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KAPITEL III - Teil 2

Ich war also vollkommen enttäuscht vom Leben, von der Religion in ihrer orthodoxen Darstellung und von den Menschen, besonders meinem eigenen Mann, den ich für ideal gehalten hatte. Niemand brauchte mich, ausser drei kleinen Kindern, und vorher hatten mich doch Hunderte und Tausende gebraucht. Nur eine kleine Handvoll Leute sorgten sich in ihrem geschäftigen Leben etwas darum, was aus mir wurde, und ich hatte früher doch vielen Menschen etwas bedeutet. Ich schien an dem Punkt angelangt zu sein, wo ich vollkommen nutzlos und gerade noch gut genug war für die gewöhnliche Hausarbeit des kleinbürgerlichen Daseins, die Hunderte von Frauen von geringerer Herkunft, mit weniger Schulbildung und Verstand wahrscheinlich besser machten als ich. Ich hatte es satt, Windeln zu waschen und Butterbrote zu streichen. Ich lernte, was es bedeutet, vollkommen verzweifelt zu sein. Meine einzige Freude waren die Kinder, aber sie waren so klein, dass ihre heilende Kraft in ihrem Mangel an Verständnis lag.

Mein Zustand erreichte eines Tages seinen Höhepunkt, als ich vollends verzweifelt die Kinder einer Nachbarin überliess und allein in den Wald ging. Stundenlang lag ich mit dem Gesicht auf dem Boden und rang mit meinem Problem, und dann stellte ich mich unter einen grossen Baum, den ich wahrscheinlich wiederfinden würde, wenn das Gelände nicht inzwischen bebaut ist, und sagte Gott, ich sei ganz verzweifelt und würde alles über mich ergehen lassen, was mir bestimmt sei, wenn er mich bloss zu einem nützlicheren Leben freimachen würde. Ich sagte ihm, dass ich einfach nicht mehr wüsste, was ich sonst noch «um Jesu willen» tun könnte; ich hätte wirklich nach besten Kräften alles um seinetwillen getan; ich hätte ausgefegt und abgestaubt, für die Babys gekocht und gewaschen und für sie gesorgt und es doch zu nichts gebracht.

Ich weiss noch, wie tief verzweifelt ich war, dass ich keinerlei Antwort erhielt. Ich war dessen so sicher, dass ich eine Antwort bekommen würde, wenn ich verzweifelt genug wäre; dass ich wieder eine Art von Vision haben oder eine Stimme hören würde, wie ich sie schon früher gehört hatte, die mir sagte, was zu tun sei. Ich hatte aber keine Vision; ich hörte keine Stimme; und so eilte ich einfach nach Hause, um das Abendbrot zu machen. Während dieser ganzen Zeit war ich jedoch gehört worden, nur wusste ich es nicht. Ohne dass ich es sah, öffnete sich eine Tür für mich, und ohne dass ich es wusste, stand ich vor dem glücklichsten und segensreichsten Abschnitt meines Lebens. Viele Jahre später pflegte ich meiner Tochter zu sagen: «Wir wissen nie, was uns die nächste Wegbiegung eröffnet.

Am nächsten Morgen ging ich zu einer der grossen Konservenfabriken und bewarb mich um Arbeit. Ich wurde angenommen, weil es Hochsaison war, und man Hilfe brauchte. Ich machte mit einer Nachbarin aus, sie solle die Kinder beaufsichtigen, ich würde ihr die Hälfte meines Lohnes geben, was immer dabei herauskäme.

Es handelte sich um Akkordarbeit, und ich wusste, dass ich flink war und hoffte, viel Geld zu verdienen; und das tat ich dann auch. Ich ging jeden Morgen um 7 zur Arbeit und kehrte gegen 16 Uhr nachmittags heim. Während der ersten drei Tage litt ich so unter dem Lärm, dem Gestank, der fremden Umgebung und dem langen Hin- und Rückweg zwischen der Fabrik und unserem Häuschen, dass ich in tiefe Ohnmacht fiel, sobald ich nach Hause kam.

Ich gewöhnte mich jedoch daran, denn die Natur ist anpassungsfähig, und ich betrachte diese Zeit als eine der interessantesten Erfahrungen meines Lebens. Ich war unter den Leuten, ich war eine gewöhnliche Frau Niemand und hatte doch immer gedacht, ich sei etwas Besonderes. Ich nahm eine Stellung ein, die jeder andere ebenso gut einnehmen konnte. Ich war ungelernte Arbeiterin. Erst kam ich in die Etikettierabteilung und klebte «Del Monte»-Etiketten auf die grossen, ovalen Sardinenbüchsen; aber dabei konnte ich trotz aller Anstrengung nicht genügend Geld verdienen. Man war sehr freundlich zu mir in dieser Abteilung. Ich denke, jeder sah mir an, dass ich Angst hatte, denn eines Tages stiess mich der Mann, der mir die Sardinenbüchsen zum Bekleben auf den Tisch warf, ziemlich plump in die Rippen und sagte: «Hören sie mal, ich weiss wer sie sind. Die Schwester meiner Frau stammt aus R. ... und hat mir von ihnen erzählt. Wenn sie jemanden brauchen, der für sie eintritt und aufpasst, dass keiner frech zu ihnen wird, dann verlassen sie sich bloss auf mich». Er sprach nie wieder zu mir, aber er nahm mich sozusagen unter seine Fittiche. Ich hatte stets genügend Büchsen zum Bekleben und ich bin ihm sehr dankbar.

