Navigieren durch die Kaptitel von diesem Buch

KAPITEL III - Teil 1

KAPITEL III

Es fällt mir sehr schwer, über die folgenden Jahre zu schreiben, da ich nicht recht weiss, wie ich die nächste Phase meines Lebens behandeln soll. Zurückschauend bin ich mir darüber klar, dass mein Sinn für Humor vorübergehend versagte, und wenn das einem Menschen passiert, der gewöhnlich über das Leben und seine äusseren Umstände lachen kann, dann ist das recht bedauerlich. Wenn ich von «Humor» spreche, dann meine ich nicht Aufgelegtheit zu Scherzen, sondern die Fähigkeit, über sich selbst und die Ereignisse und Umstände zu lachen, wie sie sich im Verhältnis zur eigenen Ausrüstung und Veranlagung auswirken. Ich glaube nicht, dass ich wirklich Sinn für Scherze habe; die sogenannten «Comics» (komische Beilagen) in den amerikanischen Zeitungen verstehe ich einfach nicht, und ich kann nie einen Witz behalten; trotzdem habe ich Sinn für Humor, und es fällt mir durchaus nicht schwer, eine Zuhörerschaft - sei sie gross oder klein - zu stürmischem Gelächter zu bringen. Ich kann auch stets über mich selbst lachen, aber über die wenigen, jetzt folgenden Lebensjahre finde ich nichts Erheiterndes zu berichten und ich frage mich, wie ich diesen Abschnitt beschreiben kann, ohne dabei entweder schrecklich langweilig zu werden oder aber das traurige Bild einer unglücklichen Frau auszumalen. Denn das war ich wirklich. Es bleibt mir nichts übrig, als meine Geschichte so gut es geht fortzusetzen, mit all ihren Leiden und Schmerzen und Nöten, und dabei den Leser um Geduld zu bitten. Schliesslich war es bloss ein Zwischenakt zwischen zwei glücklichen Perioden von je 28 Jahren, deren letztere noch immer munter abläuft.

Bis 1907 hatte ich meine Schwierigkeiten und Nöte gehabt, aber sie lagen eigentlich nur auf der Oberfläche. Ich liebte meine Beschäftigung und hatte Erfolg dabei. Ich war von Menschen umgeben, die mich mochten und zu schätzen wussten, und soviel ich weiss, hatte es absolut keine Probleme zwischen mir und meinen Mitarbeitern gegeben. Ich wusste nicht, was es heisst, finanziell eingeschränkt zu sein. Ich konnte nach Belieben in Indien herumreisen oder, wenn ich wollte, nach England zurückkehren, ohne mir darüber auch nur einen Gedanken zu machen. Mit persönlichen Schwierigkeiten hatte ich eigentlich niemals zu kämpfen gehabt.

Jetzt aber folgte ein Zyklus von sieben Lebensjahren, in denen ich nichts als Schwierigkeiten kannte, die jeden Teil meiner Natur in Mitleidenschaft zogen. Ich trat in einen Lebensabschnitt, der mein Gedankenleben schwer belastete; ich sollte Situationen gegenüberstehen, die meine Gefühlseinstellung bis zur äussersten Grenze meiner Kraft in Anspruch nahmen, und auch im physischen Sinn gestaltete sich mein Leben äusserst hart. Ich glaube, solche Epochen sind im Leben aller werktätigen Jünger vonnöten. Sie sind hart, wenn man sie durchmachen muss, aber ich bin fest überzeugt, dass, wenn man sie mit dem vollen Wissen und der vollen Entschlusskraft der Seele durchlebt, man unvermeidlich auch die Kraft findet, die Umstände zu meistern. Das Resultat ist dann stets (in meinem Leben und im Fall aller derer, die geistig zu wirken bemüht sind) eine bessere Befähigung, menschlichen Bedürfnissen gerecht zu werden und den anderen Weggenossen auf unserer Pilgerschaft «eine starke Hand im Dunkeln» darzubieten. Ich habe einer meiner Töchter zur Seite gestanden, als sie eine schreckliche Erfahrung durchmachen musste und ich sah, dass sie sich - nach fünf Jahren geduldigen Leidens - zu einem Mass von Nützlichkeit hindurchrang, wie es andernfalls unmöglich gewesen wäre; sie ist immer noch jung und hat eine nützliche und schöpferische Zukunft vor sich. Ich wäre dazu nicht imstande gewesen wenn ich nicht vorher selbst durchs Feuer gegangen wäre.

Als die mir verordnete sechsmonatige Bettruhe vorüber war, wurden Vorbereitungen zu meiner Heirat getroffen. Das wenige Geld, das ich besass, wurde vermögensrechtlich so festgelegt, dass Walter Evans es nicht angreifen konnte, falls er es gewollt hätte. «Tante Alice» sandte ihm das nötige Geld, um sich auszustaffieren und nach Schottland zu kommen, um mich abzuholen. Ich lebte damals bei meiner Tante Maxwell in Castramont. Die Trauung wurde in der Privatkapelle im Hause eines Freundes durch einen Herrn Boyd-Carpenter vollzogen. Ein anderer Pfarrer, Walliam La Trobe-Bateman, der älteste Bruder meines Vaters, führte mich zum Altar.

Unmittelbar nach der Hochzeit fuhr ich zu Walter Evans Verwandten im Norden Englands auf Besuch. Eine angeheiratete Verwandte von mir, die auf meiner Hochzeit war und mit halb England verwandt ist, nahm mich beim Abschied auf die Seite und sagte: «Nun Alice, du hast diesen Mann geheiratet und besuchst jetzt seine Angehörigen. Du wirst finden, dass sie nicht Leute von deiner Art sind, und es wird deine Pflicht sein, ihnen trotzdem das Gefühl zu geben, dass du sie dafür hälst. Sei um Himmelswillen nicht hochnäsig». Mit diesen Worten führte sie mich in einen Lebensabschnitt ein, in dem ich Kaste und soziale Stellung hinter mir liess und plötzlich die Menschheit entdeckte.

Ich gehöre nicht zu den Leuten, die da glauben, dass bloss die Proletarier gut und recht, und dass die Mittelklassen das Salz der Erde sind, während die Aristokratie nutzlos ist und abgeschafft werden sollte. Andererseits schliesse ich mich auch nicht der Ansicht an, dass nur die Gebildeten die Welt retten können, obwohl das eine gesündere Einstellung ist, weil ja die Gebildeten aus allen Klassen hervorgehen. Ich habe Leute aus den sogenannten unteren Schichten kennengelernt, die furchtbar hochnäsig waren. Ich habe sie in ähnlich boshafter Form auch bei der Aristokratie angetroffen. Die Sittenstrenge und konservative Haltung der Mittelklassen ist das Zünglein an der Waage, das jede Nation im Gleichgewicht hält. Die Stosskraft und die Auflehnung der unteren Klassen sorgen für das Wachsen eines Volkes, während die Tradition, die Kultur und das "noblesse oblige" - Gefühl der Aristokratie ein wertvolles Gut für jede Nation ist, die eine Aristokratie besitzt. All diese Faktoren können am rechten Platz gesund und nützlich sein, aber alle können in gleicher Weise missbraucht werden. Eine konservative Richtung kann sich zur gefährlichen Reaktion entwickeln; eine gerechtfertigte Auflehnung wird leicht zur fanatischen Revolution, und das bei den «oberen Klassen» so häufig vorhandene Gefühl der Verantwortung und Überlegenheit, kann zu verdummender Bevormundung ausarten. Es gibt keine Nation ohne Klassenunterschiede. In Grossbritannien mag es eine Geburtsaristokratie geben, aber in den Vereinigten Staaten besteht eine Geldaristokratie, die ebenso unterschiedlich, exklusiv und von starren Schranken umgeben ist. Wer soll die Frage entscheiden, was am besten ist und was nicht? Ich war in einem sehr starren Kastensystem aufgewachsen, und bislang hatte in meinem Leben kein Anlass bestanden, unter gleichen Bedingungen mit Leuten anderer Schichten zusammenzukommen. Ich hatte noch nicht gelernt, dass es hinter allen Klassenunterschieden des Westens und den Kastensystemen des Orients eine Einheit gibt, die wir Menschheit nennen.

