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KAPITEL I - Teil 2

Es war ein Sonntagmorgen. Am vorhergehenden Sonntag hatte ich eine Predigt gehört, die meinem ganzen höherem Streben Auftrieb gegeben hatte. Diesen Sonntag war ich aus irgendeinem Grund nicht zur Kirche gegangen. Die übrige Hausgesellschaft war hingegangen und es war sonst niemand zu Hause als ich und die Diener. Ich sass im Gesellschaftszimmer und las. Die Tür öffnete sich und herein kam ein hochgewachsener Mann in europäischer Kleidung (von sehr gutem Schnitt, wie ich mich entsinne), aber mit einem Turban auf dem Kopf. Er kam näher und setzte sich neben mich. Ich war angesichts des Turban so versteinert, dass ich keinen Ton herausbringen konnte oder auch nicht zu fragen vermochte, was er denn hier wolle. Dann begann er zu sprechen. Er sagte mir, dass es da für mich in der Welt etwas zu tun gäbe, wie es geplant sei, aber nur unter der Bedingung, dass ich meine Charakterveranlagung sehr beträchtlich änderte; ich würde aufhören müssen, solch ein unangenehmes, kleines Mädchen zu bleiben und müsste versuchen, mir ein gewisses Mass von Selbstkontrolle anzueignen. Meine zukünftige Verwendbarkeit für ihn und für die Welt würde davon abhängen, wie ich mich benehmen und bis zu welchem Grad ich mich ändern würde. Er sagte, wenn es mir gelänge, wirkliche Selbstkontrolle zu erlangen, dann würde man sich auf mich verlassen können; ich würde über die ganze Welt reisen, viele Länder besuchen und dabei «allezeit deines Meisters Werk tun». Diese Worte haben mir seitdem stets in den Ohren geklungen. Er betonte, dass alles von mir abhinge und sagte mir, was ich tun könnte und ab sofort tun sollte. Er fügte hinzu, er würde in Abständen von mehreren Jahren immer wieder mit mir in Verbindung treten.

Es war ein sehr kurzes Interview. Ich sagte nichts, sondern hörte nur zu, während er ziemlich eindringlich sprach. Als er gesagt hatte, was zu sagen er gekommen war, stand er auf und ging hinaus, nachdem er in der Tür einen Augenblick Halt gemacht hatte, um mir einen Blick zuzuwenden, an den ich mich bis zum heutigen Tag sehr gut erinnere. Ich wusste nicht, was ich aus all dem machen sollte. Als ich mich von dem Schock erholt hatte, war ich zunächst voller Angst und dachte, ich verlöre meinen Verstand oder ich hätte geschlafen und geträumt, aber dann reagierte ich mit einem Gefühl eitler Selbstzufriedenheit. Ich kam mir vor wie die Jungfrau von Orleans (für die ich damals schwärmte) und bildete mir ein, dass ich gleich ihr geistige Visionen hätte und demnach für ein grosses Werk auserwählt sei. Worum es sich dabei handelte, konnte ich mir nicht vorstellen, aber ich sah mich in dramatischer Weise als die bewunderte Lehrerin von Tausenden. Das ist ein bei Anfängern sehr häufiger Irrtum, und ich kann ihn heute oft bei verschiedenen okkulten Gruppen beobachten. Es steht fest, dass Leute, die es aufrichtig meinen und wirklich höher streben, es fertigbringen, irgendeinen inneren, geistigen Kontakt herzustellen, und dann deuten sie ihn im Sinn eines persönlichen Erfolgs und der eigenen Wichtigkeit. Das ist eine Reaktion, die auf Überstimulierung beruht. Bei mir folgte darauf ein weiteres Stadium, in dem die Kritik, die er an mir geübt hatte, in meinem Denken vollends überwog. Ich kam zu dem Schluss, dass ich am Ende vielleicht doch nicht ganz in die Rangklasse der Jungfrau von Orleans gehörte, sondern bloss jemand war, der netter sein könnte, als ich es bisher gewesen war, und der sich bemühen könnte, seine recht wilden Temperamentsausbrüche unter Kontrolle zu bringen. Das begann ich zu tun. Ich versuchte, meine üble Laune und meine Zunge im Zaum zu halten und eine Zeitlang benahm ich mich so unausstehlich gut, dass meine Familie sich Sorgen machte; sie dachten, ich wäre vielleicht krank und baten mich nahezu, meine aufbrausenden Launen erneut in Szene zu setzen. Ich war selbstzufrieden, süss-sanft und sentimental.