Man riet mir, in die Packabteilung zu gehen, wo die Sardinen in Büchsen verpackt wurden, und das tat ich dann auch. Dort fand ich eine viel gröbere Gruppe von Fabrikarbeitern vor - ziemlich ausgekochte Frauen, Mexikanerinnen, und eine Sorte von Männern, die mir sogar in der Sozialfürsorge noch nie begegnet waren. Als ich zuerst in diese Abteilung kam, machten sie mir das Leben schwer, indem sie sich über mich lustig machten. Ich passte scheinbar nicht zu ihnen. Ich war offensichtlich zu fein und benahm mich natürlich äusserst anständig, und sie wussten nicht, was sie von mir halten sollten. Gelegentlich rotteten sich einige von ihnen am Fabriktor zusammen, und wenn sie mich zu Gesicht bekamen, fingen sie an, «Näher mein Gott zu dir» zu singen. Erst war mir das sehr unangenehm, und ich scheute mich, durchs Tor zu gehen, aber schliesslich hatte ich ja allerhand Erfahrung im Umgang mit Männern und allmählich bekam ich sie auf meine Seite, so dass es mir wirklich recht gut ging. Ich hatte immer genügend Fische zum Verpacken. Stets hatten unsichtbare Hände sauberes Zeitungspapier auf meinem Schemel ausgebreitet. Sie sorgten für mich auf alle mögliche Art und Weise, und ich möchte wiederum betonen, dass dies durchaus nichts mit mir zu tun hatte. Ich wusste nicht, wie diese Männer und Frauen hiessen. Ich hatte ihnen im Leben keine Freundlichkeit erwiesen, und doch waren sie einfach nett zu mir, und ich habe ihnen das nie vergessen. Ich lernte, sie sehr gern zu haben, und wir wurden gute Freunde. Ich habe es jedoch nie fertiggebracht, mich mit den Sardinen anzufreunden. Wenn ich schon Packerin sein sollte, dann war ich entschlossen, dass sich das auch finanziell lohnen sollte. Ich brauchte Geld für die Kinder und deshalb konzentrierte ich meine Gedanken auf das Packproblem. Ich beobachtete die anderen Packer. Ich studierte jede Bewegung, um Zeitverlust zu vermeiden, und innerhalb von drei Wochen war ich die beste Packerin in der Fabrik. Ich verarbeitete im Durchschnitt zehntausend Sardinen pro Tag und packte Hunderte von Büchsen. Fabrikbesucher wurden zu mir geführt, um mich zu beobachten, und dann musste ich den Preis für meine gute Arbeit zahlen und Bemerkungen hören wie: «Was macht eine Frau wie die in einer Fabrik?» oder «Sie sieht mir zu gut aus für solche Arbeit, aber wahrscheinlich taugt sie sonst nichts». «Sie wird schon irgend etwas ausgefressen haben, dass sie auf diese Art von Arbeit angewiesen ist». «Man darf sich nicht vom Schein trügen lassen, wahrscheinlich ist sie von der üblen Sorte». Das sind wörtliche Zitate. Ich kann mich noch erinnern, dass einer der Vorarbeiter der Fabrik einer Gruppe von Leuten zuhörte, die über mich in dieser Weise sprachen, und bemerkte, wie ich dabei zusammenzuckte. Die Bemerkungen waren besonders roh gewesen und mir zitterten vor Wut buchstäblich die Hände. Als diese Leute weg waren, kam er auf mich zu und sagte: «Machen sie sich nichts draus, Frau Evans, wir nennen sie hier den, im Schmutz verlorenen Edelstein'». Das entschädigte mich voll und ganz für alles andere, was über mich gesagt worden war. Ist es demnach zu verwundern, dass ich einen unwandelbaren und unabänderlichen Glauben an das Schöne und Göttliche im Menschen besitze? Wenn dies Leute gewesen wären, die mir irgendwie verpflichtet waren, dann wäre es etwas anderes; aber es kam bei allem eben nur die spontane Freundlichkeit der menschlichen Seele denen gegenüber zum Ausdruck, die sich in gleich schwieriger Lage befinden, wie sie selbst. Die Armen sind gewöhnlich freundlich zu den Armen.

