenommen waren.

Ich wurde in den Lazaretten ziemlich bekannt, und Militärpfarrer aller Richtungen liessen mich ständig holen, wenn einer der Jungens im Sterben lag; und wenn ich auch sonst nichts helfen konnte, so sass ich wenigstens am Bett und hielt seine Hand. Während ich so bei diesen Leuten sass und zusah, wie sie ins Jenseits hinübergingen, da lernte ich eine wichtige Lektion: die Natur oder Gott sorgt zu dieser Zeit für diese Leute, und gewöhnlich sterben sie ganz unerschrocken und sind oft froh, dass sie gehen können. Oder sie befinden sich in einem Dämmerzustand und sind physisch ohne Bewusstsein. Nur zwei von den Männern, an deren Sterbebett ich sass, benahmen sich anders. Einer, in Lucknow, starb, während er Gott und seine Mutter verfluchte und das Leben verwünschte, und der andere war ein schrecklicher Fall von Tollwut. Der Tod ist nicht so schrecklich, wenn man ihm direkt ins Gesicht sieht. Oft erschien er mir wie ein liebevoller Freund, und ich hatte nie das geringste Gefühl, dass etwas Wirkliches und Wesentliches zu Ende ginge. Ich wusste nichts von psychischer Forschung oder vom Gesetz der Wiedergeburt, und dennoch war ich selbst in jenen orthodoxen Tagen davon überzeugt, dass es sich um einen Übergang zu einer anderen Betätigung handelte. In meinem Unterbewusstsein glaubte ich wirklich nie an eine Hölle, und viele von den Leuten, die im christlichen Sinn orthodox sind, hätten dorthin gehört.

Ich beabsichtige nicht, eine Abhandlung über den Tod zu schreiben, aber ich möchte hier eine Definition anführen, die mir immer angemessen erschien. Der Tod «ist eine Berührung durch die Seele, die für den Körper zu stark ist»; er ist ein Ruf des Göttlichen, der keine abschlägige Antwort duldet; er ist die Stimme der inneren Geistigen Identität, die da sagt: «Kehre vorübergehend zu deinem Zentrum oder deiner Quelle zurück und denke über die gemachten Erfahrungen und erfassten Lehren nach, bis es Zeit wird, zu einem neuen Zyklus des Lernens, des Fortschritts und der Bereicherung zur Erde zurückzukehren.»

So ging ich ganz in meiner Arbeit und in deren Rhythmus auf, und ich fühlte mich äusserst wohl dabei, obwohl es mir gesundheitlich nicht gut ging und ich unter recht heftiger Migräne litt. Trotz dieser Kopfschmerzen, die mich manchmal tagelang plagten, raffte ich mich immer wieder auf und tat, was zu tun war. Wie bereits erwähnt, hatte ich mich mit Problemen abzugeben, denen ich nicht gewachsen war, und einige davon waren recht tragischer Natur. Ich hatte so wenig Lebenserfahrung, dass ich mir nie sicher war, ob eine getroffene Entscheidung die beste und richtige war. Ich musste zu Situationen Stellung nehmen, mit denen ich auch heute nur ungern zu tun haben möchte. Einmal suchte ein Mörder, der gerade seinen Kumpan erschossen hatte, bei mir Zuflucht, und ich musste ihn der Justiz übergeben, als die Polizei kam und seine Auslieferung von mir verlangte. Ein anderes Mal machte sich ein Geschäftsführer eines unserer Heime mit dem ganzen Kassenbestand aus dem Staub, und ich verbrachte die Nacht damit, ihm längs der Bahnlinie nachzujagen. Dabei ist zu bedenken, dass sich so etwas damals einfach nicht schickte, und mein Benehmen war vom Standpunkt der Frau Grundy aus nahezu unverzeihlich.

Eines Morgens wachte ich in Luchnow unter dem starken Eindruck des Gedankens auf, ich müsste sofort nach Meerut reisen. Ich hatte eine freie Rundfahrkarte erster Klasse auf der Great Indian Peninsula Railroad (G. I. P.), und damit konnte ich nach Belieben in ganz Nordindien frei herumfahren. Meine Mitarbeiter versuchten, mich von der Reise abzuhalten, aber ich hatte das Gefühl, dass man mich brauchte. Als ich in Meerut ankam, stellte sich heraus, dass einer der Geschäftsführer einen Sonnenstich erlitten hatte, mit dem Kopf auf einen Balken aufgeschlagen war und den Verstand verloren hatte. Ich fand seine Frau und sein Kind in völliger Verzweiflung. Der Mann hatte einen krankhaften Trieb zum Selbstmord entwickelt und der Doktor warnte mich, dass er auch für andere gefährlich werden könnte. Seine junge Frau und ich betreuten ihn zehn Tage lang, bis ich seine Überfahrt nach England arrangieren konnte, wo er sich schliesslich wieder erholte.

Ein anderer Geschäftsführer wurde schwermütig und drohte andauernd mit Selbstmord. Ich beobachtete ihn eine Zeitlang, und als mir seine ständigen Drohungen zum Hals heraus wuchsen, holte ich schliesslich ein grosses Küchenmesser und bat ihn, er solle doch endlich aufhören, davon zu reden und handeln. Als er das Messer sah, bekam er Angst, und dann überreichte ich ihm eine Fahrkarte nach England. Einige dieser Leute unterlagen dem Klima, der Einsamkeit und den allgemeinen Beschwerden der damaligen Lebensverhältnisse in Indien. Wir wussten damals wenig von Psychologie, und es kam deshalb kaum zu einer Behandlung der mentalen Probleme dieser Leute. Das waren so einige Situationen, in die ich eingreifen musste und denen ich einfach nicht gewachsen war. Dieser ständige Druck unvorhergesehener Ereignisse war am Ende die Ursache meines Zusammenbruchs. Daneben ereignete sich natürlich auch manches Erfreuliche. Es gelang mir, die Leute an die Heime zu fesseln und von den üblen Bezirken fernzuhalten. Ich schrieb das damals meiner geistigen Macht und Redegewandtheit zu. Heute halte ich die Begründung für wahrscheinlich, dass ich jung und vergnügt war und keine Konkurrenz hatte. Es war eben sonst niemand da, mit dem die Leute hätten reden können, abgesehen von den Damen in den Soldatenheimen. Auch hatte ich wohl die Gabe, die Leute fühlen zu lassen, dass ich sie gern mochte und das war auch der Fall.

Während meines Aufenthalts in Indien kehrte ich dreimal nach England zurück, weil man die lange Seereise von drei Wochen für meine Gesundheit als heilsam erachtete. Ich werde nie seekrank und fühle mich auf See immer recht heimisch. Auf einer dieser Reisen verbrachte ich drei Wochen mit der Überfahrt, blieb eine Woche in Irland, eine in Schottland und eine in England, worauf ich erneut an Bord ging, um nach Indien zurückzukehren. Ich habe insgesamt viele Tage und Monate auf See verbracht. Wie oft ich über den Atlantik gefahren bin, weiss ich heute gar nicht mehr.