Im Lauf der Zeit stellte ich in Abständen von sieben Jahren (bis zum fünfunddreissigsten Lebensjahr) gewisse Anzeichen dafür fest, dass dieses Wesen mich überwachte und an mir Interesse nahm. Dann entdeckte ich 1915, wer er war, und dass andere ihn auch kannten. Von da an wurde unsere Beziehung immer enger, und heute kann ich mich nach Belieben mit ihm in Verbindung setzen. Eine solche Zugänglichkeit auf seiten eines Meisters ist jedoch nur dann möglich, wenn ein Jünger seinerseits gewillt ist, diese Gelegenheit niemals für sich selbst wahrzunehmen, sondern nur im Fall eines wirklichen Notstandes im Dienst an der Welt.

Ich fand heraus, dass mein Besucher der Meister K. H. war, der Meister Kut Humi, ein Christus sehr nahestehender Meister, ein Weltlehrer und ein hervorragender Exponent der Liebe-Weisheit, die in Christus ihren vollsten Ausdruck erreicht. Der wirkliche Wert dieses Erlebnisses liegt nicht darin, dass ich, ein junges Mädchen namens Alice La Trobe-Bateman, ein Interview mit einem Meister hatte, sondern in der Tatsache, dass ich einen von ihnen kennenlernte und dass er mit mir sprach, obwohl ich von der Existenz der Meister gar nichts wusste. Ebenso wertvoll ist die Tatsache, dass alles, was er mir sagte, wahr wurde (nachdem ich mich angestrengt bemüht hatte, den Anforderungen zu entsprechen) sowie meine Feststellung, dass er nicht der Meister Jesus war, wie ich natürlich angenommen hatte, sondern einer, der mir gänzlich unbekannt war. Auf jeden Fall ist der Meister K. H. mein geliebter und wirklicher Meister. Seit meinem fünfzehnten Lebensjahr habe ich für ihn gearbeitet, und heute bin ich einer von den älteren Jüngern in seiner Gruppe, in seinem Ashram, wie es esoterisch heisst.

Wenn ich diese Feststellungen mache, so verfolge ich damit eine bestimmte Absicht. Es wird in diesem Zusammenhang so viel Unsinn geredet und es werden oft von Leuten, die weder die Erfahrung noch die erforderliche mentale und geistige Orientierung besitzen, oft derart anmassende Behauptungen aufgestellt, dass wirkliche Jünger sich schämen, ihr Werk und ihre Stellung zu erwähnen. Solchen Jüngern möchte ich es in Zukunft leichter machen und den Unsinn blosstellen, den so viele (sogenannte) esoterische Gedankenrichtungen verbreiten. Die Behauptung, Jünger zu sein, ist jederzeit zulässig; sie verrät nichts und hat nur dann Gewicht, wenn das Leben eines Dieners bestätigend dahintersteht. Dagegen ist die Behauptung, Eingeweihter eines bestimmten Grades zu sein, niemals zulässig, es sei denn gegenüber Gleichgestellten, und dann ist sie unnötig. Die Welt ist voll von Jüngern. Sie sollten sich als solche bekennen. Sie sollten im Bündnis der Jüngerschaft zusammenhalten und es damit anderen erleichtern, dasselbe zu tun. So lässt sich das Dasein der Meister beweisen, und zwar in der einzig richtigen Weise, nämlich durch die Lebensführung und das Zeugnis derer, die von ihnen ausgebildet werden.