Noch eine andere Geschichte möchte ich erzählen, welche diese Menschenfreundlichkeit noch besser zum Ausdruck bringt. Eines Tages als es zum Frühstück läutete, kam ein grosser, plumper, schmutziger alter Mann - der schlimm aussah und zum Himmel stank - auf mich zu und sagte: «Kommen sie mit mir um die Ecke. Ich möchte mit ihnen sprechen». Ich habe mich nie vor einem Mann gefürchtet und ging mit ihm um die Ecke. Er langte in seine Arbeitshose und zog die Hälfte einer sauberen, weissen Schürze heraus. Er sagte: «Sehen sie hier, Miss, das habe ich heute morgen meiner Frau geklaut und ich hänge es hier an den Nagel. Ich will nicht, dass sie ihre Hände an dem dreckigen Lappen im Frauenabort abtrocknen. Ich habe auch die andere Hälfte und werde sie aufhängen, wenn diese schmutzig ist». Er drehte sich auf dem Absatz um ehe ich Zeit hatte, ihm zu danken, und er sprach nie wieder zu mir; aber es hing da immer ein reiner Lappen, an dem ich meine Hände abtrocknen konnte.

Ich bin sicher, dass wir im Leben das erhalten, was wir geben. Ich hatte gelernt, nicht hochnäsig zu sein; ich predigte nicht mehr; ich versuchte lediglich, höflich und freundlich zu sein und deshalb bezahlten mich die anderen mit gleicher Münze; und das kann jeder andere ebenso machen - was die Moral meiner Geschichte ist. Ich erinnere mich an eine Frau, die vor ein paar Jahren in New York zu mir ins Büro kam, um mich um Rat zu fragen. Das Wesentliche an ihrer Geschichte war, dass es ihr sehr schlecht ging, weil jeder über sie klatschte und sie nicht wusste, was sie dagegen tun könne. Sie weinte und klagte; die Menschen wären so grausam mit ihrem Gerede, und ich möchte ihr doch bitte helfen. Da ich sie nie zuvor gesehen hatte und von den eigentlichen Tatsachen nichts wusste, so tat ich, was ich konnte. Merkwürdigerweise ereignete es sich, dass ich wenige Tage später mit meinem Mann, Foster Bailey, in ein Restaurant ging, wo die Tische durch kleine Verschläge voneinander abgeteilt waren. In der nächsten Nische sah ich diese Frau, aber sie sah mich nicht. Sie sprach mit lauter, klarer Stimme zu einer Freundin, und ich konnte jedes Wort verstehen. Was sie da über ihre Bekannten sagte, spottet jeder Beschreibung. Nicht ein einziges, freundliches Wort kam über ihre Lippen Sie tischte ihrer Freundin all das auf, was sie an sogenanntem «Schmutz» über all ihre Bekannten wusste. Jetzt wusste ich die Antwort auf ihr Problem, und bei ihrem nächsten Besuch sprach ich zu ihr darüber vielleicht zu ungeschminkt, denn ich bekam sie nie wieder zu sehen. Wahrscheinlich konnte sie mich nicht leiden, und die Wahrheit bestimmt noch weniger.

Meine Arbeit in der Fabrik dauerte noch mehrere Monate. Walter Evans hatte inzwischen Montana verlassen und war an eine Universität im Osten gegangen, um einen Fortbildungskurs mitzumachen. Ich hörte nur selten von ihm. Er schickte mir auch kein Geld, und im Jahr 1916 konsultierte ich einen Rechtsanwalt wegen einer Ehescheidung. Ich konnte einfach nicht mehr die Möglichkeit ins Auge fassen, zu ihm zurückzukehren und die Kinder seinen Wutausbrüchen und seiner mürrischen Laune auszusetzen. Er hatte mir keinerlei Anzeichen dafür gegeben, dass er sich irgendwie geändert hätte, und er bewies auch keinerlei Verantwortungsgefühl in bezug auf die Kinder und mich. Im Jahr 1917, als die Vereinigten Staaten in den Krieg eintraten, ging er mit dem Christlichen Verein junger Männer nach Frankreich und blieb dort bis zum Kriegsende. Er leistete ausgezeichnete Dienste und erhielt das Croix de Guerre. Deshalb zog ich damals meine Scheidungsklage zurück, weil man es Frauen allgemein sehr übelnahm, wenn sie sich scheiden liessen, während ihre Männer an der Front waren. Mir erschien das durchaus nicht logisch, denn der Mann an der Front ist doch der gleiche wie der Mann in der Heimat. Ich habe auch nie verstehen können, warum jeder Soldat in der Armee als Held angesehen wird. Wahrscheinlich wurde er eingezogen und konnte nichts dagegen tun. Ich kenne Soldaten ganz genau und weiss, dass sie die «Helden»-Geschichten in den Zeitungen und in der Öffentlichkeit verabscheuen.

Ich hatte es aufgegeben, Walter zu schreiben und hatte ein Gefühl der Erleichterung, weil er so weit weg war. Den Kindern ging es gut, ich hatte viel Freude an ihnen und fühlte mich selbst gesund, obgleich ich nur 99 Pfund wog. Es war mir gelungen, meine Kinder zu ernähren, und ich schien der Lage allmählich Herr zu werden. Im geistigen Sinn tappte ich noch immer im Dunkeln, aber ich war zu sehr damit beschäftigt, Geld zu verdienen und für meine drei kleinen Mädchen zu sorgen, als dass ich mir um meine Seele viel Gedanken gemacht hätte.