Während all dieser Zeit predigte ich ständig und mit Nachdruck die altväterliche Religion. Ich blieb erschreckend orthodox, oder - wie man heute lieber sagt - gedankenlos bibelgläubig, denn kein wortgläubiger «Fundamentalist» gebraucht sein Denkvermögen. Ich hatte mancherlei Diskussionen mit freidenkenden Soldaten und Offizieren, blieb aber mit dogmatischer Hartnäckigkeit bei der kirchlichen Lehre, dass niemand erlöst werden und in den Himmel kommen könne, der nicht glaubte, dass Jesus um seiner Sünden willen gestorben war, um einen zornigen Gott zu besänftigen, und der sich nicht bekehren liess, womit gemeint war, dass er seine Sünden bekannte und alles aufgab, was er gerne tat. Er durfte nicht mehr trinken, Karten spielen, fluchen oder ins Theater gehen, und natürlich durfte er sich auch nicht mit Frauen einlassen. Wenn er seine Lebensweise nicht entsprechend änderte, dann würde er bei seinem Tod unvermeidlich in die Hölle kommen und dort, für ewig in einem See von Feuer und Schwefel brennen. Ganz allmählich schlichen sich aber leise Zweifel in mein Denken ein, und drei Vorkommnisse in meinem Leben zwangen mich in steigendem Mass zu weiterem Nachdenken. Die darin enthaltenen Lehren liessen mir keine Ruhe, und sie waren in der Hauptsache der Anlass dafür, dass ich schliesslich meine Einstellung zu Gott und zum Problem des ewigen Seelenheils änderte. Ich möchte diese Begebenheiten erzählen, und der Leser kann daran den Werdegang meiner inneren Beunruhigung mitverfolgen.

Als ich so etwa dreizehn Jahre alt war, hatte meine Tante in Schottland eine Köchin namens Jessie Duncan. Wir waren seit meiner frühen Kinderzeit eng befreundet, und ich war als kleines Mädchen oft zu ihr in die Küche entwischt, um mir ein Stückchen Kuchen zu erbetteln, wenn ich wusste, dass es welchen gab. Tagsüber war sie mir gegenüber bloss eine höher gestellte Bediente, die aufstand, wenn ich in die Küche trat, die zu mir nur dann sprach, wenn sie angeredet wurde und die sich überhaupt zu mir genauso korrekt benahm, wie alle anderen. Abends jedoch, wenn ihr Tagewerk beendet war, und ich im Bett lag, pflegte sie in mein Zimmer zu kommen und an meinem Bett zu sitzen, und dann unterhielten wir uns lange miteinander. Sie war eine sehr gute Christin. Sie liebte mich und verfolgte meinen Werdegang mit grossem Interesse. Wir waren eng befreundet, und sie verfuhr auch manchmal streng mit mir, wenn sie es für nötig hielt. Wenn sie an meinem Benehmen etwas auszusetzen hatte, dann machte sie keinen Hehl daraus. Wenn ihr in der Küche berichtet wurde, dass ich mich vorn im Hause ungezogen benommen hatte, dann bekam ich es von ihr zu hören. Wenn sie anderseits mit mir im allgemeinen zufrieden war, dann liess sie mich auch das wissen. Ich glaube nicht, dass viele Leute hier in Amerika diese Art von Freundschaft und menschlichen Beziehungen kennen und würdigen, die es drüben zwischen den sogenannten oberen Klassen und ihren alten Bedienten gab. Es handelt sich dabei beiderseits um wirkliche Freundschaft und tiefe Zuneigung.

Eines Abends kam Jessie zu mir herauf, um mit mir zu sprechen. Ich hatte am Nachmittag in der kleinen Gemeindehalle des Dorfes eine religiöse Versammlung abgehalten und glaubte, ich hätte meine Sache besonders gut gemacht. Ich war jedenfalls mit mir sehr zufrieden. Jessie war mit den übrigen Bedienten dort gewesen und sie hatten, wie ich herausfand, mir ziemlich kritisch und ohne Vergnügen zugehört. Wir sprachen über die Versammlung, als sie sich plötzlich zu mir herüberbeugte, mich bei den Schultern packte und mich sanft schüttelte, um folgenden Worten besonderen Nachdruck zu geben: «Werden Sie jemals lernen, Miss Alice, dass es zwölf Pforten zur Heiligen Stadt gibt, und dass ein jeder in der Welt durch die eine oder andere dort eingehen wird? Auf dem Marktplatz werden sie sich alle treffen, aber nicht jeder wird durch ihre Pforte hereinkommen». Ich konnte mir damals nicht vorstellen, was sie damit meinte, und sie war klug genug, nichts weiter zu sagen. Ihre Worte vergass ich nie. Sie hatte mir eine meiner ersten Lehren erteilt, über die Weite der Vision und das ungeheure Ausmass von Gottes Liebe und Fürsorge für sein Volk. Sie hatte damals keine Ahnung, dass ihre Worte später in meinen öffentlichen Vorlesungen an Tausende von Leuten weitergegeben würden.

Die nächste Phase meiner Lektion wurde mir in Indien zuteil. Ich war nach Umballa gegangen, um dort ein Soldatenheim zu eröffnen und hatte meinen alten, persönlichen Hausdiener mitgenommen, einen Eingeborenen namens Bugaloo. Ich glaube, dass er mich wirklich liebte. Er war ein sehr alter Gentleman mit langem, weissem Bart und er erlaubte niemandem etwas für mich zu tun, wenn er irgendwo in der Nähe war; er bemühte sich um mich mit der allergrössten Sorgfalt, begleitete mich überall auf meinen Reisen, hielt mein Zimmer in Ordnung und brachte mir jeden Morgen das Frühstück.

Eines Tages stand ich auf der Veranda unseres Quartiers in Mumballa und schaute auf die an unserem Lager vorbeiführende Strasse mit ihrem endlosen Gewimmel von Indern, - Hindus, Mohammedaner, Afghanen, Sikhs, Gurkas, Rajputs und die Babus (Babu bedeutet etwa «Herr», ein (oft spöttisch) auf gebildete Hindus angewandter Titel, die eine englische Erziehung genossen hatten), Kehrer, Männer, Frauen und Kinder, die da ununterbrochen des Weges kamen. Sie gingen leise dahin, kamen von irgendwo her und gingen irgendwo hin, in Gedanken versunken; ihr Name ist Legion. Plötzlich trat der alte Bugaloo auf mich zu, legte seine Hand auf meinen Arm (was sonst kein indischer Bedienter tut) und rüttelte mich leise, um meine Aufmerksamkeit zu erwecken. Dann sagte er in seinem merkwürdigen Englisch: «Missy Baba, hör. Millionen Menschen hier. Millionen immer schon, lange bevor ihr Engländer herkommen. Selbe Gott liebt mich, liebt sie». Seitdem habe ich mich oft gewundert, wer er war und mich gefragt, ob ihn vielleicht mein Meister K. H. dazu benutzt hatte, um die Schranken der Förmlichkeit in mir niederzureissen. Dieser alte Träger sah aus und benahm sich wie ein Heiliger, und wahrscheinlich war er ein Jünger. Wiederum stand ich vor dem gleichen Problem, das Jessie Duncan mir vor Augen geführt hatte - das Problem der Liebe Gottes. Was hatte Gott seit Urzeiten mit den Millionen von Menschen in der ganzen Welt angefangen, die vor Christus gelebt hatten? Waren sie alle unerlöst gestorben und zur Hölle gegangen? Ich kannte die abgedroschene Behauptung, dass Christus während der drei Tage, als sein Körper im Grab lag, zu den «Geistern im Gefängnis», d.h. in der Hölle gepredigt habe, aber das schien mir nicht gerecht zu sein. Warum sollte man ihnen nur eine kleine, dreitägige Gelegenheit geben, nachdem sie Tausende von Jahren in der Hölle zugebracht hatten, weil sie zufällig vor Christus gelebt hatten? Daraus ist ersichtlich, wie allmählich diese inneren Fragen an mein geistiges Ohr dröhnten.

