Navigieren durch die Kaptitel von diesem Buch

KAPITEL I - Teil 1

KAPITEL I

Wenn ich auf meine frühe Kindheit zurückblicke, dann überkommt mich ein Gefühl grosser Abneigung gegen alles, was damit zusammenhängt. Das ist natürlich ein schlechter Auftakt für eine Lebensbeschreibung. Es ist, was Metaphysiker eine negative Feststellung nennen, aber die Feststellung stimmt. Gar vieles von dem, was ich über meine Kindheit in Erinnerung behalten habe, sagt mir nicht zu, obwohl viele meiner Leser sie vielleicht für ziemlich beneidenswert halten mögen im Vergleich zu dem, was zahllose Tausende in ihren frühen Jahren durchmachen. Viele behaupten, die Kindheit sei die glücklichste Zeit unseres Lebens. Daran glaube ich ganz und gar nicht. Für mich waren es Jahre grösster, physischer Behaglichkeit und eines luxuriösen Lebens; es waren Jahre, frei von jeder materiellen Sorge, aber auch voll nagenden Zweifelns, Jahre der Enttäuschung, unerfreulicher Entdeckungen und der Einsamkeit.

Während ich das schreibe, bin ich mir jedoch der Tatsache bewusst, dass die Nöte der Kindheit (und vielleicht trifft das auf das Leben als Ganzes zu) ungebührlich gross und weit schlimmer erscheinen, als sie in Wirklichkeit sind. Es ist eine merkwürdige Eigenheit der menschlichen Natur, dass sie die unerfreulichen Augenblicke und tragischen Begebenheiten gern vermerkt und betont, aber die Augenblicke der Heiterkeit und Freude, des ereignislosen Friedens und Wohlbefindens übersieht. Unsere Stunden der Spannung und Bedrängnis scheinen unser Bewusstsein (diesen eigenartigen Aufnahme-Apparat aller Ereignisse) weit mehr zu beeindrucken, als die zahllosen Stunden des alltäglichen Lebens. Wenn es auch nicht so scheinen mag, so sind doch diese ruhigen und ereignislosen Stunden letzten Endes bei weitem in der Überzahl. Es sind die Stunden, Tage, Wochen und Monate, in denen unser Charakter geformt, gefestigt und verwendungsfähig wird für die Zeiten der Krisen - der wirklichen, objektiven und oft bedeutenden Krisen - die uns im Lauf der Jahre immer wieder entgegentreten. Dann besteht das, was wir an Charakter entwickelt haben, entweder die Probe und deutet auf einen Ausweg, oder es versagt, und wir erleiden, wenigstens vorübergehend, eine Niederlage. Auf diese Weise werden wir gezwungen, immer von neuem zu lernen. Wenn ich so auf meine Kindheit zurückblicke, so sind es nicht die zahllosen Stunden ereignisloser Zufriedenheit, die Augenblicke des friedlichen Rhythmus und die ruhigen Wochen, die in meinem Gedächtnis fortdauern, sondern die Augenblicke der Krise, die Stunden, in denen ich todunglücklich, und die Zeiten, in denen das Leben scheinbar zu Ende war, und auch die Zukunft nichts erwarten liess, was irgendwie der Mühe wert schien.

Ich erinnere mich, wie meine älteste Tochter an solch einem Punkt anlangte, als sie etwas über zwanzig war. Sie hatte das Gefühl, dass jedes Weiterleben zwecklos sei und bestenfalls monotone Kraftvergeudung bedeuten würde. Warum war das Leben so sinnlos? Warum sollte sie sich damit abfinden? Erst wusste ich nicht, was ich ihr sagen sollte, aber dann erinnerte ich mich an meine eigene Erfahrung und ich weiss noch genau, wie ich ihr erklärte: «Eins kann ich dir versichern, liebes Kind, du weisst nie, was dir die nächste Wegbiegung eröffnet». Ich habe nie gefunden, dass Religion oder allgemeine Redensarten - wie man sie gewöhnlich verzapft - in einer Krisenzeit helfen. Was ihr die nächste Wegbiegung brachte, war der Mann, den sie heiratete, mit dem sie sich innerhalb einer Woche verlobte und mit dem sie seither glücklich lebt.

Man muss das Innewerden all jener Umstände pflegen, die Freude und Zufriedenheit bringen und nicht bloss das wahrnehmen, was Trauer und Not bedeutet. Das Gute sowohl als auch das Böse machen die Summe dessen aus, worauf es ankommt und was der Erinnerung wert ist. Das Gute macht es uns möglich, unseren Glauben an die Liebe Gottes zu bewahren. Das Böse bringt Selbstzucht und spornt uns zu höherer Leistung an. Die Augenblicke des Entzückens, wenn ein Sonnenuntergang unsere staunenden Blicke fesselt oder wenn das Schweigen einer Heidelandschaft tief und ungestört unsern Geist bezaubert - daran sollte man sich erinnern; eine Bergsilhouette am Abendhimmel oder die Farbenpracht eines Gartens, die uns die übrige Welt vergessen lassen; ein Zuruf von Freund zu Freund und eine darauffolgende Stunde wohltuender Seelengemeinschaft; irgendeine schöne Wesensäusserung der Menschenseele, die sich sieghaft aus ihrer Bedrängnis emporschwingt - das sind die Dinge, die wir nicht unbeachtet lassen sollten. Sie sind die wirklich bestimmenden Momente des Lebens. Sie sind Anzeichen des Göttlichen. Wie kommt es, dass man sie so oft vergisst und lieber das Unangenehme, Traurige oder Erschreckende fest im Gedächtnis behält? Ich weiss nicht warum. Auf unserem sonderbaren Planeten prägt sich das Leiden offenbar tiefer ein, als das Glück, und dessen Nachwirkungen sind auch wohl länger spürbar. Vielleicht haben wir auch Angst vor dem Glück und stossen es von uns weg unter dem Einfluss einer Eigenschaft, die den Menschen mehr als irgendeine andere kennzeichnet, nämlich der FURCHT.

In esoterischen Kreisen hört man viel gelehrtes Gerede über das Gesetz von Karma, was doch nur die östliche Bezeichnung für das grosse Gesetz von Ursache und Wirkung ist; und dabei betont man stets nur das böse Karma und wie es sich vermeiden lässt. Ich möchte aber bürgen, dass es im grossen und ganzen weit mehr gutes als böses Karma gibt; das behaupte ich trotz des Weltkrieges und trotz der unaussprechlichen Greuel, die wir durchgemacht haben, und die uns noch heute umgeben, und trotz meiner persönlichen Einsicht in die Dinge, die all denen vertraut sind, die in der Sozialfürsorge arbeiten. Das Böse und das Elend wird vergehen, aber die Zufriedenheit wird bleiben; vor allem wird man zu der Erkenntnis kommen, dass das, was wir so schlecht aufgebaut haben, verschwinden muss und dass sich uns jetzt die Gelegenheit bietet, eine neue und bessere Welt zu erschaffen. Das ist wahr, weil Gott gut ist, weil Leben und Erfahrung gut sind und weil der Wille zum Guten ewig gegenwärtig bleibt. Von jeher wird uns Gelegenheit geboten, das von uns begangene Unrecht wieder gutzumachen und die Falten auszubügeln.

Die einzelnen Gründe für meine damalige Unzufriedenheit liegen so weit zurück, dass ich darauf nicht im besonderen eingehen kann, und was ich davon behalten habe, möchte ich dem Leser nicht aufbürden. Viele Ursachen lagen in mir selbst, das weiss ich genau. Vom weltlichen Standpunkt aus hatte ich keinen Grund, unzufrieden zu sein, und meine Familie und meine Freunde wären sehr überrascht gewesen, wenn sie etwas davon gewusst hätten. Haben wir nicht alle manchmal darüber nachgedacht, was wohl in der Gedankenwelt eines Kindes vor sich gehen mag? Kinder haben ganz bestimmte Ideen über das Leben und seine äusseren Umstände, sie leben in ihrer eigenen Welt, in die man sich nicht einmischen kann, was Erwachsene aber selten zugeben. Ich kann mich keiner Zeit entsinnen, in der ich nicht nachdachte, mir den Kopf zerbrach und Fragen stellte oder mich empörte und Hoffnungen schmiedete. Und dennoch entdeckte ich erst mit fünfunddreissig Jahren, dass ich ein Denkvermögen besass und dass sich damit etwas anfangen lässt. Bis dahin war ich ein Bündel von Gefühlswallungen und Stimmungen; mein Denkvermögen - soweit vorhanden - hatte mich benutzt, anstatt dass ich es benutzte. Auf alle Fälle fühlte ich mich tief unglücklich bis ich mich im Alter von etwa zweiundzwanzig Jahren selbständig machte und mein eigenes Leben zu führen begann. Während meiner Kinderzeit war ich von Schönheit umgeben; mein Leben war voller Abwechslung und ich lernte viele interessante Menschen kennen. Ich erfuhr niemals, was es heisst, irgend etwas zu entbehren. Ich wuchs im üblichen Luxus meiner Zeit und meiner sozialen Klasse auf; ich war äusserst wohlbehütet, aber innerlich widerstand mir das alles.