Jedenfalls machte ich mich mit meinen schönen Kleidern, meinen reizenden Schmucksachen, meiner gepflegten Stimme und meinen guten Manieren auf den Weg zu Walter Evans Familie, ohne viel nachzudenken oder die Situation irgendwie einzuschätzen. Selbst die alten Familienangestellten trauten der Sache nicht. Potter, der alte Kutscher, fuhr Walter Evans und mich nach der Hochzeit zum Bahnhof. Ich sehe ihn noch in seiner Livree, mit einer Kokarde am Hut. Er kannte mich seit meiner frühesten Kindheit und als wir am Bahnhof ankamen, stieg er vom Bock, nahm meine Hand und sagte: «Miss Alice, ich mag ihn nicht und es wird mir schwer, ihnen das zu sagen, aber wenn er sie nicht richtig behandelt - kommen Sie einfach zu uns zurück. Schreiben sie mir bloss eine Zeile und ich hole sie an der Bahn ab». Damit fuhr er ohne ein weiteres Wort ab. Der Bahnhofsvorsteher der kleinen schottischen Station hatte bis Carlisle einen Wagen für uns reserviert, und als er mir beim Einsteigen half, sah er mir in die Augen und sagte: «Er ist nicht gerade derjenige, den ich für sie ausgesucht hätte, Miss Alice, aber ich hoffe, sie werden mit ihm glücklich sein». Nichts davon machte den geringsten Eindruck auf mich. Heute weiss ich, dass ich eine Gruppe von sehr besorgten Verwandten, Freunden und Bedienten zurückliess, aber damals kam mir das durchaus nicht in den Sinn. Ich hatte getan, was ich für recht hielt und dabei ein Opfer gebracht, und jetzt erntete ich meinen Lohn. Die Vergangenheit lag hinter mir. Meine Tätigkeit unter den Soldaten war beendet. Vor mir lag eine wundervolle Zukunft mit dem Mann, den ich zu lieben glaubte, in einem neuen und wundervollen Land, denn wir waren auf dem Weg nach Amerika.

Bevor wir nach Liverpool fuhren, besuchten wir die Verwandten meines Mannes. Sie waren nett, freundlich, gut und ehrbar, aber ich hatte noch nie mit Leuten dieser Klasse bei Tisch gesessen, oder in einem Haus dieser Art geschlafen, meine Mahlzeiten in der «guten Stube» eingenommen oder in einem Haushalt ohne Bediente gelebt. Ich hatte Angst vor ihnen, und sie hatten noch grössere Angst vor mir, obwohl sie in ihrer Art stolz darauf waren, dass Walter es zu so etwas gebracht hatte. Um Walter Evans gerecht zu werden, möchte ich an dieser Stelle gleich folgendes einschalten: Nachdem wir uns getrennt hatten und er auf eine unserer grossen Universitäten gegangen war, um dort weiterzustudieren, erhielt ich vom Rektor der Universität einen Brief, in dem er mich bat, zu Walter zurückzukehren. Er, ein sehr alter und erfahrener Mann, bat mich darum, weil er, wie er sagte, im Lauf seiner langjährigen Erfahrung mit Tausenden von jungen Leuten noch keinem begegnet war, der - geistig, physisch und mental - so begabt war, wie Walter Evans. Es war also nicht erstaunlich, dass ich mich in ihn verliebt und ihn geheiratet hatte. Alle Anzeichen waren vorteilhaft, abgesehen von seiner sozialen Herkunft und seiner finanziellen Lage; damals aber, als ich nach Amerika ging und er in Kürze in der Episkopalkirche ordiniert werden sollte, schien das nichts auszumachen. Wir würden uns schon mit seinem Gehalt und meinem kleinen Einkommen durchschlagen.

Wir fuhren von England direkt nach Cincinnati im Staat Ohio, wo mein Mann am Lane Theological Seminary studierte. Ich machte sofort mit, besuchte mit ihm zusammen die verschiedenen Kurse und bestritt mit meinem Geld unseren Lebensunterhalt und alle Ausgaben. Im alltäglichen Eheleben musste ich bald feststellen, dass wir keine gemeinsamen Berührungspunkte hatten, mit Ausnahme unserer religiösen Ansichten. Er wusste wirklich nichts von meiner Herkunft, und ich wusste noch weniger von seiner. Wir beide gaben uns damals die grösste Mühe, unsere Ehe glücklich zu gestalten, aber es gelang uns nicht. Ich denke, ich wäre vor Elend und Verzweiflung gestorben, wenn da nicht die Negerfrau gewesen wäre, die das mit dem Seminar verbundene Logier- und Kosthaus verwaltete, wo wir im obersten Stock ein Zimmer hatten. Sie hiess Frau Snyder, und sie nahm sich meiner sogleich an. Sie pflegte mich, wenn ich krank war, und verhätschelte und bemutterte mich; sie schimpfte mich aus und trat für mich ein, wo sie nur konnte, aber aus irgendeinem Grund konnte sie Walter Evans nicht leiden und sie machte sich ein Vergnügen daraus, ihm das auch zu sagen. Sie sorgte dafür, dass ich das Beste von allem hatte, was zu beschaffen in ihrer Macht lag. Ich liebte sie, und sie war meine einzige Vertraute.

Damals kam ich zum ersten Mal in meinem Leben mit dem Rassenproblem in Berührung. Ich fühlte keinerlei Abneigung gegen die Neger, ausser dass ich nicht an Mischehen zwischen Weissen und Negern glaubte, weil sie für beide Teile niemals glücklich zu verlaufen schienen. Ich stellte mit grösstem Erstaunen fest, dass wir in der amerikanischen Verfassung für die Gleichheit aller Menschen einstehen, dass wir aber (durch Wahlsteuern und schlechte Schulbildung) dafür sorgten, dass der Neger nicht gleichgestellt war. Im Norden sind die Verhältnisse besser als in den Südstaaten, aber das Negerproblem ist etwas, was das amerikanische Volk einmal zu lösen haben wird. Die Verfassung hat es bereits für sie gelöst. Ich erinnere mich, dass einmal ein Negerprofessor namens Dr. Franklin vom Lane Theological Seminary eingeladen wurde, an die Studentenschaft eine Ansprache zu halten. Als wir aus der Kapelle herauskamen, blieb ich mit meinem Mann und einigen Professoren eine Weile stehen, und wir unterhielten uns gerade über die wunderbare Ansprache, als Dr. Franklin an uns vorbeikam. Einer der Professoren hielt ihn an und gab ihm Geld für ein Mittagessen. Er war also nicht einmal gut genug, mit uns anderen zu essen, obwohl er zu uns über geistige Werte sprechen konnte. Ich war so entsetzt, dass ich mit meinem gewöhnlichen Ungestüm auf einen mir bekannten Professor und seine Frau zustürzte und mit ihnen davon sprach. Sie kamen sofort mit mir und luden Dr. Franklin bei sich zu Hause zum Essen ein. Als ich diese negerfeindliche Stimmung entdeckte, erschien sie mir wie eine offene Tür ins grosse Haus der Menschheit. Hier war ein beträchtlicher Teil meiner Mitmenschen, denen man die Rechte der Verfassung vorenthielt, unter deren Schutz sie geboren waren.

Seitdem habe ich über dieses Minoritätenproblem viel nachgedacht, gelesen und gesprochen. Ich habe viele Freunde, die Neger sind, und ich darf wohl behaupten, dass wir uns gut verstehen. Ich kenne Neger, die genauso kultiviert und verwöhnt sind und genauso gesunde Ansichten haben wie viele meiner weissen Freunde. Ich habe das Problem mit ihnen besprochen und weiss, dass sie nichts weiter verlangen als Chancengleichheit auf dem Gebiet der Erziehung, der Arbeitsmöglichkeiten und der Lebensverhältnisse. Ich habe noch nie einen getroffen, der nach sozialer Gleichstellung verlangte, obwohl sie auch diese mit der Zeit erlangen müssen und werden. Ich habe festgestellt, dass die Einstellung der kultivierten und gebildeten Neger gegenüber den unentwickelten Angehörigen ihrer Rasse eine vernünftige und gesunde ist. Ein prominenter Rechtsanwalt, ein Neger, sagte mir einmal: «Die meisten von uns sind Kinder, besonders im Süden, und wie alle heranwachsenden Kinder brauchen sie Liebe».

Vor ein paar Jahren erhielt ich in London einen Brief von einem Wissenschaftler, Dr. Just, der mich um eine Unterredung bat, da er von mir einiges gelesen hatte und mit mir darüber sprechen wollte. Ich lud ihn zum Frühstück in meinen Club ein, stellte bei seiner Ankunft fest, dass er ein Neger war, und noch dazu ein sehr schwarzer Neger. Er war ein liebenswürdiger und interessanter Herr und befand sich auf dem Rückweg nach Washington, nachdem er an der Berliner Universität Vorlesungen gehalten hatte. Er war einer der führenden Biologen der Welt. Mein Mann und ich luden ihn ein, in unserem Haus in Tunbridge Wells zu übernachten, und es war uns ein sehr angenehmer Besuch. Eine meiner Töchter fragte ihn, ob er verheiratet sei, und ich erinnere mich noch, wie er sich zu ihr wandte und ihr sagte: «Mein liebes Fräulein, es würde mir nie im Traum einfallen, es einem Mädchen ihrer Rasse zuzumuten, mich zu heiraten und dann die unvermeidliche Ächtung zu erdulden; ich habe bislang kein Mädchen meiner eigenen Rasse gefunden, die mir die erwünschte, geistige Kameradschaft bieten könnte. Deshalb habe ich nie geheiratet». Zu meinem grossen Bedauern ist er inzwischen gestorben; ich hatte gehofft, mit diesem sehr gediegenen Mann engere Freundschaft schliessen zu können.