Der nächste Vorfall ereignete sich in Quetta. Ich war zu dem Entschluss gekommen, dass es sowohl für meinen Seelenfrieden als auch für das Wohl der Soldaten absolut notwendig sei, einmal ganz speziell über die Hölle zu sprechen. In all meinen Jahren als Evangelistin hatte ich das nie getan. Ich war der Frage aus dem Weg gegangen, nur gelegentlich hatte ich sie gestreift. Nie war ich mit der bestimmten Behauptung aufgetreten, dass es eine Hölle gebe und dass ich daran glaubte. Ich war durchaus nicht sicher, wie es mit der Hölle stand. Das einzige, was ich sicher wusste, war die Tatsache, dass ich selbst erlöst war und deshalb nicht dorthin geschickt werden würde. Wenn es aber eine Hölle gab, dann sollte man auch darüber sprechen, besonders da Gott davon so ausgiebigen Gebrauch macht, da er ja Tausende von unerwünschten Leuten dort absetzt. Ich beschloss also, darüber nachzulesen und setzte es mir in den Kopf, dieser Frage wirklich auf den Grund zu gehen. Ich beschäftigte mich damit einen ganzen Monat lang und las insbesondere die Werke eines widerwärtigen Theologen namens Jonathan Edwards. Man kann sich kaum vorstellen, wie abscheulich einige seiner Predigten waren. Sie waren wirklich scheusslich und zeugten von einer sadistischen Natur. An einer Stelle spricht er beispielsweise von kleinen Kindern, die ungetauft sterben, und er nennt sie «kleine Nattern», die im Höllenfeuer rösten, bis sie knusprig sind. Das schien mir allerdings wirklich ungerecht Sie hatten nicht darum gebeten, geboren zu werden; sie waren nicht alt genug, um irgend etwas von Jesus zu wissen, warum sollten sie also in aller Ewigkeit geröstet werden? Ich war ganz und gar von Gedanken über die Hölle erfüllt und triumphierte geradezu mit meinen Kenntnissen, wobei ich allerdings vergass, dass noch niemand je von dort zurückgekehrt war, um zu sagen, ob es eine Hölle gebe oder nicht. Und in dieser Verfassung trat ich an jenem Nachmittag auf das Podium, fest entschlossen, fünfhundert Männer vor lauter Schrecken in die Vorhöfe des Himmels zu jagen.

Es war ein riesiger Raum, mit langen, französischen Fenstertüren zum Rosengarten, und die Rosen standen damals in voller Blüte. Ich sprudelte geradezu über, deklamierte mit lauter Stimme und betonte in meiner Ansprache, wie sehr meine Zuhörer der Erlösung bedurften. Ich liess mich ganz von meinem Thema fortreissen; ich vergass meine Umgebung und dachte bloss an die Hölle. Nach einer halben Stunde entdeckte ich plötzlich, dass ich keine Zuhörer mehr hatte. Einer nach dem anderen waren sie durch die Fenstertüren hinausgeschlichen; einer nach dem anderen hatten sie mir solange zugehört, bis sie es nicht mehr aushalten konnten, und dann hatten sie sich unter den Rosen wieder versammelt, um über die kleine Törin zu lachen. Ich blieb mit einer kleinen Schar religiös gesinnter Soldaten übrig (die von ihren Kameraden höhnisch «Bibeltrommler» genannt wurden). Sie gehörten zu einer besonderen Gruppe, die an meinen Gebetsversammlungen teilnahm, und sie warteten schweigend, beharrlich und höflich, bis ich fertig war. Als alles vorbei war, und ich einen ziemlich schwachen Abschluss gefunden hatte, kam ein Sergeant von draussen auf mich zu und sagte mit mitleidsvollem Blick: «Na schön, Fräulein, solange sie die Wahrheit sagen, bleiben wir gern sitzen und hören uns alles an, das wissen sie ja auch; aber wenn sie anfangen, uns Lügen zu erzählen, dann stehen die meisten von uns einfach auf und gehen. Und das haben wir ja auch getan». Das war mir eine drastische und harte Lehre, die ich damals noch nicht verstand. Ich glaubte, dass die Bibel die Tatsache der Hölle lehre, und alle meine Werte gerieten ins Wanken. Wenn die Lehre von der Hölle nicht stimmte, was stimmte dann ausserdem nicht?

Diese drei Vorfälle verursachten in mir heftige Zweifel und trugen am Ende dazu bei, dass ich mit den Nerven zusammenbrach. Hatte ich mich schon die ganze Zeit geirrt? Gab es doch noch einiges, was ich zu lernen hatte? Gab es andere Gesichtspunkte, die möglicherweise richtiger waren? Ich wusste, dass es viele nette Menschen gab, die nicht so dachten wie ich, und bislang hatte ich nur Mitleid mit ihnen empfunden. War Gott so, wie ich ihn mir vorgestellt hatte, und (oh schrecklicher Gedanke) wenn Gott so war, wie ich ihn mir vorgestellt hatte, und wenn ich wirklich Gott und sein Vorhaben verstand, konnte er dann überhaupt Gott sein? Denn wenn ich ihn verstehen konnte, dann müsste er doch genauso begrenzt sein wie ich? Gab es eine Hölle und, wenn ja, warum in aller Welt sandte Gott auch nur einen Menschen dorthin, wenn es ein so unangenehmer Ort, und wenn er ein Gott der Liebe war? Ich wusste, dass ich das nicht tun könnte. Ich wusste, dass ich den Leuten sagen würde: «Schön, wenn ihr nicht an mich glauben könnt, dann tut es mir leid, denn ich verdiene es wirklich, dass man an mich glaubt, aber ich kann und werde euch deswegen allein nicht bestrafen. Vielleicht könnt ihr nichts dafür, vielleicht habt ihr nicht einmal von mir gehört, oder vielleicht hat man euch irreführende Dinge über mich erzählt». Warum sollte ich freundlicher sein als Gott? Wusste ich von Liebe mehr als Gott und konnte Gott dann noch Gott sein, da ich ja in gewisser Beziehung grösser wäre als er? Wusste ich überhaupt, was ich tat? Wie konnte ich weiterhin andere unterrichten? Und so weiter und so weiter. Mein Standpunkt und meine Haltung änderten sich allmählich. Es hatte eine kleine Gärung eingesetzt, deren Endresultat grundlegend und deren Verlauf schmerzhaft war. Ich war ernstlich besorgt und konnte nachts nicht mehr schlafen. Ich konnte nicht mehr klar denken und wagte nicht, irgend jemand um Rat zu fragen.