Ich wurde am 16. Juni 1880 in der englischen Stadt Manchester geboren, wo mein Vater an einem Bauprojekt beschäftigt war, welches die Firma seines Vaters - eine der bedeutendsten Ingenieurfirmen in Grossbritannien - unternommen hatte. Ich bin also im Zeichen der Zwillinge (Gemini) geboren. Das bedeutet stets einen Konflikt zwischen den Gegensätzen - Armut und Reichtum, höchstem Glück und tiefstem Schmerz, Kampf zwischen Seele und Persönlichkeit oder zwischen dem höheren Selbst und der niederen Natur. Die Vereinigten Staaten und die Stadt London stehen unter dem Einfluss von Gemini und daher kommt es, dass in den Staaten und in Grossbritannien der Konflikt zwischen Kapital und Arbeit gelöst werden wird, zwischen zwei Gruppen, welche die Interessen der sehr Reichen und der sehr Armen vertreten.

Bis 1908 kannte ich keinen Mangel; ich brauchte nie über Geld nachzudenken; ich konnte tun und lassen, was ich wollte. Von da an aber lernte ich die Tiefen der Armut kennen. Ich lebte einmal drei Wochen lang von Tee (ohne Milch und Zucker) und trockenem Brot, damit meine drei Kinder das Notwendigste zu essen hatten. Als junges Mädchen war ich wochenlang in vielen reichen Häusern zu Besuch, aber später arbeitete ich als Handlangerin in einer Fabrik, um meine Kinder zu ernähren. Es war eine Sardinen-Konservenfabrik, und bis zum heutigen Tag sehe ich einer Sardine nicht gerne ins Auge. Meine Freunde (und ich benutze dieses Wort in seinem wahrsten Sinn) gehörten allen sozialen Schichten an, von der niedrigsten bis zu Leuten wie dem Grossfürsten Alexander, einem Schwager des letzten Zaren. Ich habe niemals lange am gleichen Platz gewohnt, denn ein Zwillingsmensch bleibt stets in Bewegung. Mein kleiner Enkel, der auch ein wahrer «Zwilling» ist, überquerte zweimal den Atlantik und fuhr zweimal durch den Panamakanal, ehe er vier Jahre alt war. Der Gemini-Einfluss bedeutet andererseits, dass ich, wenn ich mich nicht sehr zusammennahm, immer entweder auf den höchsten Höhen ausgelassenster Glückseligkeit schwebte oder aber von Gram überwältigt in die Tiefen der Verzweiflung herabsank. Aufgrund langer Erfahrung habe ich beide Extreme abzuweisen gelernt und versuche stets, auf ebener Erde zu bleiben. Allerdings gelingt mir das auch nicht immer.

Der Hauptkonflikt meines Lebens war der Kampf zwischen meiner Seele und meiner Persönlichkeit und er hält noch immer an. Dabei fällt mir eine Versammlung einer gewissen «Gruppenbewegung» ein, zu der man mich im Jahr 1935 nach Genf lockte. Ein «gewerbsmässiger» Gruppenleiter mit geschniegeltem Lächeln und harten Zügen amtierte als Vorsitzender, und viele der Anwesenden waren sehr erpicht darauf, ihre Sündhaftigkeit zu beichten und für die erlösende Kraft Christi Zeugnis abzulegen, wobei sie den Eindruck erweckten, als sei Gott persönlich daran interessiert, dass sie (wie eine Anwesende in ihrem Sündenbekenntnis erwähnte) sich bei ihrer Köchin entschuldigte, weil sie zu ihr grob gewesen war. Meines Ermessens hätten hier gute Manieren genügt, ohne dass auf Gott hätte zurückgegriffen werden müssen. Jedenfalls erhob sich eine reizende, ältere Dame, sehr gewandt und mit schelmischem Lächeln. «Sie haben sicher ein wundervolles Zeugnis abzulegen», sagte der Vorsitzende. «Nein», antwortete die Dame, «nein, der Kampf zwischen Christus und mir selbst ist immer noch im Gang, und ich bin mir durchaus nicht sicher, wer die Oberhand behalten wird». Ein solcher Kampf währt immerzu und im Fall eines aufgeweckten und dienenden Zwillingsmenschen nimmt er vitale Bedeutung an, wenn diese auch rein privater Natur ist.

Zwillingsmenschen stehen auch in dem Ruf, wie ein Chamäleon leicht die Farbe zu wechseln, wankelmütig und oft unaufrichtig zu sein. So bin ich allerdings nicht, obschon ich viele Fehler habe, und vielleicht rettet mich mein aufsteigendes Zeichen. Ich habe mich darüber amüsiert, dass führende Astrologen mir verschiedene Zeichen als meinen Aszendenten zuweisen - Virgo (Jungfrau), weil ich Kinder liebe und gern koche und eine Organisation «bemuttere»; Leo (Löwe), weil ich sehr individuell bin (damit meinen sie schwer zu behandeln und dominierend) und ausserdem sehr selbstbewusst; und Pisces (Fische), weil es das Zeichen des Mittlers oder Vermittlers ist. Ich selbst neige zu Pisces, weil mein Mann in diesem Zeichen geboren ist und ebenso meine mir sehr nahe stehende älteste Tochter, mit der ich mich so gut verstand, dass wir uns oft gezankt haben. Ausserdem bin ich bestimmt als Vermittler tätig gewesen, in dem Sinn, dass gewisse Lehren, welche die Hierarchie der Meister in diesem Jahrhundert der Welt übermitteln wollte, in den Büchern enthalten sind, für die ich verantwortlich bin. Was auch mein aufsteigendes Zeichen sein mag, ich bin auf alle Fälle ein echter Zwillingsmensch, und dieses Zeichen hat allem Anschein nach mein Leben und meine Lebensumstände bestimmt.

Die allgemeine und ziemlich undefinierbare Unzufriedenheit meiner Kindheit hatte verschiedene Gründe. Ich war die Unansehnlichste einer ausserordentlich gut aussehenden Familie und ich bin nicht etwa hässlich. Man hielt mich immer für ziemlich dumm in der Schule und für die am wenigsten Intelligente in einer intelligenten Familie.

Meine Schwester war eines der schönsten Mädchen, die ich je zu Gesicht bekam, und sie war äusserst klug. Ich habe immer sehr an ihr gehangen, obwohl sie für mich nichts übrig hat, denn sie ist eine orthodoxe Christin und sie betrachtet jeden, der das Missgeschick einer Ehescheidung erlitt, als Ausgestossene. Sie ist Ärztin und war eine der ersten Frauen in der langen, langen Geschichte der Universität Edinburgh, die mit einem Doktordiplom ausgezeichnet wurde, und wenn ich mich recht entsinne, gelang ihr das zweimal. Sie war noch sehr jung, als sie drei Bände ihrer Gedichte veröffentlichte, und ich habe Kritiken dieser Bücher in der literarischen Beilage der London Times gelesen, die sie als Englands grösste lebende Dichterin bezeichneten. Ein Buch, das sie über Biologie schrieb, und ein anderes über tropische Krankheiten werden, soviel ich weiss, als mustergültige Lehrbücher auf diesen Gebieten betrachtet.

Sie heiratete meinen Vetter ersten Grades, Laurence Parsons, einen bekannten Geistlichen der Anglikanischen Kirche, der eine Zeitlang Dekan der Kapkolonie war. Seine Mutter war der vom Kanzleigericht ernannte Vormund meiner Schwester und meiner selbst. Sie war meines Vaters jüngste Schwester, und Laurence war einer ihrer sechs Söhne, mit denen wir als Kinder viel zusammen waren. Ihr Mann, mein Onkel Clare, ein ziemlich harter und strenger Mensch, war der Bruder des Lord Rosse und Sohn des Lord Rosse, der sich als Astronom einen Namen machte und in der Geheimlehre erwähnt wird. Als Kind hatte ich schrecklich Angst vor ihm, aber ehe er starb, zeigte er mir die andere Seite seines Wesens, die nicht allgemein bekannt war. Die ausserordentliche Freundlichkeit, die er mir während des ersten Weltkrieges bewies, als ich in grösster Armut in Amerika gestrandet war, werde ich nie vergessen. Er schrieb mir hilfreiche und veständnisvolle Briefe und liess mich fühlen, dass es Leute in England gab, die mich nicht vergessen hatten. Ich möchte das hier erwähnen, weil ich nicht glaube, dass seine Familie oder seine Schwiegertochter, meine Schwester, irgendeine Ahnung hatten von den freundlichen Beziehungen, die zwischen mir und meinem Onkel gegen Ende seines Lebens bestanden. Er hat sie nie erwähnt, das weiss ich bestimmt, und auch ich habe bis jetzt darüber geschwiegen.