Ich wohnte nun schon sechsunddreissig Jahre hier in Amerika und muss sagen, dass mich die Haltung vieler Amerikaner gegenüber ihren Neger-Mitbürgern immer mehr empört, in Staunen versetzt und erschreckt. Das Problem muss gelöst, und den Negern ein gebührender Platz im nationalen Leben eingeräumt werden. Sie können und dürfen auf die Dauer nicht unterdrückt werden. Die Neger selbst müssen durch ihr Benehmen ihre Ansprüche als gerechtfertigt beweisen, und wir anderen müssen unsererseits dafür sorgen, dass die abscheulichen Äusserungen und der vergiftende Hass von Leuten wie Senator Bilbo und vieler anderer Gleichgesinnter nicht länger geduldet werden. Wiederum betone ich (ohne dabei für die Zukunft prophezeien zu wollen), dass das Problem meiner Ansicht nach derzeit nicht durch Mischheirat gelöst werden kann. Es muss gelöst werden durch unerschrockene Gerechtigkeit durch die Erkenntnis der Tatsache, dass alle Menschen Brüder sind, und dass es unsere eigene Schuld ist, wenn der Neger überhaupt ein Problem darstellt. Wenn es ihm an Schulbildung mangelt, und seine Ausbildung als Staatsbürger zu wünschen übrig lässt, dann ist dies wiederum unsere Schuld. Es ist Zeit, dass prominente Weisse und Kongressmitglieder beider Häuser und beider Parteien endlich damit aufhören, nach Demokratie und freiem Wahlrecht im Balkan und anderswo zu schreien, und die gleichen Prinzipien auf ihre eigenen Südstaaten anwenden. Man wird mir hoffentlich diesen Gefühlsausbruch verzeihen, aber ich bin nun einmal sehr stark an dieser Frage interessiert.

Diese Negerfrau, Mrs. Snyder, bemutterte mich Monate lang und sorgte für mich, bis meine älteste Tochter geboren wurde; sie holte mir ihren eigenen Arzt, der kein Neger, aber auch nicht besonders gut war, und ich erhielt deshalb auch nicht die geschickte Behandlung, die ich brauchte. Dafür konnte sie natürlich nichts, denn sie sorgte für mich so gut sie konnte. Ich habe merkwürdigerweise bei der Geburt meiner drei Kinder immer Pech gehabt und nur einmal hatte ich eine geprüfte Krankenschwester bei mir. Auf alle Fälle hatte ich keine fachgerechte Pflege, als mein erstes Kind geboren wurde. Walter Evans geriet vollends aus dem Häuschen und beanspruchte den Arzt am meisten für sich, aber Frau Snyder war mir eine starke Stütze, und ich werde sie nie vergessen. Später sandte mir der Arzt eine ungeprüfte Krankenpflegerin, aber sie war so unqualifiziert, dass ich sehr unter ihrer Behandlung litt und drei sehr unbehagliche und qualvolle Monate durchzumachen hatte.

Dann zogen wir aus dem Seminar fort und nahmen anderswo eine kleine Etagenwohnung, wo ich zum ersten Mal mit einem kleinen Baby und aller Hausarbeit allein war. Bis dahin hatte ich noch nie ein Taschentuch gewaschen, ein Ei gekocht oder eine Tasse Tee zubereitet und ich war also eine vollkommen unpraktische junge Frau. Die schwere Lehrzeit, die ich deshalb durchzumachen hatte, veranlasste mich, meinen drei Töchtern alles beizubringen, was man im Haushalt wissen muss, und sie wissen über alles Bescheid. Es war bestimmt keine leichte Zeit für Walter Evans, und ich stellte damals - als wir allein lebten und uns niemand zuhören konnte - zum erstenmal fest, dass er zu furchtbaren Wutausbrüchen neigte.

Mein Waterloo war die wöchentliche Wäsche. Ich ging zu diesem Zweck gewöhnlich in den Keller, der mit den üblichen eingebauten Waschzubern ausgerüstet war. Ich hatte alle meine Kindersachen aus England mitgebracht, sie waren wunderhübsch, ellenlang, aus schönstem Flanellstoff, mit echtem Spitzeneinsatz, fast unbezahlbar, von jedem ein Dutzend; es war einfach ein Jammer und eine Schande, wie ich diese Sachen zurichtete. Als sie aus meiner Wäsche kamen, sahen sie höchst merkwürdig aus. Eines Morgens hörte ich jemand an meine Tür klopfen und fand eine Frau, die das Stockwerk unter mir bewohnte. Sie sah mich mitleidig an und sagte: «Hören sie zu, Frau Evans, es ist Montagmorgen, und ich kann's einfach nicht länger aushalten. Ich bin ein englisches Dienstmädchen, und sie sind eine englische Lady, und ich bin vernünftig genug zu wissen, was das bedeutet. Es gibt Dinge, die ich weiss und die sie nicht wissen, und sie werden jeden Montagmorgen mit mir hinuntergehen, solange ich's für nötig halte, und ich werde ihnen beibringen, wie man Kleidungsstücke wäscht». Sie sagte das, als hätte sie es vorher auswendig gelernt, und sie hielt ihr Wort. Heute gibt es nichts, was ich über Wäschewaschen noch lernen könnte, und das verdanke ich alles dieser Frau Schubert. Hier ist wieder einmal ein Beispiel, wie sich jemand, für den ich nichts getan hatte, einfach als menschlich und freundschaftlich erwies, und ich gewann einen neuen, kleinen Einblick ins Haus der Menschheit. Sie und ich wurden echte Freundinnen, und sie stand mir gewöhnlich zur Seite, wenn Walter Evans wieder einmal tobte. Immer wieder habe ich in ihrer kleinen Wohnung Zuflucht gesucht. Ich möchte gern wissen, ob sie und Frau Snyder noch leben; wahrscheinlich nicht, denn sie würden wohl zu alt sein.

Als Dorothy ungefähr sechs Monate alt war, fuhr ich zu meinen Verwandten nach England auf Besuch; mein Mann sollte indessen seine theologische Ausbildung beenden und ordiniert werden. Dies war für die nächsten zwanzig Jahre mein letzter Besuch in England und es sind damit für mich keine besonders freudigen Erinnerungen verknüpft. Ich konnte meinen Verwandten nicht sagen, dass ich unglücklich war und einen Fehler begangen hatte. Das erlaubte mir mein Stolz nicht, aber sie ahnten es zweifellos, obwohl sie keine Fragen stellten. Während ich drüben war, heiratete meine Schwester meinen Vetter, Laurence Parsons. Dabei kam es zu der üblichen Familienzusammenkunft im Haus eines Onkels. Ich blieb nur wenige Monate in England und kehrte wieder nach Amerika zurück. Inzwischen hatte mein Mann sein Seminarexamen bestanden, war ordiniert worden und an eine Pfarrstelle unter dem Bischof von San Joaquin nach Kalifornien geschickt worden. Das war mein Glück, denn der Bischof und seine Frau wurden mir aufrichtige Freunde. Von der Frau höre ich noch heute. Meine jüngste Tochter ist nach ihr benannt, und sie ist einer von den Menschen, die ich innigst liebe; ich komme noch auf sie zurück.