Im Jahr 1906 begann mein körperlicher Zusammenbruch. Die Kopfschmerzen, unter denen ich immer schon gelitten hatte, wurden schlimmer und rieben mich vollkommen auf. Drei Faktoren waren an meinem Zustand schuld. Erstens einmal hatte ich mir Verantwortung aufgeladen, die für meine Jahre viel zu schwer waren, und zweitens litt ich unter akuten psychischen Störungen. Wenn im Rahmen meiner Tätigkeit irgend etwas Schlimmes passierte oder Schwierigkeiten auftraten, dann dachte ich immer, es sei meine Schuld. Ich hatte noch nicht gelernt, dass der einzige Misserfolg der ist, dass man sich als geschlagen betrachtet und damit die Fähigkeit verliert, weiterzumachen. Was mich jedoch am meisten bekümmerte, war der scheinbare Verlust von all dem, was meinem inneren Leben Halt gegeben hatte. Ich hatte mein ganzes Leben auf die Worte des Apostels Paulus gegründet: «Ich weiss, an wen ich glaube, und ich bin gewiss, er kann mir bewahren, was ich ihm anvertraut habe, bis zu jenem Tag». (Vgl. 2. Tim. 1, 12) Ich war aber nicht einmal mehr sicher, ob es überhaupt einen jüngsten Tag geben würde; ich war mir durchaus nicht sicher, was ich eigentlich Christus anvertraut hatte; ich zweifelte an allen Tatsachen, von denen ich bis dahin überzeugt gewesen war. Die einzige Tatsache, die ich niemals angezweifelt habe und deren ich ewig gewiss bin, ist die Tatsache Christi selber. Ich weiss, an wen ich geglaubt habe. Diese Tatsache hat die Probe bestanden und sie beruht nicht mehr auf Glauben, sondern auf Wissen. Christus lebt. Er ist «der Meister aller Meister, und der Lehrer der Engel wie der Menschen».

Abgesehen von dieser unwandelbaren Tatsache, war jedoch die gesamte Gedankenwelt meines Lebens und meine Einstellung zur abgedroschenen Theologie meiner Mitarbeiter im tiefsten Grund erschüttert, und das blieb so bis zum Jahr 1915. Zu meinem Unglück kam als dritter Grund für meinen körperlichen Zusammenbruch die Tatsache hinzu, dass ich mich in einen sogenannten «gentleman ranker» verliebte, d.h. in einen jungen Mann, der trotz guter Schulbildung als Soldat ohne Rang, in einem Husarenregiment diente. Ich hatte mir schon oft eingebildet, verliebt zu sein. Ich erinnere mich gut an einen Major in einem gewissen Regiment (heute ist er ein berühmter General), der mich heiraten wollte. Das war eine spassige Geschichte. Ich hatte mir in einem indischen Lager die Masern geholt und wurde als Hauspatient von einem Krankenhaus für Eingeborene aus behandelt, das unter Leitung englischer Ärzte stand. Man stellte Masern fest und isolierte mich in einem Landhäuschen innerhalb des Lagers - zusammen mit meinem Hausdiener, der nachts im Gang vor meiner Tür schlief. Eine untadeligere Anstandsdame konnte ich mir nicht denken. Drei Ärzte und dieser Major verbrachten den Abend mit mir, und ich sehe uns noch heute um den Tisch mit der Lampe herumsitzen. es war Winter, Dr. X. stützte seine Füsse auf dem Kaminsims, während er die Zeitung las, ein anderer Doktor und der Major spielten Schach und ich, in meinem gefleckten Zustand, war eifrig am Nähen. Der Major wurde mir später von einer kleinen Gouvernante weggestohlen, was für mich nicht gerade schmeichelhaft war, und einer der Ärzte hegte mehrere Jahre lang eine hoffnungslose Liebe für mich. Er verfolgte mich sogar von Indien bis nach Hause in Schottland, sehr zu meinem Entsetzen und zur Überraschung meiner Familie, die einfach nicht verstand, warum jemand so sehr an mir hängen konnte. Andere Männer hatten sich ebenfalls für mich interessiert, aber nicht ein einziges Mal hatte ich mich ernstlich verliebt, bis ich Walter Evans kennenlernte.

Er sah ausserordentlich gut aus. Er war sehr klug, äusserst gebildet und liess sich durch meine Bemühungen gründlich bekehren. Hätte meine damalige Stellung nicht im Weg gestanden, so wäre uns nur das finanzielle Problem geblieben; aber das Haupthindernis lag in der Annahme (die auch zutraf), dass die in den ,Sandes' Soldatenheimen tätigen Damen von solch aristokratischer Herkunft seien, dass die Möglichkeit oder Wahrscheinlichkeit ihrer Verheiratung mit einem Soldaten einfach nicht in Frage kam. Das klar umgrenzte Kastensystem Grossbritanniens unterstützte diese Annahme. Sie durften und konnten sich einfach nicht in einen gemeinen Soldaten verlieben, und taten es auch in der Regel nicht. Ich stand deshalb nicht nur vor einem persönlichen Problem, denn Walter Evans war mir sozial nicht gleichgestellt, sondern ich vernachlässigte auch meine Arbeit und machte es den anderen dadurch um so schwerer. Ich war ganz verzweifelt. Ich kam mir vor wie ein Verräter. Mein Herz zog mich nach einer Richtung und mein Kopf sagte dazu ganz entschieden "Nein"; ich war so krank und elend, dass ich nicht mehr klar denken konnte.

Es fällt mir wirklich schwer, über die nächste Periode meines Lebens zu sprechen und den Staub der darauffolgenden Jahre wieder aufzuwirbeln. Man hatte mich zu würdiger Zurückhaltung erzogen; meine Arbeit in den Sandes Soldatenheimen hatte mich gelehrt, nicht von mir selbst zu sprechen. Auf alle Fälle widerstrebt mir das, besonders so etwas wie mein Leben in Verbindung mit Walter Evans. Während der letzten zwanzig Jahre hatte ich sehr viel Zeit damit verbracht, den vertraulichen Mitteilungen sorgenvoller und geprüfter Menschen zuzuhören. Oft war ich höchst erstaunt über die intimen Einzelheiten, die sie mir scheinbar mit grossem Vergnügen anvertrauten. Diese Nichtbeachtung der Regeln, die für persönliche Mitteilungen gelten sollten, habe ich nie verstehen können, und deshalb fällt es mir auch schwer, diese Selbstbiographie zu schreiben.