Meine Schwester widmete sich später der Krebsforschung und hat sich auf diesem so wichtigen Gebiet einen glänzenden Namen verschafft. Ich bin sehr stolz auf sie. Ich habe meine Zuneigung zu ihr nie aufgegeben, und falls sie jemals diese Autobiographie lesen sollte, möchte ich sie das auf diesem Weg wissen lassen. Glücklicherweise glaube ich an das grosse Gesetz der Wiedergeburt, und sie und ich werden eines Tages einmal unsere endgültige Beziehung in befriedigender Weise zum Ausdruck bringen.

Es gibt, glaube ich, keine grössere Belastung im Leben irgendeines Kindes, als die Tatsache, dass es kein eigentliches Heim hat. Dieser Mangel hat meine Schwester und mich ganz bestimmt beeinflusst. Meine beiden Eltern starben, ehe ich neun Jahre alt war, und beide starben an Tuberkulose (oder Schwindsucht, wie man damals sagte). Die Furcht vor Tuberkulose lastete in unseren Kinderjahren wie eine unmittelbare Drohung auf uns beiden, und dazu kam die Tatsache, dass mein Vater unsere - und aus irgendwelchem Grund besonders meine - Existenz übelzunehmen schien. Wahrscheinlich glaubte er, dass meine Mutter länger gelebt hätte, wenn die Geburt zweier Kinder ihre körperliche Kraft nicht aufgebraucht hätte.

Mein Vater war Frederic Foster La Trobe-Bateman, meine Mutter Alice Hollinshead. Beide entstammten sehr alten Familien; meines Vaters Familie lässt sich durch Jahrhunderte hindurch bis zur Zeit vor den Kreuzzügen zurückverfolgen, und die Vorfahren meiner Mutter waren Nachkommen von Hollinshead, dem Chronisten, von dem angeblich Shakespeare so viele seiner Geschichten übernahm. Stammbäume und Ahnengalerien habe ich nie für besonders wichtig gehalten. Jeder hat sie; nur dass eben gewisse Familien darüber Aufzeichnungen besitzen. Und so viel ich weiss, hat keiner meiner Vorfahren irgend etwas besonders Interessantes geleistet. Sie waren ehrbar, aber offensichtlich langweilig. Meine Schwester drückte es so aus: «Sie sassen Jahrhunderte lang zwischen ihren Kohlköpfen». Sie waren ein gesundes, sauberes und gebildetes Geschlecht, aber keiner von ihnen machte im guten oder schlechten Sinn von sich reden.

Das Familienwappen ist immerhin sehr interessant und vom Standpunkt esoterischer Symbolik aus ausserordentlich bedeutsam. Ich verstehe nichts von Heraldik und kann es daher nicht fachmännisch beschreiben. Es besteht aus einem Heroldsstab mit je einem Flügel an beiden Enden, und zwischen beiden Flügeln erscheint der fünfzackige Stern und der Halbmond. Letzterer geht natürlich auf die Kreuzzüge zurück, an denen einige meiner Vorfahren anscheinend teilgenommen haben; aber ich stelle mir das ganze Symbol gern als ein Sinnbild unseres beschwingten Aufstiegs vor, als den Stab der Einweihung, als eine Beschreibung des Ziels und seiner Mittel und Wege, des Evolutionsziels und des Ansporns, der uns alle der Vollendung entgegentreibt - einer Vollendung, die am Ende durch den Stab den Ritterschlag der Anerkennung empfängt. In der Sprache der Symbolik hat der fünfzackige Stern seit jeher den vollendeten Menschen bedeutet, und der zunehmende Mond beherrscht angeblich die niedere oder Formnatur. Das ist das Abc okkulter Symbolik, aber ich finde es interessant, dass all das in unserem Familienwappen zusammentrifft.

Mein Grossvater war John Frederic La Trobe-Bateman. Er war ein sehr bekannter Ingenieur und technischer Berater der britischen Regierung, und er erbaute zu seiner Zeit verschiedene städtische Wasserleitungsanlagen in Grossbritannien. Er hatte eine grosse Familie. Seine älteste Tochter, meine Tante Dora, heiratete Brian Barttelot, den Bruder des Sir Walter Barttelot von Stopham Park, Pulborough in der Grafschaft Sussex, und da sie nach dem Tod meiner Grosseltern zu unserem Vormund bestimmt wurde, waren wir viel mit ihr und ihren vier Kindern zusammen. Zwei dieser Vettern blieben mein Leben lang meine vertrauten Freunde. Beide waren erheblich älter als ich, aber wir hatten uns gern und verstanden uns gut. Brian (Admiral Sir Brian Barttelot) starb erst vor zwei Jahren, und sein Tod bedeutete einen wirklichen Verlust für mich und meinen Mann, Foster Bailey. Wir drei waren eng befreundet, und seine regelmässigen Briefe fehlen uns sehr.

Eine andere Tante, Margaret Maxwell, bedeutete mir wohl mehr als irgendeine andere Verwandte in der Welt, und ich habe deren viele. Sie war nie mein Vormund, aber meine Schwester und ich verbrachten jahrelang jeden Sommer in ihrem Heim in Schottland; bis zu ihrem Tod (sie wurde weit über 80 Jahre alt) schrieb sie mir regelmässig mindestens einmal im Monat. Sie war eine der grossen Schönheiten ihrer Zeit, und ihr Gemälde, das auf Schloss Cardoness in Kirkcudbrightshire hängt, zeigt eine der bezauberndsten Frauen, die man sich vorstellen kann. Sie heiratete den «Younger of Cardoness» (d.h. den «Jungen Herrn» von Cardoness, wie der Erbe gelegentlich in Schottland genannt wird), den ältesten Sohn von Sir William Maxwell; aber da ihr Mann, mein Onkel David, vor seinem Tod starb, ererbte er den Titel nie. Ihr schulde ich mehr, als ich je abtragen kann. Sie gab mir geistige Ziele, und obwohl ihre Theologie sehr engherzig war, dachte sie selbst sehr grosszügig. Sie gab mir gewisse Schlüssel zum geistigen Leben, die mich nie im Stich liessen, gleichwie sie selbst mich nie im Stich liess. Als ich mich für esoterische Dinge zu interessieren begann, schrieb sie, sie könne das nicht verstehen, aber auf alle Fälle traue sie mir, weil sie wisse, dass ich eine tiefe Liebe zu Christus in mir trage, und welche Lehre ich auch aufgeben möge, so wisse sie das eine, dass ich niemals ihn aufgeben würde. Das war die reine Wahrheit. Sie war schön, liebenswert und gut. Ihr Einfluss erstreckte sich weit über die britischen Inseln. Sie besass ein nach ihren Plänen entworfenes und von ihr finanziertes Landkrankenhaus; sie unterstützte Missionare in heidnischen Ländern und war Vorsitzende des Christlichen Vereins junger Mädchen in Schottland. Wenn ich meinen Mitmenschen irgendwelchen Dienst geleistet und irgend etwas getan habe, um ihnen ein gewisses Mass geistiger Erkenntnis zu vermitteln, so liegt das hauptsächlich daran, dass sie mich innig genug liebte, um mich von Anfang an auf den rechten Weg zu weisen. Sie war eine der wenigen, die mich mehr schätzten als meine Schwester. Es besteht ein Band zwischen uns, das fest geknüpft ist und auch in aller Zukunft nicht reissen wird.

Meines Vaters jüngste Schwester, Agnes Parsons, habe ich bereits erwähnt. Seine beiden anderen Geschwister waren Gertrude, die einen Mr. Gurney Leatham heiratete, und sein jüngster Bruder, Lee La Trobe-Bateman, der einzige, der heute noch am Leben ist. Meine Grossmutter war Anne Fairbairn, Tochter des Sir William Fairbairn und Nichte des Sir Peter Fairbairn. Mein Urgrossvater, Sir William, war, glaube ich, ein Partner von James Watt, dem Erfinder der Dampfmaschine, und einer der ersten Eisenbahnbauer der Viktorianischen Zeit. Durch die Mutter meines Grossvaters (deren Mädchenname La Trobe war) entstamme ich einem französischen Hugenottengeschlecht, und die La Trobes in Baltimore sind daher mit mir verwandt, obwohl ich sie nie aufgesucht habe. Charles La Trobe, mein Urgrossonkel, war einer der ersten Gouverneure von Australien, und ein anderer La Trobe war der erste Gouverneur von Maryland. Edward La Trobe, ein dritter Bruder, war ein in Washington und in England sehr bekannter Architekt.