Ich fuhr auf einem kleinen Schiff, das in Boston anlegte, in die Staaten zurück. Es war bestimmt die schlimmste Reise, die ich je durchmachte - ein kleines, schmutziges Schiff, vier Personen teilten eine Kabine, und die Mahlzeiten fanden an langen Tischen statt, wobei die Männer den Hut auf dem Kopf behielten. Noch heute denke ich daran wie an einen Alptraum. Aber auch alles Schlimme nimmt einmal ein Ende, und wir kamen bei strömendem Regen in Boston an; ich war ganz verzweifelt. Ich hatte schlimmes Kopfweh; mein Reise-Necessaire mit all den Toilettensachen aus massivem Silber, das meiner Mutter gehört hatte, war mir gestohlen worden, und Dorothy, fast schon ein Jahr alt, war schwer zu tragen. Ich hatte meine Fahrkarte in Cooks Reisebüro gelöst und dessen Agent war an Bord gekommen. Er brachte mich zum Bahnhof, wo ich bis Mitternacht warten musste; nachdem er mir neue Instruktionen gegeben und mir eine Tasse starken Kaffee verabreicht hatte, verliess er mich. Ermattet sass ich den ganzen Tag auf der Station und bemühte mich, ein unruhiges kleines Kind zu besänftigen. Als die Abfahrtszeit des Zuges herannahte, und ich mir gerade Gedanken darüber machte, wie ich mit allem zu Rande käme, da schaute ich plötzlich auf und sah den Cook-Agenten in Zivil neben mir stehen. «Ich habe mir heute morgen und den ganzen Tag über Sorgen um sie gemacht und so dachte ich mir, dass es wohl besser wäre, wenn ich sie selbst zum Zug brächte». Darauf nahm er das Baby, holte einen Gepäckträger und verfrachtete mich so bequem wie möglich in den Zug nach Kalifornien. Die Touristen-Schlafwagen waren damals nicht so bequem eingerichtet wie heute. Wiederum wurde mir unverdient eine Freundlichkeit von jemandem zuteil, für den ich nichts getan hatte. Dabei möchte ich durchaus nicht den Eindruck erwecken, als ob ich vielleicht etwas so Charmantes und Nettes an mir gehabt hätte, dass mir die Leute ganz von selbst halfen. Ich habe im Gegenteil das Gefühl, dass ich alles andere als nett war. Ich war ziemlich hochnäsig und so zurückhaltend, dass mir fast die Zunge im Hals stecken blieb; ich war schrecklich britisch. Nein, das war nicht der Grund, sondern einfach die Tatsache, dass die meisten Menschen von Natur aus freundlich sind und gerne helfen. Ich erinnere den Leser daran, dass, das zu beweisen mit ein Zweck dieses Buches ist. Ich denke mir keine Beispiele aus, sondern berichte tatsächliche Vorkommnisse.

Mein Mann war zuerst Pfarrer einer kleinen Kirche in R..., und dort lernte ich die Pflichten einer Pfarrersfrau und die endlose Inanspruchnahme ihrer Zeit kennen. Ich wurde mit dem eigentlichen weiblichen Aspekt des Gemeindelebens bekannt. Ich musste bei der Frauenhilfe zugegen sein. Ich musste Gemeindeversammlungen für Mütter abhalten, immer in die Kirche gehen und ewig und unaufhörlich Walters Predigten mit anhören. Wie alle Pfarrer und ihre Familien in jenen Missionsbezirken, lebten wir in der Hauptsache von Hühnern und ich lernte verstehen, warum das Huhn ein heiliger Vogel ist - weil nämlich so viele Tiere dieser Gattung im Pfarrhaus enden.

Diese Zeit bedeutete für mich eine weitere Phase der Bewusstseins-Erweiterung. Nie in meinem Leben hatte ich eine Gemeinde wie diese kleine Stadt kennengelernt. Es wohnten ungefähr fünfzehnhundert Menschen an dem Ort, aber es gab dort elf Kirchen, mit je einer winzigen Gemeinde. Unter den Ranch-Besitzern der weiteren Umgebung befanden sich kultivierte Männer und Frauen die in der Welt herumgekommen und belesen waren. Hin und wieder kam ich mit einigen von ihnen zusammen. Hauptsächlich waren es jedoch kleine Kaufleute, Eisenbahner, Handwerker Leute, die in den Wein- und Obstplantagen arbeiteten, und Schullehrer. Das Pfarrhaus war ein kleiner, einstöckiger «Bungalow» mit sechs Zimmern und lag zwischen zwei grösseren Häusern. In dem einen wohnten zwölf Kinder mit ihren Eltern, und ich lebte daher inmitten eines ewigen Kindergeschreis und -gewimmels. Die kleine Stadt war typisch mit ihren falschen Häuserfronten, mit Pfosten zum Festmachen der Wagenpferde (denn Automobile waren noch eine Seltenheit) und mit dem Dorfpostamt, wo aller Klatsch und alles Gerede entstand und in Umlauf kam. Das Klima war wirklich sehr angenehm, trotz grosser Hitze und Trockenheit im Sommer. Im kulturellen, mentalen und geistigen Sinn fühlte ich mich jedoch vollkommen isoliert. Ich hatte scheinbar niemand, mit dem ich sprechen konnte. Keiner hatte irgend etwas gesehen oder gelesen, und das einzige Gesprächsthema schien sich um Kinder, Ernte, Essen und örtlichen Klatsch zu drehen. Monatelang trug ich meine schnippische, kleine Nase hoch und stellte fest, dass niemand gut genug war, um mit mir zu verkehren. Natürlich erfüllte ich meine Pflicht als Frau des Pfarrers und sicherlich war ich sehr nett und freundlich, aber ich fühlte stets eine Schranke. Ich wollte mit den Gemeindemitgliedern möglichst wenig zu tun haben und liess sie das auch deutlich fühlen.

Immerhin fing ich eine Bibelstunde an und hatte damit grossen Erfolg. Ich hatte mehr Zuhörer als mein Mann in seinem Sonntags-Gottesdienst, und das trug wohl mit zu unseren Reibereien bei, die ständig schlimmer wurden. Angehörige aller Kirchengemeinden, mit Ausnahme der katholischen, nahmen an meiner Bibelstunde teil, und das war für mich der einzige Lichtpunkt während der ganzen Woche, zum Teil wohl deshalb, weil mich das mit der Vergangenheit verknüpfte.

Die Wutausbrüche meines Mannes wurden immer hemmungsloser, und ich lebte in ständiger Angst, dass die Gemeindemitglieder davon Wind bekommen könnten, und er seinen Posten verlieren würde. Als Geistlicher war er sehr beliebt, und in seinem Messgewand und seiner Stola war er eine sehr eindrucksvolle Erscheinung. Er war ein sehr guter Kanzelredner. Ich bin ehrlich überzeugt, dass ich nicht allzu viel Schuld hatte. «Was würde Jesus von mir erwarten?» war immer noch der Kernspruch meines Lebens. Ich war keine mürrische Person und auch nicht schnell erregbar, aber ich vermute, dass mein Stillschweigen und meine beharrliche Geduld ihm auf die Nerven gingen. Es gelang mir auch niemals, ihm irgend etwas recht zu machen, und nachdem er alle Fotos und Bücher vernichtet hatte, von denen er glaubte, dass sie mir wert seien, ging er dazu über, mich zu schlagen. Dorothy rührte er allerdings nie an. Er war stets sehr nett zu Kindern.

Meine Tochter Mildred wurde im August des Jahres 1912 geboren, und erst damals kam es mir richtig zu Bewusstsein, dass nicht der Ort oder die Leute schuld waren, sondern ich allein. Ich hatte mich so ausschliesslich mit den Problemen der Alice La Trobe-Bateman und ihrer anscheinend unglücklichen Ehe beschäftigt, dass ich darüber vergessen hatte, Alice Evans, das heisst, Mensch zu sein. Als Mildred geboren wurde, war ich sehr krank und erst dadurch lernte ich die Leute der kleinen Stadt richtig kennen. Mildred war zehn Tage überfällig; die Temperatur auf meiner Veranda war 45° Celsius; die zwölf Nachbarskinder waren schrecklich laut; ich war schon tagelang sehr krank gewesen, und da stürzte auch noch zu allem Überfluss unsere Senkgrube ein. Ich malte mir in Gedanken aus, wie Dorothy, die damals 2 1/2 Jahre alt war, dort herumlaufen und in die Senkgrube fallen würde. Walter war zu nichts zu gebrauchen. Er hatte sich gerade wieder einmal zu seinen Amtspflichten auf und davon gemacht. Ich hatte eine tüchtige kleine jüdische Krankenschwester, die es meinetwegen mit der Angst kriegte und immer wieder nach dem Arzt telefonierte, der sein Kommen verzögerte. Plötzlich öffnete sich die Tür, und die Frau des Kneipenwirts kam ohne anzuklopfen herein. Sie sah mich bloss einmal an, ging einfach ans Telefon und verfolgte den Arzt von Haus zu Haus, bis sie ihn erwischte und auf der Stelle zu mir beorderte. Dann nahm sie Dorothy auf den Arm, nickte mir beruhigend zu und versicherte, sie würde sich ihrer schon annehmen und verschwand. Ich bekam Dorothy drei Tage lang nicht zu sehen. Ich machte mir auch nicht viel daraus, ich war viel zu krank. Mildred war eine Zangengeburt, und ich hatte zwei schwere Blutungen. Dank guter Pflege kam ich durch. Mein Zustand hatte sich schnell herumgesprochen, und es wurden mir so viele gute Sachen ins Haus geschickt, und so viele Freundlichkeiten erwiesen, dass ich dafür ewig dankbar bin. Rahmspeisen, Obstkuchen, Portwein, frisches Obst strömten geradezu ins Haus. Morgens erschienen Frauen die meine Wäsche wuschen, aufkehrten, abstaubten und sich zu mir setzten, um für mich zu nähen und zu stopfen. Sie lösten die Schwester bei meiner Pflege ab. Sie luden meinen Mann zu sich ins Haus, damit er nicht im Weg stand, und es wurde mir plötzlich klar, dass die Welt voller reizender Menschen ist, und dass ich mein Leben lang blind gewesen war. Ich war wieder etwas tiefer ins Wesen der Menschheit eingedrungen.