Ungefähr zur gleichen Zeit geschah etwas anderes, was mir die Überzeugung von einer anderen Welt des Geschehens vermittelte. Es ist etwas, was ich mir damals unmöglich hätte einbilden können, denn ich hatte keine Ahnung von einer solchen Möglichkeit. Zweimal hatte ich einen Traum bei vollem Wachbewusstsein. Ich sage Traum, weil ich mir damals nicht erklären konnte, was es sonst hätte sein können. Heute weiss ich, dass ich an etwas teilnahm, was tatsächlich stattfand. Zur Zeit dieses Doppelgeschehens lag dieses Wissen ausserhalb meines gewöhnlichen Erkenntnisbereichs. Darin liegt der Wert des Vorgangs. Es bestand gar keine Möglichkeit zu Autosuggestion, Wunschdenken oder überspannter Einbildungskraft.

Zweimal (während meines Aufenthalts und Wirkens in Grossbritannien) nahm ich an einer ausserordentlichen Zeremonie teil und erst zwei Jahrzehnte später kam ich darauf, worum es sich eigentlich handelte. Die Zeremonie, an der ich teilnahm, findet, wie ich am Ende herausfand, tatsächlich jedes Jahr zur Zeit des «Mai-Vollmondes» statt. Es ist der Vollmond des Monats, der im Hindukalender unter dem alten Namen Vaisakha (Taurus) bekannt ist. Dieser Monat ist für alle Buddhisten von vitaler Bedeutung, und der erste Tag dieses Monats gilt als nationaler Festtag, an dem die Hindus den Neujahrstag feiern. Dieses ungeheure Ereignis, an dem ich teilnahm, findet alljährlich in einem Tal des Himalayagebirges statt und ist durchaus kein sagenhaftes, unterbewusstes Ereignis, sondern ein wirklicher Vorgang auf der physischen Ebene. Ich befand mich (hellwach) in diesem Tal und inmitten einer sehr grossen, wohlgeordneten Menschenmenge - meistenteils Menschen aus dem Orient, aber mit starker Beimischung von Bewohnern des Abendlandes. Ich wusste genau, wo ich in dieser Menge zu stehen hatte und war mir darüber klar, dass es der richtige Platz war und dass er auf meine geistige Rangstufe hinwies.

Es war ein breites, länglichrundes Tal, voller Felsen und zu beiden Seiten von hohen Bergen umschlossen. Die im Tal versammelte Menge blickte nach Osten, in Richtung auf einen engen Durchgang am Ende des Tales. Knapp vor diesem trichterförmigen Durchgang befand sich ein riesiger Felsblock, der sich wie ein grosser Tisch aus dem Talboden erhob, und auf diesem Felsen war eine Kristallschale, die so aussah, als hätte sie einen Durchmesser von etwa einem Meter. Die Schale war bis zum Rand mit Wasser angefüllt. An der Spitze der versammelten Menge und knapp vor dem Felsen standen drei Gestalten. Sie bildeten ein Dreieck, und zu meiner Überraschung schien mir die an der Spitze stehende Gestalt Christus zu sein. Die wartende Menge schien sich dauernd zu bewegen, und im Verlauf dieser Bewegung bildete sie grosse und vertraute Symbole - das Kreuz in seinen verschiedenen Formen, den Kreis mit dem Punkt in der Mitte, den fünfzackigen Stern und verschiedene, ineinander übergehende Dreiecke. Es war fast wie ein feierlicher, rhythmischer Tanz, sehr langsam und würdevoll, aber durchaus geräuschlos. Plötzlich streckten die drei Gestalten vor dem Felsen ihre Arme gen Himmel. Die Menge erstarrte zur Unbeweglichkeit. Am fernen Ende der Talenge erschien eine Gestalt am Himmel, die über dem Durchgang schwebte und sich langsam dem Felsen näherte. Aus irgendeinem subjektiven Grund wusste ich mit Bestimmtheit, dass es Buddha war. Ich hatte ein Gefühl des Wiedererkennens. Gleichzeitig wusste ich, dass unser Christus dadurch in keiner Weise in seinem Wert geschmälert wurde. Ich erhielt einen kurzen Einblick in die Einheit und den Plan, für den sich Christus, Buddha und alle Meister unaufhörlich und hingebungsvoll einsetzen. Erstmalig, wenngleich verschwommen und unsicher, erkannte ich die Einheit aller Manifestation, und es wurde mir bewusst, dass alles Bestehende - die materielle Welt, das Reich des Geistes, der aufstrebende Jünger, das sich entwickelnde Tier und die Schönheit des Pflanzen- und Mineralreichs - ein göttliches, lebendiges Ganzes ausmacht, das sich vorwärts bewegt, um die Herrlichkeit des Herrn zu bekunden. Ich begriff - verschwommen -, dass die Menschenwesen den Christus, Buddha und alle Mitglieder der planetarischen Hierarchie nötig haben, und dass es Vorgänge und Ereignisse gibt, die von weit grösserer Bedeutung für den Fortschritt der Menschenrasse sind als diejenigen, welche die Geschichte verzeichnet. Am Ende war ich verwirrt, denn für mich waren (damals) die Heiden immer noch Heiden und ich war eine Christin. Tiefe und grundsätzliche Zweifel blieben ungelöst in meinem Denken. Mein Leben war fortab (und ist noch heute) von dem Wissen bestimmt, dass es Meister und subjektive Ereignisse auf den inneren, geistigen Ebenen und in der Welt der Bedeutung gibt, die einen Teil des Lebens selbst, und vielleicht seinen bedeutendsten Teil ausmachen. Wie ich diese Dinge mit meiner begrenzten Theologie vereinbaren und meinem täglichen Leben anpassen könnte, wusste ich nicht.