Die Fairbairns gehörten nicht zum sogenannten Geburtsadel, auf den man so viel Wert legt. Vielleicht war das die Rettung des Geschlechts der Bateman-Hollinshead-La Trobe. Sie gehörten zur Geistesaristokratie, und das ist in dieser demokratischen Zeit wichtiger. Sowohl William als auch Peter Fairbairn begannen ihr Leben als Söhne eines armen, schottischen Farmers des 18. Jahrhunderts, und beide waren am Ende reich und erwarben sich Adelstitel. Sir William Fairbairns Name steht in Websters Lexikon, und an Sir Peter erinnert ein Standbild, das auf einem Platz der Stadt Leeds steht. Ich erinnere mich, wie ich vor einigen Jahren zu einer Vorlesung nach Leeds kam. Als die Taxe einen Platz überquerte, bemerkte ich das Standbild eines anscheinend unansehnlichen, bärtigen alten Mannes. Am nächsten Tag ging mein Mann es besichtigen, und ich stellte fest, dass ich meinen Grossonkel kritisiert hatte! Grossbritannien war sogar in jener längst vergangenen Zeit schon demokratisch, und man konnte emporkommen, wenn man das Zeug dazu hatte. Vielleicht erklärt diese Beimischung von Plebejerblut die Tatsache, dass viele meiner Vettern und Basen und deren Kinder bedeutende Männer und hübsche Frauen waren.

Mein Vater machte sich nicht viel aus mir, und wenn ich mein Kinderbildnis ansehe, so wundert mich das kaum - so dünn, verschüchtert und erschreckt sah ich aus. Meiner Mutter entsinne ich mich nicht, denn sie starb im Alter von 29 Jahren, als ich erst sechs Jahre alt war. Ihr wunderschönes, blondes Haar und ihre Sanftmut ist ungefähr alles, was ich von ihr im Gedächtnis behalten habe. Ausserdem ist mir ihr Begräbnis in Torquay, Devonshire, in Erinnerung geblieben, denn meine Hauptreaktion auf dieses Ereignis bestand in folgender Bemerkung zu meiner Cousine Mary Barttelot: «Schau, lange schwarze Strümpfe und Strumpfbänder» - meine allerersten. Ich war aus dem Sockenstadium herausbefördert worden. Auf Kleider kommt es scheinbar immer an, ganz gleich in welchem Alter und unter welchen Umständen! Früher gehörte mir einmal ein ziemlich grosses silbernes Medaillon, das mein Vater immer bei sich zu tragen pflegte, und darin war das einzige Bild meiner Mutter, das ich je besass. Nachdem ich es durch die ganze Welt mit mir herumgetragen hatte, wurde es mir im Sommer 1928 in Stamford, Connecticut, während unserer Abwesenheit aus dem Hause, in dem wir damals lebten, gestohlen, und dazu meine Bibel und ein kaputter Schaukelstuhl. Es war die merkwürdigste Auswahl von Diebesgut, die mir je zu Ohren kam.

Die Bibel war mein grösster persönlicher Verlust. Es war eine Bibel, die einzig in ihrer Art war, und die ich zwanzig Jahre lang als meinen besonderen Schatz betrachtet hatte. Eine vertraute Freundin aus meiner Mädchenzeit, Catherine Rowan-Hamilton, hatte sie mir geschenkt; sie war auf dünnem, weissem Papier gedruckt, mit breiten Rändern für Anmerkungen. Die Ränder waren fast zwei Zoll breit, und darauf hätte man in mikroskopischer (mit einer Radiernadel eingetragener) Schrift die Geschichte meiner geistigen Entwicklung lesen können. Ich hob darin winzige Fotos guter Freunde und Autogramme meiner geistigen Weggenossen auf. Ich wünschte, ich hätte sie jetzt, denn sie würde mir viel erzählen, mich an Menschen und Vorfälle erinnern und mir dabei helfen, die Spur meiner geistigen Entwicklung zurückzuverfolgen - die Entwicklung einer Dienenden.

Als ich wenige Monate alt war, nahm man mich mit nach Montreal in Kanada, wo mein Vater als Ingenieur am Bau der Viktoriabrücke über den Sankt-Lorenz-Strom tätig war. Dort wurde meine einzige Schwester geboren. Ich habe nur zwei markante Erinnerungen an jene Zeit. Eine davon ist die, dass ich mit meinen Eltern in ernste Schwierigkeiten geriet, weil ich meine kleine Schwester in einen Riesenkoffer hineinlotste, in dem unsere vielen, vielen Spielsachen aufgehoben wurden. Wir blieben ziemlich lange vermisst und erstickten beinahe, denn der Deckel schnappte über uns zu. Die zweite Erinnerung bezieht sich auf meinen ersten Selbstmordversuch! Das Leben schien mir einfach nicht der Mühe wert. Die Erfahrung meiner ersten fünf Jahre gab mir das Gefühl dass alles zwecklos sei, und so rechnete ich mir aus, dass ich bloss die (sehr steilen) steinernen Küchenstufen der Länge nach herunterzupurzeln brauchte, um wahrscheinlich tot unten anzukommen. Ich hatte damit kein Glück. Bridget, die Köchin, hob mich (verbeult und zerquetscht) auf und brachte mich nach oben, wo ich viel Trost aber keinerlei Verständnis fand.

Im späteren Verlauf meines Lebens machte ich zwei weitere Versuche, allem ein Ende zu machen, doch konnte ich dabei nur feststellen, dass es sehr schwierig ist, Selbstmord zu begehen. Alle diese Versuche fanden statt, ehe ich fünfzehn war. Als ich etwa elf Jahre alt war, versuchte ich mich mit Sand zu ersticken, aber Sand in Mund, Nase und Augen ist nichts Angenehmes, und ich beschloss, den glücklichen Tag aufzuschieben. Das letzte Mal versuchte ich mich in einem Fluss in Schottland zu ertränken. Wiederum erwies sich der Selbsterhaltungstrieb als zu stark. Seitdem habe ich kein Interesse mehr am Selbstmord, obwohl ich den Drang stets verstehen konnte.

Dieses immer wiederkehrende Gefühl des Elends war vielleicht das erste Anzeichen für die mystische Neigung in meinem Leben die späterhin all mein Denken und Tun motivierte. Mystiker sind Leute mit einem ungeheuren Dualitätsgefühl. Sie sind immer auf der Suche nach etwas, was ihrem Bewusstsein vorschwebt und gefunden werden muss; sie sind stets Liebende und suchen nach etwas, was ihrer Liebe würdig wäre; sie sind sich stets dessen bewusst, mit dem sie eins werden müssen. Sie werden vom Herzen und vom Gefühl beherrscht. Zu jener Zeit sagte mir die Art nicht zu, wie sich das Leben «anfühlte». Ich hatte keinen Sinn für das, was die Welt zu sein schien oder zu bieten hatte. Ich war überzeugt, dass es anderswo etwas Besseres gab. Ich war gefühlskrank, voller Selbstbemitleidung und infolge von Einsamkeit sehr nach innen gerichtet (was besser klingt als egozentrisch) und ausserdem überzeugt, dass mich niemand gern habe. Rückschauend frage ich mich: warum sollten sie auch? Ich kann es ihnen nicht verdenken. Ich gab ihnen nichts von mir selbst. Ich war immer nur mit meiner Reaktion auf Menschen und Umstände voll und ganz beschäftigt. Ich machte mich zum unbefriedigten, dramatischen Mittelpunkt meiner kleinen Welt. Dieses Gefühl, dass es irgendwo etwas Besseres gibt, und die Fähigkeit, mich in Menschen und Zustände einzufühlen und häufig zu wissen, was sie denken oder welche Erfahrung sie gerade durchmachen, war der Anfang der mystischen Phase meines Lebens und sollte mir später gut zustatten kommen.