Um diese Zeit fing es jedoch an, mit meinen Eheschwierigkeiten wirklich ernst zu werden. Die Leute fanden allmählich heraus, wer Walter Evans wirklich war. Am neunten Tag nach Mildreds Geburt stand ich auf, ohne irgendeine Schwester oder sonstige Hilfe zu haben. Die Frau des Küsters ertappte mich an diesem Tag zu ihrem Entsetzen beim Wäschewaschen, und da sie wusste, dass ich zehn Tage vorher beinahe gestorben wäre, suchte sie Walter Evans auf und las ihm tüchtig die Leviten. Sie richtete damit nichts aus, aber sie hatte Verdacht geschöpft, beobachtete mich von da an genauer und freundete sich mit mir noch mehr an. Seine Anfälle nahmen ein immer ernsteres Ausmass an, aber das Merkwürdige dabei war, dass er (abgesehen von wilden, unbeherrschten Wutanfällen) keinerlei Untugenden irgendwelcher Art hatte. Er trank nie; er fluchte nie; er spielte nie. Ich war die einzige Frau, für die er sich je interessiert, und die einzige, die er je geküsst hatte, und ich glaube, das blieb auch so, bis er vor einigen Jahren starb. Trotz alledem konnte man einfach mit ihm nicht leben, und schliesslich wurde es geradezu gefährlich, mit ihm im gleichen Haus zu sein. Eines Tages kam die Küsterfrau zu mir und fand mein Gesicht schlimm verbeult. Ich war so krank und matt, und sie war so nett und gut, dass ich ihr gestand, mein Mann habe ein Pfund Käse nach mir geworfen und mich mit voller Wucht mitten im Gesicht getroffen. Sie ging wieder nach Hause, und bald darauf trat der Bischof ein. Ich wünschte, ich könnte in diesen Zeilen die Freundlichkeit, die Güte und das Verständnis des Bischofs Sanford wiedergeben. Zum ersten Mal war ich ihm begegnet, als er zu einer Konfirmation zu uns herunterkam. Ich hatte Abendbrot serviert und war dann in der Küche beim Tellerabwaschen. Plötzlich merkte ich, wie hinter mir jemand abtrocknete; ich drehte mich nicht gleich um, weil ich glaubte, es wäre bloss eine von den Gemeindefrauen. Dann stellte ich aber zu meiner Überraschung fest, dass es der Bischof war, und was er da tat, war durchaus bezeichnend für ihn. - Bei seinem diesmaligen Besuch gab es viele Besprechungen, und schliesslich wurde Walter Evans erneut Gelegenheit geboten, sich zu bewähren. Wir zogen sofort in eine andere Gemeinde um. Darüber freute ich mich sehr, denn das Pfarrhaus war viel netter. Es handelte sich um eine grössere Ortschaft und ich war näher bei Ellison Sanford, einem der entzückendsten Menschen und einer der treuesten Freundinnen, die ich je hatte.

Mein Allgemeinbefinden besserte sich, und trotz der fortdauernden Wutausbrüche nahm das Leben für mich etwas mehr Farbe an. Ich war näher der Stadt, in welcher der Bischof und seine Frau lebten und bekam sie öfter zu sehen. Ich fand mehr Leute innerhalb der Gemeinde, die meine Sprache sprachen, aber es war doch in mancher Hinsicht eine schlimme Zeit für mich, und im Herbst wurde ich wieder krank. Meine jüngste Tochter, Ellison, wurde für Januar erwartet. Im Lauf einer seiner Anfälle warf mich mein Mann die Treppe hinunter, was, wie sich herausstellte, von schlechten Folgen für das Kind war. Sie war nach der Geburt sehr zart und was man im Volksmunde ein «blaues Baby» nennt, d.h. sie hatte eine undichte Herzklappe; jahrelang glaubte man nicht, dass ich sie durchbringen würde. Es gelang mir aber, und heute ist sie das stärkste von den drei Mädchen.

Danach verschlimmerte sich die Lage immer mehr. Jeder wusste, dass im Pfarrhaus allerhand los war und jeder tat sein Möglichstes, um mir zu helfen. Ein sehr nettes Mädchen erbot sich, zu mir zu ziehen und bei mir in Untermiete zu wohnen, bloss damit ich jemanden um mich hätte; obwohl ihr dabei allmählich angst und bange wurde, hielt sie doch bis zum Schluss bei mir aus. Der Acker neben dem Pfarrhaus wurde Tag für Tag immer wieder umgepflügt, und als ich einmal (aus Neugierde) den Mann, der gerade beim Pflügen war, nach dem Grund dieser anhaltenden Betätigung fragte, da sagte er mir, eine Gruppe von Männern hätte beschlossen, dass ich stets jemanden in Rufweite haben sollte und deshalb lösten sie sich beim Pflügen ab. Die Mädchen im Telefonamt erfassten die Lage und machten es sich zur Gewohnheit, mich in gewissen Abständen anzurufen, um festzustellen, wie es mir ging. Der Arzt, der mich behandelt hatte, als Ellison geboren wurde, machte sich grosse Sorgen um mich; ich musste ihm versprechen, das grosse Küchenmesser und die Axt jede Nacht unter meiner Matratze zu verstecken. Es verbreitete sich das Gerücht, dass Walter Evans geisteskrank sei. Ich weiss noch, dass ich eines Nachts aufwachte und einen Mann eiligst aus meinem Zimmer hinaus und treppab huschen hörte. Es war bloss der Arzt, der mal nachsehen wollte, ob es mir gut ging. Wie man sieht, war ich also wiederum von Freundlichkeit umgeben. Ich war aber tief beschämt, und mein Stolz war ernstlich verletzt.

Eines Morgens rief mich eine Freundin an und sagte, sie würde mich mit den drei Kindern abholen, um den Tag mit ihr zu verbringen. Wir gingen hin und verlebten dort sehr schöne Stunden. Als ich aber wieder nach Hause kam, stellte ich fest, - dass man Walter Evans nach San Francisco geschickt und einem Nervenspezialisten und praktischen Arzt zur Beobachtung übergeben hatte, um herauszufinden, ob er geistig normal war oder nicht. Zu meinem Glück entschied der Arzt, dass er bösartig, aber nicht geisteskrank war, und dass er unter nichts Ernsterem litt als einem unbeherrschten Temperament. Inzwischen war Ellison ernstlich an «cholera infantum» erkrankt, und man machte mir keine Hoffnung, dass sie überleben würde. Ich erinnere mich noch so genau an einen brennend heissen Sommertag während jener schrecklichen Zeit. Ellison lag todkrank auf einer Steppdecke auf dem Fussboden, während die anderen beiden Kinder im Hof eines Nachbarn spielten. Mein Arzt fuhr vor und kam mit einem kleinen Kind auf dem Arm ins Haus, gefolgt von einer hochgewachsenen, hübschen Frau, die so aussah, als sei sie reif fürs Krankenhaus. Er sagte, er habe mir das Kind zur Pflege gebracht und fragte, ob ich wohl so gut sein würde, die Mutter zu Bett zu bringen und für sie ebenfalls zu sorgen. Natürlich tat ich das und drei Tage lang hatte ich zwei kranke Babys zu betreuen und dazu eine kranke Frau, die zu krank, zu elend und zu deprimiert war, um für ihr eigenes Kind zu sorgen. Ich tat, was ich konnte, aber das Baby starb in meinen Armen. Die Kleine war nicht zu retten, trotz vorzüglicher ärztlicher Behandlung und obwohl ich selbst eine gute Krankenpflegerin bin. Dieser Arzt war ein weiser Mann; er wusste genau, dass ich in meiner eigenen, häuslichen Situation alle Hände voll zu tun hatte, dass ich aber noch zu lernen hatte, dass es auch anderen Leuten so schlecht ging wie mir, und dass ich zu einem weit höheren Energieaufwand fähig war, als ich mir selbst zutraute. Ich staune immer wieder über die Weisheit und das tiefe psychologische Wissen dieser Kleinstadtpraktiker. Sie kennen die Menschen; sie opfern ihr Leben auf; ihre Geschicklichkeit beruht auf einer vielseitigen Erfahrung; sie handeln in Notfällen schnell und richtig, denn sie können sich auf niemand anders als auf sich selbst verlassen. Ich persönlich fühle mich den Ärzten - in Stadt und Land - zu tiefstem Dank verpflichtet, die mir sowohl Freunde als auch Helfer waren.