Es heisst immer, man solle seine tiefsten und intimsten geistigen Erlebnisse nie besprechen oder erzählen. Das ist grundsätzlich richtig und derjenige, der wahre Erfahrungen gemacht hat, ist an derartigen Diskussionen nicht im geringsten interessiert. Je tiefer und lebenswichtiger die Erfahrung, um so geringer ist die Versuchung, sie zu berichten. Nur Anfänger, die ein theoretisches, ihrer Einbildungskraft entsprungenes Ereignis im Bewusstsein tragen, rühmen sich solcher Erfahrungen. Ich habe aber absichtlich diese beiden subjektiven Begebenheiten (oder war nun die erste wirklich subjektiv?) berichtet, weil es Zeit ist, dass Menschen von Rang und Namen, deren gesunde Vernunft und Intelligenz allgemein anerkannt wird, ihr Zeugnis denjenigen der Mystiker und Okkultisten hinzufügen, deren Glaubwürdigkeit häufig in Frage steht. Ich geniesse eine ziemlich anerkannte Stellung als intelligente, normale Frau, als tüchtige Organisationsleiterin und schöpferische Autorin und habe mich entschlossen, mein tatsächliches Wissen und meine Überzeugung dem Zeugnis beizufügen, das viele andere seit altersher abgelegt haben.

Während dieser ganzen Zeit befasste ich mich mit guten Werken. Ich betätigte mich mit grossem Eifer im Christlichen Verein junger Mädchen. Trotz meiner Jugend durfte ich an den Ausschuss-Sitzungen der Organisation teilnehmen, weil meine Tante die Vorsitzende war. Ich verbrachte viel Zeit mit dem Besuch grosser Hausgesellschaften, wo ich als Alice La Trobe-Bateman leichten Zutritt hatte und wo ich mit den Seelen meiner Zeitgenossen rang, um sie zu erlösen. Das Erlösen von Seelen verstand ich gut, aber heute - vom Standpunkt grösserer Einsicht in weltliche Dinge - kommt mir oft der Verdacht, dass sie sich vielleicht nur deshalb so schnell erlösen liessen, um mich loszuwerden, denn so hartnäckig und ernsthaft ging ich dabei zu Werke. Gleichzeitig vertiefte sich die mystische Neigung meines Lebens; Christus war mir eine immer gegenwärtige Wirklichkeit. Manchmal machte ich mich auf in die schottische Heide oder wanderte allein durch die Orangenhaine von Menton in Südfrankreich oder über die Hügel von Montreux am Genfersee in dem Bemühen, Gott zu erfühlen. Dann lag ich vielleicht auf einer Wiese oder neben einem Felsen und versuchte, auf die Stille um mich herum zu lauschen und die eine Stimme zu hören - nachdem ich die vielen Stimmen der Natur und in mir selbst zum Schweigen gebracht hatte. Ich wusste, dass hinter allem, was ich sehen und berühren konnte, ein Etwas lag, was nicht sichtbar war, aber was man fühlen konnte und was wirklicher und in wahrem Sinn wesentlicher war, als das Greifbare. Ich war im Glauben an einen Transzendenten Gott erzogen worden, der ausserhalb seiner erschaffenen Welt weilt, unerforschlich, unvoraussehbar, oft grausam (nach den Berichten des Alten Testaments zu urteilen), der nur diejenigen liebte, die ihn anerkannten und annahmen, und der seinen einzigen Sohn tötete, damit Leute wie ich gerettet würden und vor ewiger Verdammnis bewahrt blieben. Innerlich lehnte ich diese Darstellung eines liebenden Gottes ab, nahm sie aber automatisch an. Aber er war weit weg, fern und unnahbar.