In einer heissen Nacht in Lucknow konnte ich nicht einschlafen. Ich ging in meinem Zimmer auf und ab und fühlte mich völlig niedergeschlagen. Ich ging auf die breite Veranda hinaus, die von blühenden Bougainvillias umkränzt war, fand dort aber nur Moskitos. Ich kehrte in mein Zimmer zurück und stand einen Augenblick vor meinem Frisiertisch. Plötzlich wurde mein Zimmer von einem breiten, glänzenden Lichtstrahl getroffen, und ich vernahm die Stimme des Meisters, der damals zu mir gekommen war, als ich fünfzehn Jahre alt war. Diesmal sah ich ihn nicht, sondern ich stand in der Mitte des Zimmers und hörte zu, was er zu sagen hatte. Er sagte, ich sollte mir keine unnötigen Sorgen machen; man habe mich beobachtet und ich täte, was er von mir erwartete. Er sagte mir, dass alles im voraus geplant sei und dass das Lebenswerk, das er mir früher angedeutet hatte, beginnen würde, aber in einer Weise, die ich nicht erkennen würde. Er bot mir keine Lösung für irgendeines meiner Probleme an und sagte mir auch nicht, was ich tun sollte. Das tun die Meister nie. Sie sagen niemals einem Jünger, was er tun, wohin er gehen oder wie er sich in einer gegebenen Situation verhalten solle, allem Unsinn, den nette und wohlmeinende Schwärmer behaupten mögen zum Trotz. Ein Meister steht an führender Stelle, hat viel zu tun und seine Aufgabe besteht in der Lenkung der Welt. Er rennt nicht umher und verschwendet keine süss-freundlichen Redensarten an durchaus mittelmässige Menschen, die keinerlei Einfluss besitzen und deren Fähigkeit, zu dienen, noch unentwickelt ist. Ich erwähne das, weil eine falsche Vorstellung berichtigt werden muss, die schon eine Menge sehr ordentlicher Leute in die Irre geführt hat. Wir lernen Meister zu sein, indem wir unsere eignen Probleme meistern, unsere eigenen Fehler berichtigen, einige der Lasten der Menschheit auf uns nehmen und uns dabei selbst vergessen. Der Meister sprach mir in jener Nacht keinen Trost zu, er machte mir keine Komplimente und gab mir auch keine netten Redensarten mit auf den Weg. Er sagte genau genommen: Das Werk muss fortschreiten. Vergiss, das nicht. Bereite dich auf die Arbeit vor. Lass dich von den äusseren Umständen nicht irreführen.

Zugunsten von Walter Evans muss ich sagen, dass er sich ausserordentlich gut benahm. Er verstand die Situation und tat sein Bestes, sich selbst im Hintergrund zu halten und mir alles so leicht zu machen, wie er nur konnte. Zu Beginn der heissen Jahreszeit ging ich mit Miss Schofield nach Ranikhet, und dort kam die ganze Angelegenheit zwischen mir und Walter Evans zu einer entscheidenden Aussprache. Es war ein anstrengender Sommer gewesen. Wir hatten das neue Heim eröffnet, und ich hatte mich während der ganzen Zeit durchaus nicht wohl gefühlt. Walter Evans war mit seinem Regiment ebenfalls dorthin gekommen, und da es ein Kavallerieregiment war, widmete er sich zusammen mit einigen Kameraden der Aufgabe, mich zu einer etwas besseren Reiterin zu machen, als ich damals war. Miss Schofield hatte beobachtet, was da vor sich ging. Wir standen uns beide sehr nahe, und es war ein Glück für mich, sie zur Freundin zu haben. Sie kannte mich gut und vertraute mir restlos. Gegen Ende der Saison und nachdem die Monsune vorüber waren, sagte sie mir eines Tages, das Heim würde innerhalb einer Woche geschlossen, und sie würde mich inzwischen dort allein lassen, obwohl sie wusste, dass sich Walter Evans dort aufhielt und ich ganz allein im Haus sein würde. Am Tag vor meiner Abreise von Ranikhet liess ich Walter Evans kommen und sagte ihm, das Ganze sei unmöglich, ich würde ihn nie wiedersehen und mich auf immer von ihm verabschieden. Er nahm meine Entscheidung hin, und ich kehrte ins Flachland zurück.

Dort angelangt, brach ich vollkommen zusammen. Ich war am Ende meiner Kräfte durch Überarbeit, anhaltende Kopfschmerzen schlimmster Sorte und dazu war noch obendrein diese Liebesaffäre gekommen. Ich hatte einfach nicht die Fähigkeit, leicht im Sattel zu sitzen. Das war schon von jeher so, obwohl ich wirklichen Sinn für Humor habe, der mich oft im Leben rettete. Ich habe das Leben und seine Umstände immer sehr ernst genommen und ein sehr intensives Gedankenleben geführt. Ich habe das Gefühl, dass ich in einem früheren Leben den Meistern gegenüber schwer versagt habe. Ich erinnere mich nicht, was ich dabei im einzelnen tat, aber ich habe stets ein tiefes Gefühl gehabt, dass ich ihn in diesem Leben niemals im Stich lassen dürfte und seine Erwartungen erfüllen müsste. Auf welche Weise ich in der Vergangenheit versagte, hat nichts zu bedeuten, aber heute darf ich nicht versagen.

Ich habe mich von jeher über den Unsinn geärgert, den manche Leute über ihre «Rückerinnerung an ihre früheren Inkarnationen» reden. Ich bin in dieser Hinsicht äusserst skeptisch. Ich glaube, dass die verschiedenen Bücher, die über die früheren Leben prominenter Okkultisten veröffentlicht worden sind, lebhafte Einbildungskraft beweisen, dass sie unwahr sind und die Allgemeinheit irreführen. In dieser Überzeugung bin ich durch die Erfahrung bestärkt worden, dass mir im Verlauf meiner Tätigkeit Dutzende von Maria Magdalenen und Julius Caesaren und anderen wichtigen Leute ihre wunderbare Identität eingestanden haben, obwohl sie in diesem Leben ganz gewöhnliche, uninteressante Menschen waren. Diese berühmten Leute scheinen seit ihrer letzten Inkarnation arg heruntergekommen zu sein und das erregt bei mir Zweifel an der Evolution. Auch glaube ich nicht, dass die Seele im langen Zyklus ihrer Erfahrung sich daran erinnert oder sich überhaupt etwas daraus macht, welche Form sie bewohnt oder was sie vor zweitausend, vor achthundert, oder vor einhundert Jahren getan hat, ebensowenig wie meine gegenwärtige Persönlichkeit keine blasse Ahnung mehr und auch kein Interesse daran hat, was ich um 15.45 Uhr am Nachmittag des 17. November 1903 machte. Ein einziges Leben ist wahrscheinlich von keiner grösseren Bedeutung für die Seele, als für mich fünfzehn Minuten im Jahr 1903. Sicherlich kommt mal gelegentlich ein Leben, das sich dem Gedächtnis der Seele besonders einprägt, genauso, wie es in unserem jetzigen Leben Tage gibt, die unvergesslich bleiben, aber es sind ihrer nur wenige.