Nun riet man mir, Ellison nach San Francisco ins Kinderkrankenhaus zu bringen, um zu sehen, ob man ihr irgendwie helfen konnte. Ellison Sanford nahm die beiden anderen Kinder zu sich, obwohl sie vier eigene Kinder hatte, und ich reiste mit dem Baby nordwärts. Die Ärzte im Krankenhaus sagten mir, sie könne unmöglich am Leben bleiben; ich musste sie dortlassen und zurückkehren, um nach meinen beiden anderen Kindern zu sehen. Ich will den Ernst einer solchen Lage nicht weiter ausmalen. Wer Kinder hat, wird mich verstehen. Ich hatte nie erwartet, sie wiederzusehen, aber wunderbarerweise erholte sie sich und wurde mir von ihrem Vater zurückgebracht, der seinerseits mit einem positiven Gesundheitsbefund aus der Beobachtung entlassen worden war. Das ist nicht so komisch, wie es vielleicht klingt, nicht wahr? Ich jedenfalls bin nicht zum Lachen aufgelegt, wenn ich darüber spreche.

Ein sehr merkwürdiges und schwieriges Jahr stand uns jetzt bevor. Es war dem Bischof nicht möglich, Walter eine neue Pfarre zu übertragen. Die geringen Mittel, die wir hatten, waren nahezu erschöpft, und mein sehr bescheidenes Einkommen war infolge des Weltkriegs erheblich zusammengeschrumpft. Als Walter nach San Francisco ging, blieb ich mit den Kindern und einer Menge Rechnungen zurück. Er hatte gar kein Verhältnis zum Geld; was ich ihm geben konnte oder was aus seinem eigenen Gehalt für laufende Rechnungen vorgesehen war, verausgabte er für unwesentliche Luxusgegenstände. Er brachte es fertig, von zu Hause wegzugehen, um die monatliche Kolonialwarenrechnung zu bezahlen, und dann mit einem Grammophon wiederzukommen.

Solange ich lebe, werde ich die ausserordentliche Freundlichkeit des Mannes nicht vergessen, dem das Kolonialwarengeschäft in der kleinen Stadt gehörte, wo ich wohnte, als Walter seine letzte Pfarrstelle in der Diözese von San Joaquin innehatte. Wir schuldeten ein paar hundert Dollar für Kolonialwaren, obwohl ich davon gar nichts wusste. Im Ort hatte sich natürlich die Nachricht von allem verbreitet, was vorgefallen war. Am Morgen nachdem Walter nach San Francisco geschickt worden war, klingelte das Telefon; es war das Kolonialwarengeschäft. Der Eigentümer war Jude und ein ziemlich gewöhnlich aussehender Jude. Ich hatte nie etwas für ihn getan, ausser dass ich höflich zu ihm war und durchblicken liess, dass ich nichts gegen die Juden hatte. Irgendwelchen Antisemitismus hat es in Grossbritannien nie gegeben, besonders nicht in meiner Jugendzeit. Einige unserer grössten Männer sind Juden gewesen, wie z.B. Lord Reading, der Vizekönig von Indien, und andere. Dieser Mann bat mich also telefonisch um meine Bestellung. Ich fragte, wieviel wir ihm schuldeten, und er sagte «über zweihundert Dollar»; er mache sich aber keine Sorgen darum, denn er wisse, dass die Schuld bezahlt würde, selbst wenn es fünf Jahre dauern sollte. Dann fügte er hinzu: «Wenn sie mir keine Bestellung geben, dann werde ich ihnen einfach schicken, was sie voraussichtlich gerade brauchen, aber das würde ihnen doch nicht recht sein, nicht wahr?» Also machte ich eine Bestellung. Als die Sachen an dem Morgen im Pfarrhaus ankamen, fand ich darin einen Umschlag mit zehn Dollar «für Unvorhergesehenes», die er mitgeschickt hatte, falls es mir an Bargeld mangeln sollte, und die er mir auf die Rechnung schrieb, weil er wusste, dass ich kein Almosen annehmen würde. Er bat mich auch um den Schlüssel zu unserem Briefkasten, um nach meiner Post sehen zu können. Ich fühlte mich damals und fühle mich auch heute noch tief in seiner Schuld. Ich brauchte über zwei Jahre, um seine Rechnung abzuzahlen, aber beglichen wurde sie; und jedesmal, wenn ich ihm wieder fünf Dollar anzahlte, bekam ich ein Dankschreiben von ihm, als ob ich ihm einen Gefallen getan hätte.

Abgesehen davon, dass ich in England aufgewachsen war, wo es keine antisemitische Stimmung gab, und wo das Negerproblem besser als in den Vereinigten Staaten verstanden wird, habe ich allen Grund, Angehörigen dieser beiden leidenden Minoritäten gegenüber tief dankbar zu sein. Das Problem der Neger hielt ich immer für viel einfacher und leichter lösbar als das der Juden.

Das Judenproblem habe ich von jeher für nahezu unlösbar gehalten. Ich sehe auch heute noch keinen anderen Ausweg, als den langsamen Evolutionsprozess und eine planmässige Erziehungspropaganda. Ich habe keinerlei Abneigung gegen Juden; einige meiner liebsten Freunde wie Dr. Assagioli, Regina Keller und Victor Fox sind Juden; ich liebe sie von ganzem Herzen, und sie wissen das auch. Es gibt nur wenige Menschen in der Welt, die mir so nahe stehen wie sie, ich verlasse mich auf ihren Rat und ihr Verstehen und sie enttäuschen mich nie. Ich habe offiziell auf Hitlers schwarzer Liste gestanden, weil ich während meiner Vorlesungen in verschiedenen westeuropäischen Städten die Juden verteidigt hatte. Obwohl ich mir der wundervollen Eigenschaften der Juden, ihres Beitrags zur westlichen Kultur und Wissenschaft und ihrer ausserordentlichen Begabung auf dem Gebiet der schöpferischen Künste voll und ganz bewusst bin, kann ich mir doch keine unmittelbare Lösung für dieses kritische und verwirrende Problem vorstellen.

Die Fehler liegen auf beiden Seiten. Dabei beziehe ich mich nicht auf die Fehler oder besser gesagt, das verbrecherische Benehmen, der Deutschen oder der Polen gegenüber ihren jüdischen Mitbürgern. Ich meine vielmehr alle diejenigen, welche für die Juden sind und nicht gegen sie. Wir Nichtjuden wissen immer noch nicht, was wir eigentlich tun sollten, um die Juden von Verfolgung zu befreien - einer Verfolgung, die viele Jahrhunderte alt ist. Schon in der Frühzeit der biblischen Geschichte haben die Ägypter die Juden verfolgt und damit den Anfang zu einer endlosen Reihe weiterer Verfolgungen gemacht. Es fällt mir nicht leicht, meine eigenen Schlussfolgerungen darzulegen, aber ich will es trotzdem tun, in der Hoffnung, anderen damit zu helfen. Ich kann indes nur ganz kurz auf einen oder zwei Punkte eingehen, was die Betrachtung von vornherein unzulänglich macht.

Diese ständige und unaufhörliche Verfolgung muss doch irgendeinen tieferen Grund haben, der die Unbeliebtheit der Juden erklärt. Worum könnte es sich dabei handeln? Dieser tiefere Grund beruht wahrscheinlich auf bestimmten Rasseneigenschaften. Man beklagt sich (und häufig mit Recht) darüber, dass die Juden die Atmosphäre in jedem Bezirk, wo sie wohnhaft werden, negativ beeinflussen. Sie hängen ihr Bettzeug und ihre Kleider vor den Fenstern auf. Sie leben auf der Strasse und sitzen gern in Gruppen auf dem Bürgersteig. Die Juden waren aber jahrhundertelang Zeltbewohner und mussten so leben, und möglicherweise reagieren sie immer noch auf diese ererbten Gewohnheiten. Man beklagt sich darüber, dass, sobald ein Jude in einer Gruppe oder Geschäftsorganisation Zugang findet, es nicht lange dauert, bis er seine Schwestern und Neffen, seine Onkel und Tanten ebenfalls mit hineinbringt. Die Juden mussten sich aber angesichts ihrer jahrhundertelangen Verfolgung von je her eng aneinander schliessen. Es wird behauptet, dass der Jude rein materialistisch eingestellt sei, dass der allmächtige Dollar ihm mehr bedeute als alle sittlichen Werte, und dass er stets schnell und geschickt dazu bereit sei, die Nichtjuden zu übervorteilen. Die jüdische Religion legt aber wenig Wert auf Unsterblichkeit oder auf das Fortleben nach dem Tod, und das weiss ich, weil ich dieses Problem mit jüdischen Theologiestudenten besprochen habe. Warum sollten sie dem Leben also nicht im materiellen Sinn das Beste abgewinnen? Lasst uns essen und trinken und weltliche Güter erwerben, den morgen sind wir tot. All das ist verständlich, aber es fördert keine guten Beziehungen.