So machte ich mich bewusst auf die uralte Suche nach der Welt der Bedeutung, die entdeckt werden muss, wenn man die Rätsel des Lebens und die Leiden der Menschheit ergründen will. Fortschritt wurzelt im mystischen Bewusstsein. Ein guter Okkultist muss vorerst einmal ein praktizierender Mystiker sein (vielleicht sollte ich sagen praktischer Mystiker - möglicherweise trifft beides zu), und die Entwicklung der Herzensempfindung und die Kraft, zu fühlen (und zwar mit unfehlbarer Sicherheit zu fühlen), sollte natürlicher und normalerweise der mentalen Annäherungsmethode und der Kraft zu wissen vorausgehen. Sicherlich muss geistiger Instinkt geistigem Wissen vorangehen, genau so, wie die Instinkte des Tieres, des Kindes und des unentwickelten Menschen in jeden Fall der intellektuellen Wahrnehmung vorangehen. Sicherlich muss Vision vorhanden sein, bevor man die Methode beherrscht, diese Vision zur Wirklichkeit zu machen. Sicherlich kommt das Fragenstellen und blinde Tasten nach Gott notwendigerweise vor dem bewussten Betreten des «Pfades», der zur Enthüllung führt.

Vielleicht wird die Zeit kommen, wo man unseren heranwachsenden Jungen und Mädchen einige Aufmerksamkeit im Sinn der Auswertung ihrer normalen, mystischen Neigungen widmen wird. Diese Neigungen werden so oft als jugendliche Phantasien abgefertigt, aus denen man am Ende herauswächst. Mir erscheinen sie als Gelegenheiten, die Eltern und Lehrer ausnützen könnten. Diese Lebensperiode könnte zu höchst konstruktiver Beratung verwendet werden. Die Orientierung des Lebens könnte festgestellt und viel späteres Elend vermieden werden, wenn die verantwortlichen Erzieher für die Ursache und den Zweck der Fragen, des unartikulierten Sehnens und des visionären Strebens Verständnis besässen. Man könnte den jungen Leuten erklären, dass da etwas in ihnen vorgeht, was durchaus normal und recht, die Auswirkung von Erfahrungen vergangener Leben ist und darauf hinweist, dass die mentale Seite ihrer Natur mehr betont werden sollte. Vor allem liesse sich darauf hinweisen, dass die Seele, der innere geistige Mensch, seine Gegenwart fühlbar zu machen sucht. Die Allgemeingültigkeit dieses Vorgangs sollte hervorgehoben und damit die Einsamkeit, das irrige Gefühl der Isolierung und der Besonderheit beseitigt werden, welche die beunruhigenden Begleiterscheinungen dieser Erfahrung ausmachen. Ich glaube, dass diese Art der konstruktiven Nutzbarmachung jugendlicher Triebe und Träume später einmal mehr Beachtung finden wird. Ich betrachte die albernen Jugendtragödien, die ich durchzumachen hatte, lediglich als den Anfang der mystischen Phase meines Lebens, die - mit der Zeit - der okkulten Phase mit ihrem erhöhten Selbstvertrauen, ihrer tieferen Einsicht und ihren unwandelbaren Überzeugungen Platz machte.

Nachdem wir Kanada verlassen hatten, wurde meine Mutter ernstlich krank und wir gingen nach Davos, wo wir einige Monate blieben, bis mein Vater sie nach England zurückbrachte, wo sie starb. Nach ihrem Tod zogen wir alle zu unseren Grosseltern nach Moor Park in Surrey. Vaters Gesundheit hatte sich inzwischen ernstlich verschlechtert. Der Aufenthalt in England bekam ihm nicht, und kurz vor seinem Tod zogen wir Kinder mit ihm nach Pau in den Pyrenäen. Ich war damals acht und meine Schwester sechs Jahre alt. Die Krankheit war aber schon zu weit fortgeschritten, und wir kehrten nach Moor Park zurück und verblieben dort, während mein Vater mit einem Krankenwärter eine lange Seereise nach Australien antrat. Wir sahen ihn nie wieder, denn er starb während der Überfahrt von Australien nach Tasmanien. Ich erinnere mich noch lebhaft an den Tag, als meine Grosseltern die Nachricht von seinem Tod erhielten und als später der Wärter mit Vaters Gepäck und persönlichen Wertsachen auftauchte. Es ist merkwürdig, wie kleine Einzelheiten, z.B. wie dieser Mann meines Vaters Uhr meiner Grossmutter übergab, im Gedächtnis haften bleiben, während andere Dinge von grösserer Bedeutung der Erinnerung zu entschwinden scheinen. Man fragt sich, was eigentlich das Gedächtnis in dieser Weise bestimmt, warum gewisse Dinge haften bleiben und andere nicht.

Moor Park war eines jener grossen, englischen Landhäuser, die eigentlich recht unwohnlich sein müssten und es trotzdem irgendwie fertig bringen, gemütlich zu sein. Es war nicht besonders alt, da es zur Zeit der Königin Anne von Sir William Temple erbaut worden war. Er war es, der die ersten Tulpen in England einführte. Sein in eine Silberkapsel eingeschlossenes Herz lag unter der Sonnenuhr im Ziergarten vor den Fenstern der Bibliothek begraben. Moor Park war in seiner Art eine Sehenswürdigkeit, und an bestimmten Sonntagen wurde das Publikum zur Besichtigung zugelassen. Mit der Bibliothek verknüpfen mich zwei Erinnerungen. Ich sehe mich noch an einem ihrer Fenster stehen, während ich mir das Bild vorzustellen suchte, wie es Sir William Temple gesehen haben muss - mit seinen Ziergärten und Terrassen, bevölkert von angesehenen Lords und Ladies in den Trachten jener Zeit. Und dann gedenke ich einer anderen, diesmal nicht eingebildeten Szene: ich sah meines Grossvaters Sarg, in dem er aufgebahrt war, und darauf einen grossen Kranz, den die Königin Viktoria gesandt hatte.

Meiner Schwester und mein eigenes Leben in Moor Park (wo wir blieben, bis ich beinahe dreizehn war) war streng geregelt. Wir waren an Reisen und Veränderungen gewöhnt, und ich bin sicher, dass wir die Disziplin dringend nötig hatten. Verschiedene Erzieherinnen sorgten nacheinander dafür. Die einzige, an die ich mich aus jenen frühen Kindertagen erinnere, hatte den merkwürdigen Namen Miss Millichap. Sie hatte entzückendes Haar, ein nicht sehr eindrucksvolles Gesicht, ihre Kleider waren in sehr prüder Art vom Saum bis zur Kehle fest zugeknöpft, und sie war stets in den jeweiligen Hilfsprediger verliebt; eine hoffnungslose Liebe, denn sie heiratete keinen von ihnen. Wir hatten oben im Haus ein riesengrosses Schulzimmer, wo eine Erzieherin, eine Kinderschwester und eine Zofe für uns beide sorgten.

Die strenge Disziplin wurde beibehalten, bis ich erwachsen war, und wenn ich daran zurückdenke, werde ich mir darüber klar, wie furchtbar hart sie war. Jede halbe Stunde unseres Lebens war im voraus geplant, und noch heute sehe ich den Stundenplan an der Wand unseres Schulzimmers, der die nächste Pflicht anzeigte. Ich erinnere mich gut daran, wie ich zu ihm hinüberging und mich fragte: «Was kommt jetzt?» Um sechs Uhr aufstehen, bei Regen oder Sonnenschein, ob Sommer oder Winter; eine Stunde lang Tonleiter üben oder Schularbeiten machen, wenn meine Schwester am Klavier dran war; Frühstück punkt acht im Schulzimmer, und dann um neun Uhr Familienandacht unten im Esszimmer. Wir mussten den Tag in rechter Weise mit einem Gedenken Gottes beginnen, und trotz des strengen Familienglaubens finde ich, dass es eine gute Sitte war. Da sass der Herr des Hauses mit der Familienbibel vor sich, und um ihn herum die Familienmitglieder und die Hausgäste; dann kam die Dienerschaft hereinmarschiert, je nach Pflicht und Rang - die Haushälterin, die Köchin, die Zofen, das erste Hausmädchen und die übrigen Hausmädchen, das Küchenmädchen, das Aufwaschmädchen, die Diener und schliesslich der Butler, der die Tür zumachte. Da gab es dann echte Andacht und mancherlei Auflehnung, wahres Höherstreben und intensive Langeweile, denn so ist es nun einmal im Leben. Die Gesamtwirkung war jedoch eine gute, und etwas mehr Gottesgedenken würde uns sicher auch heutzutage ganz guttun.