Ich weiss, dass ich heute das bin, wozu mich viele Leben und viele bittere Erfahrungen gemacht haben. Ich bin sicher, dass die Seele - wenn sie ihre Zeit damit vergeuden wollte - sich ihrer vergangenen Inkarnationen erinnern könnte, denn die Seele ist allwissend, aber was würde das schon nützen? Es käme dabei doch nur eine andere Form von Ich-Bezogenheit heraus. Im übrigen wäre es bloss eine traurige Geschichte. Wenn ich heute irgendwelche Weisheit besitze und wenn irgendeiner von uns die gröberen Fehler des Lebens zu vermeiden weiss, dann liegt das daran, dass wir durch härteste Erfahrung gelernt haben, die betreffenden Fehler nicht zu wiederholen. Von unserem gegenwärtigen, geistigen Standpunkt aus ist unsere Vorgeschichte wahrscheinlich nichts anderes als ein schmachvolles Sündenregister. In der Vergangenheit haben wir gemordet, wir haben gestohlen, wir haben verleumdet und waren voller Selbstsucht; wir haben unsere Mitmenschen unehrlich behandelt, wir waren lüstern, wir haben betrogen und die Treue gebrochen. Wir haben jedoch den Preis dafür gezahlt, denn das grosse Gesetz, das Paulus in die Worte kleidet, «was der Mensch sät, wird er ernten» (Gal. 6, 7), - wirkt unerbittlich und wird ewig gültig bleiben. Heute tun wir eben so etwas nicht mehr, weil der Preis, den wir dafür zahlten, uns nicht zusagte, aber bezahlt haben wir ihn bestimmt. Ich denke es ist Zeit, dass die albernen Idioten, die so viel Zeit und Mühe verschwenden, um ihre früheren Inkarnationen ins Gedächtnis zurückzurufen, sich endlich darüber klar werden, dass wenn sie sich nur ein einziges Mal so sehen würden, wie sie damals wirklich waren, sie für immer schweigen würden. Wer ich auch gewesen sein und was ich auch in einem früheren Leben getan haben mag, ich weiss bestimmt, dass ich versagte. Einzelheiten sind unwesentlich, aber die Furcht vor dem Versagen steckt tief in mir und beeinflusst mein Leben. Daraus erhellt sich der ausgesprochene Minderwertigkeitskomplex, unter dem ich leide, den ich aber im Interesse meines Werkes zu verbergen trachte.

Mit grosser Entschiedenheit und mit einem Gefühl inneren Heldentums gelobte ich mir also, ledig zu bleiben und versuchte, meine bisherige Tätigkeit fortzusetzen.

Dazu fehlte mir jedoch trotz aller guten Absichten die nötige Schwungkraft. Ich war zu krank dazu. Miss Schofield beschloss deshalb, mich nach Irland zurückzuschicken, und dort sollte dann Elise Sandes weiter über mich entscheiden. Ich war zu krank, um dagegen Einspruch zu erheben und war an dem Punkt angelangt, wo es mir gleich war, ob ich lebte oder starb. Ich hatte das Soldatenheim in Ranikhet geschlossen, und soweit mir bekannt, waren die Bücher in Ordnung. Ich hatte bis zum Schluss versucht, religiöse Versammlungen abzuhalten, aber ich glaube, ich hatte meinen Schneid dazu verloren. Ich entsinne mich bloss noch der ungewöhnlichen Liebenswürdigkeit eines Obersten Leslie, der meinen Umzug von Ranikhet ins Flachland überwachte. Ich musste im Wagen fahren; ich musste mich auf dem Rücken eines Mannes über einen reissenden Giessbach tragen lassen; dann musste ich meilenweit mit einem zweirädrigen Karren befördert werden und dann wieder einen anderen Wagen nehmen, bis ich den Zug nach Delhi erreichte. Neu Delhi gab es damals noch nicht. Er sorgte für alles - Kissen, verschiedene Bequemlichkeiten, Verpflegung und was ich sonst nur irgendwie nötig hatte. Mein persönlicher «Durzi» (Schneider) beschloss, mich auf eigene Kosten bis Bombay zu begleiten, bloss weil er um mich besorgt war. Er und mein Hausdiener bemühten sich um mich, und ich habe ihre Freundlichkeit und zärtliche Fürsorge nie vergessen.

Bei meiner Ankunft in Delhi teilte mir der Stationsvorsteher mit, dass der Generaldirektor von Bombay aus einen Salonwagen für mich geschickt habe. Wieso er wusste, dass ich krank war, entzieht sich meiner Kenntnis, aber er war einer von den fünf Männern, die ich bereits im Zusammenhang mit meiner ersten Ausreise erwähnt habe. Ich habe ihm nie dafür gedankt, aber ich war sehr froh darüber.

Von meiner Reise von Indien nach Irland blieben mir nur zwei Begebenheiten in Erinnerung. Die eine war unsere Ankunft in Bombay und die Fahrt zum Hotel. Ich weiss noch, wie ich auf mein Zimmer hinaufging und mich aufs Bett legte, zu müde, um auszupacken oder mich auch nur zu waschen. Dann erinnere ich mich erst wieder, als ich siebzehn Stunden später aufwachte und Miss Schofields Gesicht an der einen Seite des Bettes und den Arzt an der anderen entdeckte. Diese Art von Langschläferei habe ich mir noch ein oder zwei andere Male im Leben geleistet, wenn ich allzu abgespannt war. Zweitens ist mir in Erinnerung, wie ich an Bord des P. & O. Dampfers gebracht wurde und dort zu meinem Entsetzen und meiner Scham vor lauter Schwäche und Nervenabspannung zu weinen anfing. Ich weinte ununterbrochen auf dem Schiff, ich weinte bei den Mahlzeiten, ich weinte an Deck, und als ich in Marseille ausstieg, strömten mir die Tränen herunter. Ich weinte im Zug nach Paris. Ich weinte dort im Hotel; ich weinte im Zug nach Calais und während der Überfahrt nach England. Ich weinte ununterbrochen und verzweifelt und konnte trotz allen Bemühens einfach nichts dagegen tun. So weit ich mich erinnern kann, habe ich nur zweimal lachen müssen, und da habe ich mich wirklich halb totgelacht. Wir stiegen in Avignon zum Essen aus und gingen in ein dortiges Restaurant. Ein sehr nervöser Kellner kam herein. Er warf mir einen Blick zu und liess wohl drei Dutzend Teller einzeln auf die Erde fallen - ich glaube bestimmt nur deshalb, weil ich da sass und heulte und heulte. Der andere Vorfall, der mich zum Lachen brachte, ereignete sich auf einer kleinen Nebenstation in Frankreich, wo der Zug zehn Minuten Aufenthalt hatte. Eine Dame aus unserem Abteil stieg aus, um die Damentoilette aufzusuchen. Die Züge waren zu jener Zeit noch nicht so bequem eingerichtet wie heute und es fehlte da an manchem. Die Damentoilette beehrten wir mit dem Namen WC. Als sie wieder im Zug war, konnte sie sich vor Lachen nicht halten, und als sie wieder zu Atem kam, sagte sie: «Wie sie wissen, ging ich in die Wesleyan Chapel (Wörtlich Wesleyische (d.h. Methodisten-)Kappelle; das Wort Chapel bedeutet im vulgären Englisch auch Abort (Anm. d. Übersetzers). Sie war nicht sehr sauber und sah ziemlich übel aus, aber das kann man von solchen Kapellen ja nicht anders erwarten. Was mich aber aus meiner Fassung brachte, war dieser komische, französische Wärter, der ungeduldig vor der Türe stand, um mir die Hymnenblätter zu reichen». Ich hörte eine Zeitlang zu weinen auf und musste mich kranklachen; Miss Schofield dachte, ich hätte hysterische Krämpfe.