Im Lauf meiner Studien, Betrachtungen und Nachforschungen sind mir gewisse Gedanken klar geworden, die - wenigstens für mich - eine teilweise Antwort enthalten. Der Jude klammert sich an eine Religion, die im Grund überlebt ist. Erst kürzlich legte ich mir die Frage vor, welcher Teil des Alten Testaments es verdient, beibehalten zu werden. Vieles darin ist erschreckend und grausam und wird nach den hiesigen Gesetzen nur deshalb zum Postversand zugelassen, weil es als biblische Literatur gilt. Ich kam zu dem Schluss, dass die Zehn Gebote beibehalten werden sollten, dazu ein oder zwei biblische Geschichten, wie die Liebe Davids und Jonathans, der 23ste, 91ste und ein paar weitere Psalmen, und ungefähr vier Kapitel aus dem Buch des Propheten Jesaja. Alles andere war in der Hauptsache nutzlos und unerwünscht, und vieles davon nährte nur den Nationalstolz des Volkes. Was zwischen dem orthodoxen Juden und der Masse aller Andersgläubigen steht, sind seine religiösen Verbote, denn der jüdische Glaube ist grösstenteils eine Religion des «Du sollst nicht». Was das Denken der Allgemeinheit über den unorthodoxen und jüngeren Juden beeinflusst, ist sein Materialismus, dessen Symbol Shakespeares Shylock ist.

Während ich diese Worte niederschreibe, bin ich mir ihrer Unzulänglichkeit und teilweisen Ungerechtigkeit bewusst, und doch treffen sie im Sinn einer grossen Verallgemeinerung durchaus zu, wenn auch ihre Anwendung auf den einzelnen Juden in vielen, vielen Fällen äusserst ungerecht wäre. Der Jude und der Deutsche haben vieles gemeinsam. Der Deutsche betrachtet sich als Mitglied einer «Herrenrasse», während der orthodoxe Jude sich für einen Vertreter des «auserwählten Volkes» hält. Der Deutsche legt Wert auf «Rassenreinheit» und das haben die Juden schon von altersher getan. Der Jude scheint sich nie assimilieren zu können. Ich habe Juden in Asien, in Indien, in Europa und hier in Amerika angetroffen, und sie sind immer noch Juden, die sich trotz der erworbenen Bürgerrechte vom Volk abgesondert halten, in dessen Mitte sie leben. In Grossbritannien oder in Holland schien mir das nicht der Fall zu sein.

Die Juden sind von anderen Völkern oft abscheulich behandelt worden; das beklagen viele von uns aus tiefstem Herzen und wir bemühen uns eifrig, Abhilfe zu schaffen. Ein erschwerender Umstand zeigt sich heute auf seiten der Juden selbst. Ich persönlich habe noch keine Juden angetroffen, die zugeben würden, dass es möglicherweise Fehler und Provokation auf ihrer Seite geben könnte. Sie stellen sich immer auf den Standpunkt, dass sie die Verunglimpften sind, und das jenes ganze Problem gelöst werden könnte, wenn die Christen die richtigen Massnahmen träfen. Viele Tausende von uns versuchen, die richtigen Massnahmen zu treffen, aber wir stossen dabei auf wenig Bereitschaft von seiten der Juden.

Meine Leser werden mir diese Abschweifung hoffentlich verzeihen, aber die Erinnerung an Mr. Jacob Weinberg, der mir so viel Freundschaft erwies, brachte mich auf das Thema, das mir sehr am Herzen liegt.

Walter und ich standen nun vor der Frage, was wir tun sollten. Ich wusste, dass Walters Geschick im wesentlichen in meiner Hand lag. Wenn ich ihn dazu bringen könnte, sich besser zu benehmen und mich mit normalem Anstand zu behandeln, würde sich der Bischof schliesslich bemühen, ihm eine neue Pfarrstelle in einer anderen Diözese zu beschaffen, in der seine Vergangenheit ihn nicht belasten würde, obwohl der Bischof dieser Diözese natürlich über alle Einzelheiten unterrichtet werden müsste. Ich weiss noch genau, wie ich eines Abends Walter die Situation klipp und klar vor Augen führte, nachdem ich mit dem Bischof eine lange Unterredung gehabt hatte. Ich machte ihm klar, dass sein Schicksal in meiner Hand lag und dass er klug daran täte, mich nicht länger zu misshandeln. Ich sagte ihm, dass ich jederzeit die Scheidung von ihm erlangen könnte und dazu bloss den Arzt, der mich bei Ellisons Geburt behandelt und mich am ganzen Körper verbeult gesehen hatte, als Zeugen zu nehmen brauchte. Diese Drohung war vom Standpunkt der Episkopalkirche aus sehr ausschlaggebend. Seine Priesterlaufbahn wäre damit beendet gewesen. Er war ein stolzer Mensch, und das erregte öffentliche Aufsehen berührte ihn so stark, dass er von dem Tag an keinen Finger mehr gegen mich erhob. Er schmollte, sprach tagelang nicht mit mir und überliess mir fast alle Arbeit, aber ich hatte keinen weiteren Grund, mich vor ihm zu fürchten.

Wir bezogen eine elende Hütte mit drei Zimmern, tief in der Wildnis, nicht weit von Pacifice Grove, und ich fing an, Hühner zu halten, um mir durch den Verkauf von Eiern etwas Bargeld zu verschaffen. Ich musste bald feststellen, dass damit nicht viel Geld zu verdienen ist, es wäre denn, dass man die Hühnerzucht in sehr grossem Stil betreibt - und dazu gehört Kapital. Hennen sind solch alberne Dinger; sie haben solch alberne Gesichter und solch dämliche Angewohnheiten; sie entbehren jeglicher Intelligenz; das einzig Interessante bei der Hühnerzucht ist die Suche nach Eiern, und das ist eine schmutzige Arbeit. Es gelang mir aber, die Familie zu ernähren, denn die Bude kostete nur acht Dollar pro Monat, obwohl sie nicht einmal das wert war.

Mein damaliges Leben war vollkommen eintönig, - es beschränkte sich auf die Betreuung von drei kleinen Kindern, einem mürrischen Ehemann und mehreren hundert blöden Hühnern. Wir hatten weder ein Badezimmer noch eine Innentoilette im Haus. Schon das Sauberhalten der Kinder und der Wohnung war ein Problem. Wir hatten fast kein Geld, und die Rechnung des Kolonialwarenhändlers wurde zum Teil mit Eiern bezahlt, die er immer annahm, weil er mein Freund war. Gewöhnlich ging ich mit einem Schubkarren in die Wälder der Umgebung, um Brennholz zu sammeln, wobei die Kinder hinter mir herzottelten. Ich kann also nicht behaupten, dass es eine angenehme Zeit war. Wiederum finde ich nichts Amüsantes dabei. Sie erschien mir wie eine ganz neue Inkarnation, und der Gegensatz zwischen diesem eintönigen Dasein einer Hausfrau und Mutter, Hühnerzüchterin und Gärtnerin einerseits und meinem früheren, reichen Leben als junges Mädchen und meinem erfüllten Leben als Evangelistin andererseits war so stark, dass ich schliesslich allen Mut verlor.

Ich kam mir vollkommen nutzlos vor; ich musste mich irgendwie vom rechten Weg abgewendet haben, denn sonst wäre ich doch nicht in eine solche Lage geraten. Der alte, christliche, «elende Sünder»-Komplex überwältigte mich vollends. Mein durch die strenggläubige Theologie krankhaft beeinflusstes Gewissen sagte mir immer wieder, das wäre die Strafe für meine nagenden Zweifel; wenn ich an meinem Kinderglauben und meiner damaligen Gewissheit festgehalten hätte, dann würde ich mich nicht in dieser Klemme befinden. Die Kirche hatte mich enttäuscht, weil Walter dazu gehörte, und die anderen Geistlichen, die ich kennengelernt hatte, waren auch sehr mittelmässige Menschen, mit Ausnahme des Bischofs. Er war ein Heiliger, aber ich sagte mir, er würde sowieso ein Heiliger gewesen sein, selbst wenn er zufällig Klempner oder Börsenmakler gewesen wäre. Ich wusste genug von der Theologie, um meinen Glauben an theologische Auslegungen zu verlieren und ich fühlte, dass mir nichts davon übrig blieb, als ein unbestimmter Glaube an Christus, der mir zu dieser Zeit sehr weit entfernt schien. Ich fühlte mich von Gott und der Welt verlassen.