Trotzdem drängte immer wieder etwas Unbestimmbares und Unerklärliches in mir nach dem immanenten Gott, nach dem Gott im Hintergrund aller Erscheinungsformen, der sich überall antreffen und berühren und wirklich erkennen lässt, der alle Wesen - ob gut oder böse - wahrhaft liebt und der sie und ihre Beschränkungen und Schwierigkeiten versteht. Dieser Gott war durchaus nicht die ungeheure und erhabene Gottheit, vor der sich die christliche Kirche in Ehrfurcht neigte. Im theologischen Sinn gab es jedoch niemand dergleichen. Da gab es nur einen Gott, der besänftigt werden musste; der eifersüchtig auf seinen Rechten bestand; der seinen eigenen Sohn im Verfolgen eines unlogischen Plans zur Erlösung der Menschheit morden konnte und der kaum so freundlich war, wie ein gewöhnlicher Durchschnittsvater zu seinen Nachkommen. Das waren Gedanken, die ich als sündig und unwahr von mir abwies, die aber heimlich und hinter den Kulissen an mir nagten. Immer aber stand Christus im Hintergrund. Ihn kannte ich; er plagte und härmte sich um der Menschen willen; er litt Todesqualen, um sie zu erlösen, aber da ihm das nicht in grossem Umfang zu gelingen schien, so musste er beiseite stehen und zusehen, wie sie zur Hölle gingen. Damals war mir all das allerdings nicht jederzeit so klar vor Augen; ich selbst war erlöst und froh darüber. Ich arbeitete angestrengt, um andere zu erlösen, fand es bedauerlich, dass Gott eine Hölle geschaffen hatte, musste aber natürlich annehmen, dass er wusste, was er tat und - in jeden Fall - kein wahrer Christ zweifelte an Gott: er nahm einfach hin, was man ihm als Gottes Wort verkündete und damit basta.

Das war mein geistiges Erziehungserbe und der Bereich meines Denkens. Vom weltlichen Standpunkt aus ging es uns nicht besonders gut. Trotz mancherlei Gelegenheit, guter Inszenierung und vieler persönlicher Verbindungen hatten meine Schwester und ich nicht geheiratet. Ich denke, es fiel unsern Onkeln und Tanten ein Stein vom Herzen, als wir grossjährig wurden, von den Vormundschaftsgerichten freikamen und auf eigenen Füssen standen. Ich wurde praktisch erst grossjährig, als meine Schwester das einundzwanzigste Lebensjahr erreichte.