Endlich kamen wir nach Irland, und ich war wieder bei meiner geliebten Miss Sandes. Ich weiss noch, wie erleichtert ich mich fühlte und glaubte, dass jetzt alle meine Nöte vorüber seien. Sie würde die Situation bestimmt verstehen und meine Leistungen anerkennen. Zu meiner grössten Überraschung stellte ich fest, dass sie meine heldenhafte Aufopferung als eine vollkommen unnötige Geste betrachtete. Nach ihrer Auslegung, die wohl auch stimmte, war ich nur ein verstörtes Kind, das hinter einer dramatischen Rolle Schutz suchte. Natürlich war sie von mir schwer enttäuscht. Ich hatte gerade den Fehler begangen, der bei ihren jungen Mädchen nie vorkam. Sie hatte auf Jahre hinaus auf meine Mithilfe gerechnet und sogar Vorkehrungen getroffen, mir trotz meiner Jungend finanzielle Vollmachten zu übertragen. Sie glaubte, ich könne ihr Werk fortführen, weil sie, wie sie sagte, meinen Sinn für Humor schätzte, weil sie meinen grundanständigen Charakter und mein «geistiges Gleichgewicht» erkannte und weil sie ausserdem wusste, dass ich im innersten Wesen wahrheitsliebend war. Ja, sie glaubte sogar, wie sie mir auf einem Spaziergang auf einem Feldweg in Irland mitteilte, dass meine Wahrheitsliebe mich sehr leicht einmal in Schwierigkeiten bringen könnte, und dass ich noch zu lernen hätte, dass die ungeschminkte Wahrheit nicht unbedingt ausgesprochen werden muss. Stillschweigen sei manchmal nützlicher.

Ich hatte also von meinem Standpunkt aus das gesamte Werk, einschliesslich Miss Schofield, im Stich gelassen. Allmählich hatte ich zu weinen aufgehört und war froh, bei ihr zu sein. Ich sehe noch das Wohnzimmer vor mir, in der Pension des kleinen Badeortes in der Nähe von Dublin, wo sie Theo Schofield und mich getroffen hatte. Sie hatte sich erst von Theo über mich erzählen lassen und Theo liebte mich. Dann liess sie mich selbst meine Geschichte erzählen die Geschichte einer verstörten, gemarterten Heiligen; als solche betrachtete ich mich wenigstens damals. Sie schickte mich an dem Abend zu Bett und sagte, sie würde mich am nächsten Morgen wiedersehen. Nach dem Frühstück sagte sie mir, sie sehe keinen wirklichen Grund, warum ich nicht heiraten sollte, wenn ich das nun einmal vorhätte, vorausgesetzt, dass man die ganze Sache diskret behandelte. Dazu gehörte das, was die uralte indische Schrift, die Bhagavad Gita, «Geschick im Handeln» nennt. Sie liebte mich und streichelte mich und sagte, ich solle mir keine Sorgen machen. Ich war viel zu müde und zu abgespannt, um mir unter "Geschick im Handeln" etwas vorstellen zu können. Ich war einfach entsetzt als mir allmählich klar wurde, dass man mein wunderbares, heldenhaftes, geistiges Opfer als durchaus unnötig betrachtete. Ich fühlte mich verlassen und stand vor einer grossen Enttäuschung. Ich steigerte mich während des Tages in einen furchtbaren Zustand hinein; ich kam mir dumm und idiotisch vor. Dann liess ich diese beiden geliebten, älteren Damen allein über mich und meine Pläne weitersprechen und ging draussen in der kühlen Nachtluft spazieren. Ich hatte so genug von allem, war so entmutigt, so innerlich krank, dass ich nicht mehr weiss, was weiter geschah, ausser dass ein Polizist mich aufhob. Er stellte mich auf die Beine und schüttelte mich (irgendwie schienen die Leute mich immer gern zu schütteln), dann sah er mich mit tiefstem Misstrauen an und sagte: «Was denken sie sich eigentlich, hier herumlaufen und in Ohnmacht fallen. Es ist neun Uhr abends und ein Glück dass ich sie sah. Jetzt aber marsch nach Hause». Ich schlich wieder heim, durchfroren und bis auf die Haut durchnässt vom Regen und von der Gischt, die von der See her über den Landungssteg fegte, auf dem ich anscheinend eine ganze Weile lang gelegen hatte. Heulend erzählte ich Elise und Theo die Geschichte und wurde dann von ihnen liebevoll ins Bett gepackt. Ich denke, ich lernte daraus und bekam etwas mehr Sinn für relative Wichtigkeit; ich verstand jetzt auch besser die tragische Einstellung junger Leute zu den Vorgängen des Lebens sowie ihren natürlichen Hang zur Übertreibung.

Am nächsten Tag fuhr ich nach Edinburgh zu meiner geliebten Tante Margaret Maxwell. Dort verschärften sich meine Probleme, nicht durch Tantes Besorgtheit um mich, sondern durch die Ankunft eines sehr netten und liebenswürdigen Mannes, der mir auf dem weiten Weg von Indien gefolgt war, um mich zu bitten, ihn zu heiraten. Obendrein kam es zu einer weiteren Komplikation. Am nächsten Morgen erhielt ich einen Brief von einem Armeeoffizier, in dem er mir seine Anwesenheit in London mitteilte und mich fragte, ob ich bereit wäre, ihn sofort zu heiraten. So stand ich also da, mit einer fürsorglichen Tante, zwei äusserst besorgten Mitarbeiterinnen und drei Männern an der Hand. Ich konnte mit meiner Tante über Walter Evans sprechen, und tat es auch, indem ich ihr die Situation rückhaltlos darstellte. Die anderen beiden Männer wagte ich nicht zu erwähnen, denn bei ihrer konservativen Einstellung würde sie bestimmt gedacht haben, es müsste mit mir schon ernstlich schlimm stehen, wenn ich allen drei Männern zu gleicher Zeit Hoffnungen gemacht hätte, - was durchaus nicht der Fall war. Um mir selbst gerecht zu werden, darf ich sagen, dass ich nie kokettierte.