Dazu möchte ich bemerken, dass ich keinen Zweifel darüber hege, dass die Kirche ein verlorenes Spiel treibt, wenn sie ihre Methoden nicht ändert. Ich kann gar nicht verstehen, wieso die Männer der Kirche nicht mit der Zeit gehen. Alle evolutionäre Entwicklung auf jedem Gebiet ist ein Ausdruck des Göttlichen, und die statische Bewegungslosigkeit theologischer Auslegung steht im Widerspruch zum grossen Universalgesetz der Evolution. Letzten Endes ist die Theologie doch bloss des Menschen Auslegung und Verständnis dessen, was er für Gottes Ansicht hält. Es ist aber ein menschliches, begrenztes Gehirn, welches das Denken besorgt und es von altersher besorgt hat. Es können also auch andere, menschlich begrenzte Gehirne auftreten und andere, tiefere und sinnvollere oder umfassendere Auslegungen aufzeigen und damit eine fortschrittlichere Theologie begründen. Wer will behaupten, dass sie nicht ebenso recht haben wie ihre Vorgänger? Wenn die Kirchen ihr Gesichtsfeld nicht erweitern, wenn sie ihre Streitigkeiten wegen unwesentlicher Einzelheiten nicht beilegen und wenn sie nicht einen auferstandenen, lebendigen und liebenden Christus, anstatt eines toten, leidenden und einem zornigen Gott zum Opfer gebrachten Christus predigen, dann werden sie die Gefolgschaft der kommenden Generation verlieren - und das mit Recht. Christus lebt, siegreich und stets gegenwärtig. Wir sind durch sein Leben erlöst. Den Tod, den er gestorben, können auch wir siegreich sterben, so steht es in der Bibel. Die Kirchen werden bei ihren theologischen Seminaren anfangen müssen. Ich habe eine theologische Schulung durchgemacht und weiss, worum es sich handelt. Intelligente junge Leute werden nichts von Seminaren wissen wollen, in denen man sie veraltete Sinndeutungen für etwas lehrt, das sie als lebendige Wahrheiten anerkennen. Sie haben kein Interesse an der jungfräulichen Geburt - sie interessieren sich für die Tatsache Christi. Sie wissen zuviel, um den wörtlichen Sinn der Heiligen Schriften anzunehmen, aber sie sind bereit, an das Wort Gottes zu glauben. Das Leben ist heute so voller Bewegung, voller Helden, voller Schönheit, voller Trauerspiele und Katastrophen und voller Wirklichkeit und herrlicher Gelegenheit, dass diese Generation für die Kindereien der Theologie keine Zeit hat. Glücklicherweise gibt es innerhalb jeder Kirche einige wenige weitblickende Menschen, welche diese reaktionäre Einstellung allmählich ändern werden, aber dazu gehört Zeit. Bis dahin werden die verschiedenen Kulte und Ismen die Menschen gefangen halten. Das wäre nicht nötig, wenn die Kirchen erwachen und einer suchenden, drängenden Menschheit das bieten würden, was sie braucht - kein Schlafmittel, keine Autorität, keine wohlklingenden Gemeinplätze, sondern den lebendigen Christus.

Nachdem wir, wenn ich nicht irre, ungefähr sechs Monate lang in dieser Weise zugebracht hatten, sah ich den Bischof wieder und sagte ihm, dass Walter sich gut benommen habe. Der Bischof bemühte sich deshalb in sehr freundlicher Weise um eine neue Stelle für ihn, in der er sich erneut kirchlich betätigen könnte. Schliesslich besorgte er ihm eine kleine Pfarre in einem Bergarbeiterdorf im Staat Montana, unter der Bedingung, dass ein Teil seines monatlichen Gehaltes mir überwiesen werden sollte. Ich zog inzwischen in ein kleines Dreizimmerhäuschen in einer dichter bewohnten Gegend von Pacific Grove. Das war im Jahr 1915 und das letzte Mal, dass ich Walter Evans je zu Gesicht bekam. Von seinem Gehalt wurde mir fast nie etwas überwiesen, und seine Briefe wurden immer beleidigender. Sie waren voller Drohungen und Anspielungen. Ich war völlig hilflos, und es wurde mir klar, dass ich mein Leben allein einrichten und das tun müsste, was für meine drei kleinen Mädchen am besten wäre.

Der Krieg in Europa war in vollem Gang. Alle meine Verwandten waren darin verwickelt. Mein kleines Einkommen erreichte mich nur unregelmässig. Es lagen schwere Steuern darauf, und manchmal kam der Bankscheck überhaupt nicht an, weil der Postdampfer versenkt worden war. Ich befand mich in einer äusserst schwierigen Lage, ohne einen Verwandten im Land, an den ich mich wenden konnte und (abgesehen vom Bischof und seiner Frau) ohne Freunde, mit denen ich mich gern unterhalten hätte. Ich war allerdings von lieben und guten Freunden umgeben, aber keiner von ihnen war in der Lage, irgend etwas für mich zu tun; und wenn ich heute an diese Zeit zurückdenke, glaube ich kaum, dass ich sie jemals wissen liess, wie verzweifelt meine Lage wirklich war. Der Bischof wollte meinen Verwandten schreiben und sie über die Situation unterrichten, aber ich liess das nicht zu. Ich habe immer an das Sprichwort geglaubt: «Wie man sich bettet, so schläft man» und es liegt mir nicht, meinen Freunden etwas vorzuweinen. Ich weiss, «Gott hilft denen, die sich selbst helfen», aber damals kam es mir vor, als ob mich sogar Gott im Stich gelassen habe, und ich konnte mich nicht einmal winselnd an ihn wenden.

Ich sah mich nach etwas um, was mir etwas Geld einbringen würde, musste aber feststellen, dass ich eine vollkommen unbrauchbare Person war. Ich konnte wunderschöne Spitzen herstellen, aber niemand wollte Spitzen haben, und in Amerika konnte ich mir sowieso nicht das dazu nötige Material besorgen. Ich besass keine besonderen Fähigkeiten; ich konnte nicht Maschine schreiben; ich konnte nicht unterrichten; ich wusste nicht, was ich tun sollte. Es gab nur eine einzige Industrie in der Gegend, und das war die Sardinenindustrie, und um meine Kinder nicht verhungern zu lassen, beschloss ich, Arbeiterin in einer Sardinen-Konservenfabrik zu werden.

Ich erinnere mich an jene Krisenzeit, als ich zu diesem Entschluss gelangte. Es handelte sich um eine grössere, geistige Krise. Wie bereits erwähnt, war ich bei meiner Ankunft in Amerika voller Zweifel in bezug auf die geistigen Wahrheiten, an die man glauben konnte. Der theologische Kursus, den ich bald darauf mitmachte, half mir nicht. Jeder theologische Kursus ist dazu angetan, den Glauben eines Menschen zu untergraben, wenn er intelligent genug ist, Fragen zu stellen, und wenn er nicht zu denen gehört, die alles blind hinnehmen, was ein Geistlicher sagt. Die Kommentare, die ich in der theologischen Bibliothek zu Rate zog, schienen mir fade, schlecht abgefasst und voll nichtssagender Redensarten zu sein. Sie beantworteten keine einzige Frage; sie ergingen sich in abstrakten Begriffen; sie gingen der Wirklichkeit selbst dann aus dem Weg, wenn sie Gottes Meinung und Absicht genau zu wissen vorgaben, und sie suchten alle Probleme dadurch zu lösen, dass sie den Hl. Augustin, Thomas von Aquino und die Heiligen des Mittelalters zitierten. Theologen scheinen niemals geneigt zu sein, einer Sache auf den Grund zu gehen; sie verschanzen sich immer hinter der abgedroschenen Behauptung, dass «Gott gesagt hat». Vielleicht hat er aber «nicht gesagt»; vielleicht war die Übersetzung falsch; vielleicht war der betreffende Ausspruch in den Text eingeschoben worden - wie das vielfach in der Bibel vorkommt. Dann tauchte in mir die Frage auf: «Warum sprach Gott nur zu den Juden?» Ich wusste nichts von den anderen Schriften in der Welt, und wenn ich davon gewusst hätte, dann hätte ich sie nicht als Heilige Schriften angesehen. Es gab da Stellen im Alten Testament, die mich entrüsteten, und bei einigen konnte ich überhaupt nicht verstehen, wieso man sie je zum Postversand zulassen konnte. In einem gewöhnlichen Buch würden sie nach unseren Postbestimmungen als anstössig betrachtet werden, aber in der Bibel waren sie zulässig. Schliesslich fragte ich mich, ob meine Auslegungen nicht genau so gut wären, wie die von irgend jemand anderm. Ich weiss noch, wie ich eines Tages über den Bibelvers nachdachte «Nun aber sind auch eure Haare auf dem Haupt alle gezählet» (Matth. 10, 30) - und es schien mir, als ob Gott doch allerhand Statistiken führe. Ich befragte einen Theologen im Seminar und er antwortete, diese biblische Behauptung sei der Beweis dafür, dass Gott nicht an Zeit gebunden sei. Als nächstes stellte ich fest, dass das Kreuz kein christliches Symbol, sondern viel älter als das Christentum ist, und das war der letzte Schlag.