Dann von 9 Uhr 30 bis Mittag arbeiteten wir mit unserer Gouvernante an unserem Schulpensum, und darauf folgte ein Spaziergang. Unser Mittagbrot durften wir im Speisezimmer essen, aber dabei durften wir kein Wort sprechen, und unser gutes Benehmen und Schweigen wurde von unserer Gouvernante mit scharfem Auge überwacht. Bis heute kann ich mich erinnern, wie ich (nach echter Kinderart) traumverloren und mit aufgestützten Ellbogen zum Fenster hinausstarrte, um dann plötzlich wieder im Alltag aufzuwachen, als ich hörte, wie meine Grossmutter dem am Tisch servierenden Diener sagte: «James, bitte bringen sie zwei Untertassen und tun sie Miss Alice's Ellbogen hinein». Das tat James auch gehorsam und während der übrigen Mahlzeit mussten meine Ellbogen dort bleiben. Die Beschämung habe ich nie vergessen und heute noch, nach mehr als fünfzig Jahren, bin ich mir bewusst, gegen eine Regel zu verstossen, wenn ich - meiner Gewohnheit nach - die Ellbogen auf den Tisch stütze. Nach dem Mittagessen mussten wir eine Stunde lang auf einem schrägen Brett liegen, während unsere Gouvernante uns ein erbauliches oder lehrreiches Buch vorlas; dann folgte wieder ein Spaziergang und darauf Schularbeiten bis fünf Uhr.

Um diese Zeit mussten wir in unser Schlafzimmer gehen, wo die Kinderschwester oder die Zofe uns zum Heruntergehen ins Gesellschaftszimmer fertig machte. Weisse Röcke, bunte Schärpen, Seidenstrümpfe und gut gebürstete Haare waren die Vorschrift, und dann mussten wir nach unten, wo die Hausgesellschaft nach dem Tee versammelt war. Dort standen wir in der Tür, machten unseren Knicks und unterwarfen uns der Tortur, angesprochen und besichtigt zu werden, bis die Gouvernante uns wieder abholen kam. Unser eigenes Abendbrot war um 18.30 im Schulzimmer, und nachher mussten wir bis zum Zubettgehen um 20:00 wieder Schularbeiten machen. Nie gab es in jener Viktorianischen Zeit irgend etwas für uns zu tun, was wir als Einzelmenschen vielleicht gern hätten tun mögen. Es war ein Leben der Disziplin, des Rhythmus und Gehorsams, mit gelegentlichen Ausbrüchen von Auflehnung und darauffolgender Bestrafung.

Als ich das Leben meiner eigenen drei Mädchen in Amerika beobachtete, die in den Vereinigten Staaten geboren wurden und dort lebten, bis sie etwa zwanzig Jahre alt waren, und ihren Weg durch das öffentliche Schulsystem des Landes verfolgte, da habe ich mich oft gefragt, wie ihnen wohl das streng geregelte Leben zugesagt haben würde, das meine Schwester und ich durchmachen mussten. Mit mehr oder weniger Erfolg habe ich versucht, meinen Töchtern das Dasein angenehm zu machen, und wenn sie sich mal über dessen Härte beklagten - wie das alle jungen Menschen normaler- und natürlicherweise tun - dann musste ich immer wieder daran denken, wie herrlich sie sich doch amüsieren durften im Vergleich zu den Mädchen meiner Generation und sozialen Herkunft.

Bis zum 20. Lebensjahr war mein Leben gänzlich der Regelung durch meine Erzieher oder den sozialen Bräuchen meiner Zeit unterworfen. Ich durfte dies und jenes nicht tun; diese oder jene Haltung war unkorrekt; was würden die Leute darüber denken oder sagen? Du kommst ins Gerede, wenn du dies oder jenes tust; das ist nicht der Typ eines Menschen, mit dem du bekannt werden darfst; sprich nicht mit jenem Mann oder jener Frau; feine Leute sprechen oder denken nicht so; du darfst nicht in Gegenwart anderer gähnen oder niesen; du darfst erst sprechen, wenn du angesprochen wirst usw. usw.. Das Leben war eingeengt durch das, was man unmöglich tun durfte, und es verlief nach peinlichst genauen Regeln, die jede nur mögliche Situation vorsahen.

Zwei andere Dinge sind mir besonders klar in Erinnerung geblieben. So bald als möglich wurde uns beigebracht, für die Armen und Kranken zu sorgen und uns darüber klar zu sein, dass günstige Lebensumstände eine Verpflichtung bedeuten. Mehrere Male in der Woche, wenn es Zeit zum Ausgehen war, mussten wir uns von der Haushälterin Gelee oder Suppe für einen Kranken im Gutsbereich holen, oder Kinderkleidung für ein neugeborenes Baby in einer der Angestelltenwohnungen, oder auch Bücher für jemand, der durch Krankheit ans Haus gebunden war. Das mag man als Beispiel für die väterliche Bevormundung und des Feudalsystems im damaligen Grossbritannien ansehen, aber es war schon etwas Gutes daran. Vielleicht ist es gut, dass all das vorbei ist - und persönlich bin ich froh darüber -, aber es würde nichts schaden, wenn die Reichen in diesem Land etwas von dem anerzogenen Verantwortungs- und Pflichtgefühl gegenüber anderen bewahrt hätten. Uns wurde eingeschärft, dass Geld und soziale Stellung gewisse Verpflichtungen mit sich bringen, und dass man diesen Verpflichtungen nachkommen muss.

Was mir zweitens lebhaft in Erinnerung blieb, ist die Schönheit der Landschaft, die blumenreichen Feldwege und die vielen Wälder, die meine Schwester und ich in unserem kleinen Ponywagen durchfuhren. Es war, was man zu jener Zeit ein «Gouvernantengefährt» nannte, das, glaube ich, besonders für kleine Kinder gedacht war. An Sommertagen pflegten meine Schwester und ich damit auszufahren, begleitet von einem kleinen Pagen, der in Uniform mit Knöpfen und einer Kokarde am Hut auf dem Trittbrett stand. Oft frage ich mich, ob wohl meine Schwester auch noch an jene Zeiten denkt.

Nach meines Grossvaters Tod wurde Moor Park verkauft, und wir zogen für kurze Zeit zu unserer Grossmutter nach London. Vor allem erinnere ich mich daran, wie wir damals mit ihr in einer Viktoria (wie diese Art Wagen genannt wurde) zweispännig mit einem Kutscher und einem livrierten Diener auf dem Bock im Park herumfuhren. Das war sehr langweilig und eintönig. Dann wurden wir anderweitig untergebracht, aber bis zu Grossmutters Tod war ich oft bei ihr zu Besuch. Sie war damals schon eine sehr alte Dame, die aber immer noch Anzeichen ihrer Schönheit aufwies; sie muss einmal sehr gut ausgesehen haben, wie ein Bild beweist, das zu ihrer Hochzeit anfangs des 19. Jahrhunderts gemalt wurde. Als ich mit meiner ältesten Tochter, die damals noch ein ganz kleines Kind war, zu Besuch bei meinen Verwandten gewesen war und nach Amerika zurückfuhr, kam ich müde, krank, elend und voller Heimweh wieder in New York an. Ich ging ins Gotham Hotel in der fünften Avenue zum Mittagessen. Während ich dort traurig und niedergeschlagen im Vestibül sass, griff ich eine illustrierte Zeitung auf. Als ich sie zum Zeitvertreib öffnete, entdeckte ich zu meiner Überraschung die Bilder meiner Grossmutter, meines Grossvaters und meines Urgrossvaters, die mich da plötzlich anzublicken schienen. Ich war so überrascht, dass ich weinte, aber danach fühlte ich mich nicht mehr so weit entfernt von ihnen allen.

Von der Zeit an, als ich (etwa 13 Jahre alt) London verliess, bis zum Abschluss meiner Ausbildung, war mein Leben voller Wechsel und steter Bewegung. Weder meiner Schwester noch meine eigene Gesundheit wurde für besonders gut gehalten, und wir verbrachten verschiedene Winter im Ausland an der französischen Riviera, wo man uns eine kleine Villa mietete, neben der grösseren, in der ein Onkel und eine Tante wohnten. Dort hatten wir französische Lehrer und eine Gouvernante, die als Anstandsdame mit uns wohnte, und wir wurden ausschliesslich in französischer Sprache unterrichtet Die Sommer verlebten wir im Haus einer anderen Tante in Südschottland, und von dort aus fuhren wir öfters zu anderen Verwandten und Bekannten in Galloway auf Besuch. Heute weiss ich, wie reich dieses Leben an Erfahrungen und Bekanntschaften war; es war voller Musse und Schönheit und wirklicher Kultur. Im Herbst waren wir dann unten in Devonshire, stets begleitet von Miss Godby, einer Hauslehrerin, die zu uns kam, als ich zwölf Jahre alt war und bei uns blieb, bis ich im Alter von achtzehn in ein Pensionat nach London ging. Sie war die einzige Person, an der ich einen sicheren Halt hatte. Sie gab mir ein Gefühl der Zugehörigkeit und war einer der wenigen Menschen in meinem damaligen Leben, von denen ich genau wusste, dass sie mich wirklich liebten und an mich glaubten.