Damit begann für uns ein neuer Lebensabschnitt. Jede von uns ging ihre eigenen Wege. Es stellte sich heraus, dass unsere Interessen vollkommen verschieden waren, und es kam zur ersten Spaltung zwischen uns. Meine Schwester beschloss, Medizin zu studieren, und nach einigen Monaten der Vorbereitung ging sie auf die Universität Edinburgh, wo sie glänzend vorwärts kam. Was mich anbetrifft, so wusste ich damals nicht genau, was ich eigentlich tun sollte. Ich hatte eine sehr gute, klassische Erziehung hinter mir; ich sprach fliessend Französisch und etwas Italienisch; ich hatte genug Geld, um in jenen bequemen und verhältnismässig billigen Zeiten äusserst bequem leben zu können. Ich hatte einen festen Glauben an Christus, war ich doch eine von den Erwählten; ich glaubte an einen Himmel voller Glück für diejenigen, die wie ich dachten, und eine Hölle für die, welche es nicht taten, aber über diese versuchte ich nicht zu viel nachzudenken, nachdem ich mein Bestes getan hatte, um sie zu erlösen. Ich besass eine wirklich eingehende Bibelkenntnis, guten Geschmack in Kleiderfragen, wirklich gutes Aussehen und eine abgründige und vollkommene Unwissenheit in bezug auf die Tatsachen dieses Lebens. Man hatte mir rein gar nichts von den Vorgängen des Lebens gesagt und das brachte mir im Lauf der Jahre manche Enttäuschung; aber zur damaligen Zeit schien ich unter einem recht merkwürdigen «Schutze» im Zusammenhang mit der Tätigkeit zu stehen, die ich in meinem nächsten Lebenszyklus von einundzwanzig bis achtundzwanzig zu unternehmen beschloss. Ich hatte ein vollkommen behütetes Leben geführt und war nirgendwo ohne Begleitung einer Anstandsdame, eines Verwandten oder einer Zofe hingegangen. Ich war so unwissend, dass ich aus irgendeinem unersichtlichen Grund gegen jede Gefahr gesichert schien.

Eine merkwürdige Begebenheit aus meinem neunzehnten Lebensjahr beweist das. Ich war auf Besuch in einem der grossen englischen Häuser und hatte meine Zofe mitgenommen. Aus begreiflichen Gründen kann ich keinen Ort und Namen nennen. Ich war in jener grossen Hausgesellschaft die einzige Person ohne Titel. Als ich die erste Nacht dort war, bemerkte ich, wie meine Zofe sich dazu anschickte, in einem kleinen Ankleideraum neben meinem Schlafzimmer zu übernachten. Als ich mein Erstaunen darüber ausdrückte, bemerkte sie, dass sie mich nicht allein lassen wolle, ganz gleich, ob mir das lieb wäre oder nicht. Ich wusste nicht warum, ebenso, wie mir vieles von den Tischgesprächen entging. Die meisten Gäste fanden mich unausstehlich langweilig, davon bin ich überzeugt; sie betrachteten mich als Vollidiotin. Die versteckten Andeutungen und witzigen Entgegnungen blieben mir unverständlich und ich kam mir recht dumm vor. Mein einziger Trost war, dass ich gut angezogen war, gut aussah und tanzen konnte. Nachdem ich zwei Tage dort gewesen war, fragte mich eines Morgens nach dem Frühstück ein sehr bekannter Mann - liebenswürdig, interessant, gut aussehend, aber von nicht sehr gutem Ruf - ob er mit mir sprechen dürfe. Wir gingen in den sogenannten roten Salon und als wir dort alleine waren, erklärte er mir: «Ich habe unserer Gastgeberin gesagt, dass sie heute morgen mit dem 10.30 Zug abfahren; der Dogcart wird rechtzeitig bereitstehen und ihre Zofe hat bereits Anweisung, ihre Sachen zu packen». Ich fragte ihn, was in aller Welt ich verbrochen hätte. Er klopfte mir auf die Schulter und antwortete: «Ich nenne ihnen zwei Gründe. Einer davon ist, dass sie vom Standpunkt der meisten Leute hier (aber nicht von meinem) eine Spielverderberin sind, denn sie sehen immer so verwundert oder entrüstet aus. Der andere Grund ist der, dass sie gelegentlich nicht entrüstet sind, wenn sie es sein sollten. Darüber bin ich ernstlich besorgt. Deshalb kam ich zu dem Schluss, dass sie wirklich naiv sind und dass ich lieber zusehen sollte, dass sie gut aufgehoben sind». Ich fuhr also planmässig ab und wusste nicht, ob ich mich geschmeichelt oder beleidigt fühlen sollte. Dieser Vorfall beweist jedoch nicht nur die Dummheit und Unwissenheit junger Mädchen meiner Gesellschaftsschicht in jenen Viktorianischen Zeiten, sondern auch die Tatsache, dass manche sehr leichtlebige Männer sehr nett und verständnisvoll sind.

Mit dieser Vorbildung und inneren Verfassung und der festen Absicht, verlorene Seelen zu retten, entschloss ich mich zu einer Tätigkeit, die ich für nützlich hielt. Ich wollte jedoch um jeden Preis frei sein.