Es blieb mir bloss eine Woche in Edinburgh, bevor ich nach London musste, da meine Rückfahrt nach Bombay bereits vor meiner Abreise aus Indien gebucht worden war. Ich stand vor der Frage: an wen könnte ich mich um Rat wenden? Die Antwort fiel mir leicht. Ich ging ins Diakonissenhaus in Edinburgh und fragte nach der Oberin aller Diakonissen der schottischen Kirche. Sie war eine Schwester von Sir William Maxwell auf Schloss Cardoness und eine Schwägerin der Tante, bei der ich zu Besuch war. Ich nannte sie stets «Tante Alice» und verehrte sie, weil sie über alles Enge und Kleinliche erhaben war. Ich sehe sie noch, wie sie in ihrer Diakonissentracht gross und stattlich mir entgegentrat, um mich in ihrem schönen Wohnzimmer zu begrüssen. Ihre Schwesterntracht war aus stark gerippter, brauner Seide und dazu trug sie gewöhnlich echte Spitzenkragen und Manschetten, die ich für sie angefertigt hatte. Ich war eine sehr geübte Spitzenarbeiterin. Ich hatte irische Spitzen klöppeln gelernt, als ich noch ein ziemlich junges Mädchen war, und sie waren wirklich wunderhübsch. Aus Dankbarkeit dafür, dass sie mir immer so viel Verständnis entgegenbrachte, hatte ich ihr einige Jahre lang Kragen und Manschetten genäht. Sie war nie verheiratet gewesen, kannte aber das Leben und liebte die Menschen. Ich erzählte ihr die Geschichte von Walter Evans sowie von dem Major in London und dem albernen, reichen Idioten, der mir nach Hause gefolgt war und sogar in diesem Augenblick vor dem Haus stand. Ich sehe sie noch zum Fenster treten und ihn lachend durch ihre Spitzengardinen hindurch zu beäugen. Wir unterhielten uns zwei Stunden lang, und sie sagte mir, ich sollte ihr nur alles überlassen, sie würde sich die Sache überlegen und Gott für mich um Rat bitten. Sie versprach, alles zu tun, was sie mit gutem Gewissen zur Lösung meines Problems beitragen könnte, da ich selbst zu krank sei und es mir deshalb an eigener Urteilskraft und gesundem Menschenverstand mangele. Dank ihrer geschickten Behandlung fühlte ich mich entspannt und kehrte erleichtert zu meiner Tante zurück. Wenige Tage später ging ich in London an Bord und trat in Begleitung von Gertrude Davies-Colley die Rückreise nach Indien an. Sie hatte es übernommen, bei mir zu bleiben und für mich zu sorgen, da ich offensichtlich zu krank war, um allein gelassen zu werden.

Ich nahm also meine alte Tätigkeit wieder auf und hatte keine Ahnung, wie sich mein Leben weiterhin entwickeln würde; ich nahm mir vor, von einem Tag in den anderen zu leben und mich nicht um die Zukunft zu bekümmern. Ich vertraute dem Herrn und meinen Freunden und wartete einfach ab.

Inzwischen setzte sich «Tante Alice» mit Walter Evans in Verbindung. Seine Dienstzeit war nahezu abgelaufen, und seine Heimreise war bereits gebucht. Sie liess ihn auf ihre Kosten nach den Vereinigten Staaten fahren und dort einen theologischen Kursus durchmachen, und dann sollte er Pfarrer in der Episkopalkirche werden, die das amerikanische Gegenstück zur Anglikanischen Kirche (Church of England) darstellt. Sie tat das, um ihm eine soziale Stellung zu verschaffen, die es ihm am Ende leichter machen würde, mich zu heiraten. Sie machte aus allem durchaus keinen Hehl und hielt nicht nur mich über alle Massnahmen auf dem Laufenden, sondern liess auch Miss Sandes wissen, was sie tat. Soweit ich selbst und meine Tätigkeit bei der Armee in Frage kam, wurde die ganze Sache jedoch mit grösstem Stillschweigen behandelt, und als ich schliesslich Indien verliess, da hiess es einfach, dass ich nach England zurückkehrte, um einen Pfarrer zu heiraten.

Ich fuhr nach Umballa zurück und arbeitete dort den ganzen Winter und darauffolgenden Sommer hindurch. Dann ging ich nach Chakrata, um das dortige Soldatenheim zu leiten. Meine Gesundheit verschlechterte sich ständig und meine Migräne verursachte mir immer häufigere Kopfschmerzen. Die Arbeit war recht anstrengend und ich erinnere mich dankbar an die Güte und Freundlichkeit zweier Männer, die für mich sehr viel taten, und ich frage mich oft, ob ich wohl ohne ihre Hilfe heute noch am Leben wäre. Einer davon war Oberst Leslie, dessen Töchter in meinem Alter und mit mir befreundet waren. Ich war oft in seinem Haus und er sorgte in rührender Weise für mich. Der andere war Oberst Swan, ein leitender Sanitätsoffizier im dortigen Bezirk, bei dem ich in ärztlicher Behandlung war. Er tat sein Möglichstes für mich und blieb meinetwegen oft stundenlang auf, um für mich zu sorgen; aber ich wurde so krank, dass die beiden Männer schliesslich die Sache selbst in die Hand nahmen und meinen Leuten und Miss Sandes kabelten, dass sie mich mit dem nächsten Schiff nach England zurückschicken würden.

Als ich wieder in London war, suchte ich Sir Alfred Schofield, den Bruder des Theo Schofield, auf, der damals ein sehr bekannter Neurologe und praktischer Arzt in London war. Ich legte mein Schicksal ganz in seine Hand. Er war ein prächtiger Mensch und verstand mich durchaus. Ich ging zu ihm, weil mich meine Kopfschmerzen mit schrecklicher Angst erfüllten. Ich bildete mir ein, ich hätte vielleicht einen Tumor im Gehirn oder ich würde den Verstand verlieren, oder was es sonst noch an solchen Albernheiten geben mag, und ich war körperlich zu schwach, um diese Furchtzustände zu überwinden. Nachdem er ein Weilchen mit mir gesprochen hatte, stand er von seinem Schreibtisch auf, ging an den Bücherschrank, und holte sich ein dickes und gewichtiges Buch. Darin verwies er mich auf einen bestimmten Absatz und sagte: «Liebes Kind, lesen sie mal diese vier oder fünf Zeilen und vergessen sie ihre Befürchtungen». Ich las, dass Migräne niemals tödlich verläuft, dass sie keinen Einfluss auf die Mentalität des Patienten hat und dass ihr gewöhnlich Leute mit gutem, mentalem Gleichgewicht und gutem Denkvermögen zum Opfer fallen. Er war klug genug, um meine unausgesprochenen Befürchtungen zu erraten, und ich erwähne das hier für andere, die darunter leiden. Dann schickte er mich auf sechs Monate ins Bett und verordnete mir, andauernd zu nähen. Ich fuhr also nach Castramont zu meiner Tante Margaret zurück, in das alte Schlafzimmer, das ich so viele Jahre hindurch bewohnt hatte und schickte mich an, meiner Schwester eine Garnitur Unterwäsche anzufertigen - Unterröcke mit Volants und Zickzackstickerei, handgesäumt und mit Spitzen besetzt; Hosen mit Volants (die man zu jener Zeit nie erwähnte) und Korsettschoner, die es heute nicht mehr gibt und die so ausgestorben sind, wie die Männerzöpfe. Zu meinem eigenen Lob muss ich sagen, dass ich wundervoll nähen konnte. Jeden Tag durfte ich einmal aufstehen und ging in der Heide spazieren, und von Woche zu Woche ging es mir besser. Alle paar Tage erhielt ich Post von Walter Evans, der mir seit seiner Ankunft in Amerika ziemlich regelmässig schrieb.