Drei Menschen gaben mir zu jener Zeit das Gefühl dieses Vertrauens. Einer war meine Tante, Frau Maxwell, von der ich bereits gesprochen habe. Wir verbrachten jeden Sommer bei ihr und wenn ich daran zurückdenke, escheint sie mir als eine der grundlegenden, bestimmenden Kräfte meines Lebens. Sie gab mir einen Schlüssel zum Leben, und bis zum heutigen Tag fühle ich, dass alles, was ich irgendwie zu leisten vermochte, auf ihren tief geistigen Einfluss zurückgeführt werden kann. Bis zu ihrem Tod blieb sie brieflich in enger Verbindung mit mir, obwohl ich sie die letzten zwanzig Jahre vor ihrem Tod nicht mehr zu sehen bekam. Die andere Person, die mir stets Verständnis entgegenbrachte, war Sir William Gordon in Earlston. Er war kein Blutsverwandter, sondern durch Heirat mit mir verwandt, und wir nannten ihn alle bloss Onkel Billie. Er hatte als junger Leutnant den Todesritt der leichten Brigade bei Balaklava im Krimkrieg mitgemacht und gerüchtweise verlautet, dass er der einzige war, der «mit dem Kopf unterm Arm» von diesem Angriff zurückkehrte. Ich habe als Kind oft die goldenen Klammern berührt, welche die Chirurgie jener Zeit in seinen Schädel eingesetzt hatte. Auf alle Fälle trat er stets für mich ein, und ich höre ihn noch heute zu mir sagen (wie das häufig vorkam): «Ich verlass mich auf dich, Alice. Geh, deinen eigenen Weg. Er wird schon für dich der richtige sein».

Die dritte war die bereits erwähnte Hauslehrerin. Ich bin mit ihr stets in Verbindung geblieben und sah sie noch kurz vor ihrem Tod um 1934 herum. Sie war damals eine alte Dame, aber mir schien sie unverändert. Zweierlei interessierte sie damals. Sie fragte meinen Mann, ob ich noch an Christus glaubte, und schien sehr beruhigt, als er ihr sagte, das sei ganz bestimmt der Fall. Was sie ausserdem wissen wollte, bezog sich auf eine schreckliche Ungezogenheit in meiner Kinderzeit. Sie wollte wissen, ob ich mich noch daran erinnerte, wie ich eines Morgens, als ich ungefähr vierzehn war, ihre gesamten Schmucksachen in die Toilette warf und dann den Spüler zog. Allerdings wusste ich das noch. Es war ein vorsätzliches Vergehen. Ich war auf sie wegen irgendeiner Sache wütend, habe aber ganz vergessen, was es eigentlich war. Ich ging auf ihr Zimmer, raffte alles zusammen, was sie an Wertsachen besass - Armbanduhr, Broschen, Ringe usw. - und verfügte darüber in unwiederbringlicher Weise. Ich dachte, sie könne unmöglich merken, dass ich der Täter war. Ich entdeckte aber, dass sie mich und meine Entwicklung höher einschätzte als ihre eigenen Besitztümer. Ich war also, wie man sehen kann, kein nettes Kind. Nicht genug damit, dass ich zu Wutausbrüchen neigte, ich wollte auch immer feststellen, wie die Menschen darauf reagierten und aus welchen inneren Gründen sie sich geradeso und nicht anders betätigten oder benahmen.

Miss Godby hatte die Gewohnheit, ein Selbstprüfungsheft zu führen, in dem sie jeden Abend die Verfehlungen des Tages eintrug, wobei sie in einer Weise, die mir (von meinem heutigen Standpunkt aus) nahezu krankhaft erscheint, ihre Worte und Taten jedes Tages im Licht der Frage analysierte: «Was hätte Jesus in einem solchen Fall getan?» Ich hatte eines Tages im Verlauf meines neugierigen Nachstöberns dieses Buch bei ihr entdeckt und es mir zur Gewohnheit gemacht, ihre Aufzeichnungen sorgfältig durchzulesen. Auf diese Weise fand ich heraus, dass sie wusste, dass ich alle ihre Schmucksachen entwendet und vernichtet hatte, dass sie mir aber - aus Gründen der Selbstdisziplin und in der Absicht, mir zu helfen, - kein Wort sagen würde, bis mich mein eigenes Gewissen zur Beichte zwingen würde. Sie wusste, dass ich unvermeidlich beichten würde, denn sie hatte Vertrauen in mich - warum, kann ich mir nicht vorstellen. Nach drei Tagen ging ich zu ihr und sagte ihr, was ich getan hatte, musste aber feststellen, dass sie weit mehr darüber betrübt war, dass ich ihre persönlichen Papiere gelesen, als dass ich ihre Schmucksachen vernichtet hatte. Wohlgemerkt, ich gestand alles. Die Art und Weise jedoch, wie sie auf diesen Vorfall reagierte, gab mir ein ganz neues Gefühl für Wertmassstäbe. Es regte mich zu heftigem Nachdenken an, was für meine Seele gut war. Zum ersten Mal begann ich zwischen geistigen und materiellen Werten zu unterscheiden. So unehrlich zu sein, persönliche Papiere zu lesen, war in ihren Augen eine grössere Sünde als materielle Dinge zu vernichten. Sie gab mir den Anfangsunterricht zum ersten grossen Lehrsatz des Okkultismus: Zwischen dem Selbst und dem Nichtselbst sowie zwischen unkörperlichen und greifbaren Werten einen Unterschied zu machen.

Während sie bei uns war, machte sie eine Erbschaft, keine besonders grosse Summe, aber immerhin genug, um sie von der Notwendigkeit zu befreien, ihren Lebensunterhalt verdienen zu müssen. Sie weigerte sich aber uns zu verlassen, da sie das Gefühl hatte (wie sie mir später erklärte, als ich älter war), dass ich ihrer Fürsorge und ihres Verstehens weiterhin bedurfte. Es besteht wohl kein Zweifel, dass ich in meinen menschlichen Beziehungen vom Schicksal begünstigt wurde und hauptsächlich deshalb, weil die Menschen so reizend, gut und verständnisvoll sind. Ich möchte öffentlich bekennen, dass Miss Godby und meine Tante Margaret mir etwas von solch wahrhaft geistiger Bedeutung mitgegeben haben, dass ich bis zum heutigen Tag der besonderen Note nachzuleben versuche, die sie angeschlagen haben. Sie waren ganz verschiedene Menschen. Miss Godby war unansehnlich, von einfacher Herkunft und durchschnittlicher Begabung, aber sie war innerlich gesund und liebevoll. Meine Tante war ausserordentlich schön und wegen ihrer Wohltätigkeit und religiösen Einstellung wohlbekannt, aber sie war ebenso gesund und liebevoll.

Mit 18 wurde ich zur Fortbildung in ein Mädchenpensionat nach London geschickt, während meine Schwester mit einer Gouvernante wieder nach Südfrankreich ging. Es war das erste Mal, dass wir getrennt wurden und das erste Mal, dass ich auf mich allein gestellt war. Ich glaube nicht, dass ich in der Schule besonders erfolgreich war; ich war gut in Geschichte und Literatur, wirklich sehr gut. Ich hatte eine gute, klassische Erziehung genossen und es geht eben doch nichts über eine intensive, individuelle Ausbildung, die ein Kind von einem tüchtigen und kultivierten Privatlehrer erhalten kann. In der Mathematik jedoch, selbst im gewöhnlichen Rechnen war ich einfach hoffnungslos, so schlecht, dass die Schule dieses Fach ganz und gar aus meinem Lehrprogramm strich, weil es unmöglich schien, ein grosses Mädchen von achtzehn Jahren mit zwölfjährigen Kindern rechnen zu lassen. Wenn ich mir irgendeinen Anspruch auf eine bleibende Erinnerung verschafft habe (was immerhin zweifelhaft erscheint), so deshalb, weil ich diejenige war, die einmal alle Federkissen sammelte und sie vom dritten Stock auf die Köpfe der Gäste und der Schulvorsteher hinunterfallen liess, als diese in feierlicher Prozession in den Speisesaal im Erdgeschoss marschierten. Dabei flüsterten mir die anderen Mädchen bewundernden Beifall zu.

Darauf folgte eine Zwischenpause von zwei sehr eintönigen und ereignislosen Jahren. Unser Vormund mietete uns ein kleines Haus in einer Kleinstadt in Hertfordshire in der Nähe von St. Albans, richtete uns dort mit einer Anstandsdame ein und überliess uns dann unseren eigenen Neigungen. Als allererstes beschlossen wir beide, uns Fahrräder zu kaufen, die besten, die es damals gab, und damit die Umgebung zu erforschen. Bis heute denke ich an die erwartungsvolle Spannung, als die beiden Holzverschläge eintrafen und wir uns daran machten, diese funkelnden Erzeugnisse der Technik auszupacken. Wir fuhren überall hin und hatten viel Spass. Wir erforschten die Landschaft, die damals noch ganz unberührt und noch nicht zu der Vorstadtgegend geworden war, die sie heute ist. Ich denke, es war zu jener Zeit, dass ich meinen Sinn für das Geheimnisvolle entwickelte, der sich später zu einer grossen Vorliebe für Kriminalromane und geheimnisvolle Geschichten auswuchs. Als wir an einem sonnigen Morgen unsere Fahrräder einen sehr steilen Hügel hinaufschoben, fuhren zwei Männer im Freilauf bergab an uns vorüber. Gerade in diesem Augenblick rief der eine seinem Begleiter über die Schulter hinweg zu: «Aber du kannst mir glauben, mein lieber Junge, es stand auf einem Bein und rannte wie verrückt». Immer noch denke ich über jenes Rätsel nach, ohne es gelöst zu haben.

Während dieser Zeit machte ich meinen ersten Versuch, zu unterrichten. Ich übernahm eine Klasse von Jungen im Kindergottesdienst. Sie waren so um fünfzehn Jahre alt und man sagte mir, sie seien ziemlich schwer zu bändigen. Ich machte zur Bedingung, dass ich sie in einem leeren Saal nahe der Kirche, aber nicht in der Kirche selbst unterrichten durfte, und dass man mich dabei allein lassen sollte. Wie sich herausstellte, sollte es uns nie an Unterhaltung mangeln. Erst brüllte alles wild durcheinander, und ich vergoss Tränen, aber nach Ablauf von drei Monaten waren wir eine engverbundene Gruppe guter Kameraden. Was ich ihnen beibrachte und wie ich das tat, ist längst vergessen. Alles, was mir in Erinnerung blieb, ist viel Lachen und Lärm und viel Freundschaft. Vielleicht habe ich auf die Dauer etwas Gutes erzielt, das weiss ich nicht, aber ich weiss genau, dass ich sie jeden Sonntagmorgen zwei Stunden lang davon abhielt, Unfug zu treiben.

Während jener Zeit und bis zum zweiundzwanzigsten Lebensjahr, als ich (ebenso, wie meine Schwester) das Verfügungsrecht über ein eigenes, kleines Einkommen erhielt, lebten wir das Leben von jungen Mädchen der Gesellschaft; wir machten drei sogenannte «Londoner Saisons» mit, nahmen an der üblichen Runde von Gartenfesten, Teegesellschaften und Diners teil, und kamen schliesslich auf die Kandidatenliste des Heiratsmarkts. Ich war damals tief religiös, musste aber zu Tanzveranstaltungen mitgehen, da ich meine Schwester nicht allein an solch sündhaften Betätigungen teilnehmen lassen wollte. Wie die Leute, die ich dort traf, mich aushalten konnten, weiss ich nicht. Ich war so religiös und so von Mystizismus durchdrungen, und hatte ein so krankhaft empfindliches Gewissen, dass es mir damals unmöglich war, mit jemandem zu tanzen oder neben ihm bei Tisch zu sitzen, ohne mich zu vergewissern, ob er «seinen Heiland gefunden» habe oder nicht. Das einzige, was mich vor einer kompletten Abfuhr und vor heftiger Verabscheuung bewahrte, war wohl die Tatsache, dass ich es ehrlich meinte, und dass es mir offensichtlich sehr peinlich war, diese Fragen stellen zu müssen. Ausserdem war ich sehr jung, sehr kindisch, sehr gut aussehend und gut gekleidet und - trotz meiner offensichtlichen Heiligkeit war ich flott, intelligent, gut erzogen und gelegentlich interessant.

Ich habe heimlich Respekt vor mir selbst, wenn ich zurückdenke, denn ich war so schrecklich befangen und zurückhaltend, dass ich jedesmal unbeschreibliche Qualen erlitt, wenn ich mich dazu aufraffte, dieser Sorge um die Seelen fremder Menschen Ausdruck zu geben.

Abgesehen davon, dass meine Tante und meine Gouvernante religiöse Menschen waren, was war es eigentlich, was mich in meinem geistigen Höherstreben so unbeirrt und so entschlossen machte, den guten, geraden Weg zu gehen? Dass diese Entschlossenheit durch meine religiöse Umgebung beeinflusst wurde, ist nicht der wirkliche Grund dafür; ich wusste für meine Geistigkeit keine bessere Ausdrucksform als jeden Morgen zur Kommunion zu gehen und nach Möglichkeit zu versuchen, andere Leute zu erlösen. Diese besondere Manifestation von Frömmigkeit und religiöser Beflissenheit war für mich unumgänglich, und mit der Zeit wuchs ich darüber hinaus. Welcher Umstand war es aber, der mich aus einem zu hässlichen Temperamentsausbrüchen geneigten, ziemlich eingebildeten und untätigen Menschenkind in eine geistige Arbeiterin verwandelte und - wenigstens vorübergehend - zur Fanatikerin machte?

Am 30. Juni 1895 hatte ich ein Erlebnis, das mir diesen Tag für alle Zeiten unvergesslich macht. Monatelang hatte ich unter dem Druck jugendlicher Gemütsverstimmungen gelitten. Das Leben schien mir nicht der Mühe wert. Überall sah ich mich nur von Leid und Beschwerlichkeit umgeben. Ich hatte mich nicht danach gedrängt, in diese Welt zu kommen, und doch war ich hier. Ich war gerade fünfzehn geworden. Niemand liebte mich und ich wusste, dass ich eine hässliche Gemütsart hatte und war daher nicht überrascht, dass das Leben mir Schwierigkeiten bereitete. Die Zukunft versprach mir nichts, ausser Heirat und dem eintönigen Dasein meiner Kaste und Clique. Ich hasste meine Mitmenschen (ausser zwei oder drei Leuten) und war eifersüchtig auf meine Schwester, ihre Klugheit und ihr gutes Aussehen. Man hatte mich die engstirnigste Art von Christentum gelehrt; wer nicht dasselbe glaubte wie ich, konnte nicht erlöst werden. Die Anglikanische Kirche zerfiel in die Hochkirchenpartei, die beinahe anglo-katholisch war, und die niedere (Low Church) Kirchenpartei, die an eine Hölle glaubte für alle, die gewisse Glaubenssätze ablehnten und an einen Himmel für die anderen, die sie annahmen. Sechs Monate lang gehörte ich jedes Jahr der einen Partei an, und die übrigen sechs (wenn ich nicht in Schottland und unter dem Einfluss meiner Tante war) der anderen. Ich schwankte hin und her zwischen der Schönheit der Liturgie und der Enge des Dogmas. Missionstätigkeit wurde von beiden Gruppen meinem Bewusstsein eingehämmert. Die Welt war geteilt in diejenigen, die Christen waren und sich um die Erlösung von Seelen bemühten, und in die anderen, die Heiden waren und sich anbetend vor steinernen Bildern verneigten. Der Buddha war ein steinernes Bild; es war mir damals nie in den Sinn gekommen, dass die Christusstatuen und Bilder, die ich in den christlichen Kirchen des europäischen Kontinents so oft gesehen hatte, auf der gleichen Stufe standen. Ich tastete vollkommen im Nebel. Und dann - auf dem Höhepunkt meiner Betrübnis und inmitten meines Dilemmas und meiner Zweifel - kam einer der Meister der Weisheit zu mir.

Zur Zeit dieses Ereignisses und viele Jahre danach hatte ich nicht die blasseste Ahnung, wer er war. Die Begebenheit liess mich vor Angst erstarren. Trotz meiner Jugend besass ich Intelligenz genug, um etwas von jugendlichem Mystizismus und religiöser Hysterie zu wissen; ich hatte Missionshelfer darüber sprechen hören. Ich hatte viele religiöse Versammlungen besucht und gesehen, wie Leute dabei «ausser Kontrolle» gerieten, wie ich es nannte. Ich erzählte daher niemandem etwas von meinem Erlebnis, da ich befürchtete, man könnte mich als «geistesgestört» bezeichnen und dementsprechend behandeln und streng überwachen. Ich war geistig intensiv wach und bis zu einem gewissen Grad meiner Fehler bewusst. Ich war damals bei meiner Tante Margaret in Castramont in Kirkcudbrightshire zu Besuch und die Atmosphäre war dazu wie geschaffen.