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KAPITEL II - Teil 1

KAPITEL II 

So endete der sorglose, verhältnismässig verantwortungsfreie und bequeme Abschnitt meines Lebens. Er hatte 22 Jahre gedauert und war die einzige Zeit meines ganzen Lebens, in der ich Mitglied einer Familie war und den Rückhalt, das Ansehen und die Sicherheit genoss, die damit verbunden sind. Ich hatte viel Spass, war vielen Menschen begegnet und war viel auf Reisen gewesen. Ich weiss nicht mehr, wie oft ich über den Ärmelkanal nach dem Kontinent und wieder zurück gefahren bin, denn das geschah so oft. Glücklicherweise bin ich durchaus seefest und liebe die See, wenn sie auch noch so bewegt ist. An persönliche Freundschaften kann ich mich nicht mehr erinnern, bis auf eine Dame, mit der ich heute noch befreundet bin und im Briefwechsel stehe. Wir hatten uns in der Schweiz getroffen und gemeinsam Unterricht in irischer Spitzenklöppelei genommen. Ich war immer stolz auf diese Leistung und besonders stolz, als ich einmal zwei Yards Faltenbesatz für 30 Dollar pro Yard verkaufte und den Erlös der Kirchenmission einsenden konnte, da ich damals kein Geld brauchte.

Inzwischen war aber das Bedürfnis in mir erwacht, mich in der Welt irgendwie nützlich zu machen und mein Dasein zu rechtfertigen. Damals gab ich diesem Drängen mit den Worten Ausdruck: «Jesus ging umher und tat Gutes», und ich, als seine Nachfolgerin, musste ein Gleiches tun. So begann ich denn mit wildem Fanatismus, «Gutes zu tun». Ich wurde Missionarin bei der britischen Armee.

Wenn ich auf die Zeit meiner Missionstätigkeit bei der britischen Truppe zurückblicke, dann erscheint sie mir als die sorgloseste und befriedigendste Zeit meines ganzen Lebens. Ich war mit mir selbst und allem, was mich anging, recht zufrieden. Ich tat, was ich tun wollte und war sehr erfolgreich dabei. Ich hatte keine einzige Sorge in der Welt (ausserhalb meines erwähnten Betätigungsbereichs) und keine einzige weitere Verantwortung. Ich bin mir aber darüber klar, dass es ein wichtiger Zyklus meines Lebens war, der alle meine Einstellungen von Grund auf änderte. Was während jener Periode in mir vorging, wusste ich damals nicht, aber es kam zu grossen, inneren Veränderungen. Ich war jedoch in meinem Denken und Tun damals so nach aussen gerichtet, dass diese Veränderungen verhältnismässig unbemerkt an mir vorübergingen. Ich hatte mich von meiner Familie vollends gelöst und mein Leben als junges Mädchen der Gesellschaft beendet.

Wenn ich von «voller Loslösung» spreche, so meine ich damit nicht, dass ich alle Beziehung abgebrochen hatte. Ich bin stets mit meiner Familie in Verbindung geblieben, aber unsere Wege haben sich voneinander weit entfernt, unsere Interessen waren und sind freundschaftlicher, aber nicht verwandtschaftlicher Natur. Im grossen und ganzen glaube ich ein interessanteres und bewegteres Leben geführt zu haben als sie. Ich habe nie das Gefühl gehabt, dass physische Blutsbande grosse Bedeutung haben. Warum sollten sich Leute gern haben und aneinander hängen, bloss weil sie - glücklicher- oder unglücklicherweise - die gleichen Grosseltern besitzen? Dafür sehe ich keinen Grund und nach meiner Meinung führt das zu unnötigen Verwicklungen. Wenn Freundschaft und Verwandtschaft sich decken, so ist das ein glücklicher Umstand, aber mir sind gemeinsame Interessen und gleiche Einstellungen zum Leben wichtiger als Blutsbande. Meine Töchter sollen mich gern haben, weil ich ihre Freundin bin und mich als solche erwiesen und ihre Zuneigung verdient habe. Ich erwarte kein Vertrauen und keine Zuneigung von ihnen, bloss weil ich ihre Mutter bin. Ich persönlich liebe sie um ihrer selbst willen und nicht, weil sie meine Kinder sind. Wenn die kleinen Kinder nicht mehr der körperlichen Pflege und Aufsicht bedürfen, dann täten die Eltern wohl daran, sich mehr um die Freundschaft ihrer Kinder zu bemühen.

Ich war in jeder Beziehung (wie wundervoll und wie rührend jung scheint mir das heute) meiner Sache gewiss - Gott, Glaubenslehre, die eigene Leistungsfähigkeit, die Sicherheit meines Wissens und die Unfehlbarkeit meiner etwaigen Ratschläge. Auf alle Fragen hatte ich eine Antwort und wusste auch genau, was zu tun war. Ich behandelte das Leben und seine Umstände damals mit dem Unfehlbarkeitsgefühl gänzlicher Unerfahrenheit, und meine Lösung für jedes Problem und mein Heilmittel für jede Beschwerde ergab sich stets aus der Antwort auf die Frage: «Was würde Jesus in einem solchen Fall tun?». Nachdem ich entschieden hatte, was er tun würde (wieso ich das zu wissen glaubte, ist mir noch heute ein Rätsel), verfuhr ich dementsprechend oder riet anderen, ebenso zu handeln. Gleichzeitig tauchten in mir selbst kaum bewusste und unklare Fragen auf, und obwohl ich mich weigerte, sie zu beantworten, gingen unter der Oberfläche all meiner Sicherheit und meines Dogmatismus grosse Veränderungen vor sich. Ich weiss, dass ich damals auf dem Pfad einen ganz bestimmten Schritt vorwärts gekommen bin. Langsam und ohne es in meinem Gehirnbewusstsein zu wissen, vollzog ich damals den Übergang von Autoritätsabhängigkeit zu eigener Erfahrung, von einem engen, theologischen Glauben an die wörtliche Eingebung der Bibel und deren Auslegung durch meine besondere Glaubensrichtung zu einer bestimmten und sicheren Erkenntnis der geistigen Wahrheiten, für welche die Mystiker aller Zeiten Zeugnis ablegten und wofür viele von ihnen litten und starben.

Am Ende fand ich mich im Besitz eines Wissens, das die Probe der Zeit und der Anfechtung bestand, was mein früherer Glaube nicht fertiggebracht hatte. Es ist ein Wissen, das mir immer wieder erneut vor Augen führt, wie viel, wie unendlich viel mehr ich noch zu lernen habe. Wirkliches Wissen kennt keinen Ruhepunkt; es ist lediglich eine Pforte, die uns den Blick auf weit umfassendere Bereiche der Weisheit, der Errungenschaft und des Verstehens eröffnet. Es bedeutet lebendiges Wachsen ohne Ende. Wissen sollte von einer Entfaltung zur anderen führen. Es ist als hätte man einen Berggipfel erklommen, und als würde man in dem Augenblick, da man den höchsten Punkt erreicht, plötzlich ein Land der Verheissung vor sich sehen, in das man unbedingt weiterziehen muss; aber hinter diesem verheissenen Land taucht in weiter Ferne wieder ein neuer Gipfel auf, der noch weit ausgedehntere Gebiete verbirgt.

Es gab eine Zeit in meinem Leben, in der ich vom Fenster meines Schlafzimmers aus in der Ferne das Bergmassiv Kinchengunga, einen der höchsten Gipfel des Himalayagebirges sehen konnte. Es sah so nahe aus, als ob ein Tagesmarsch mich an seinen Fuss bringen könnte, und doch wusste ich, dass ein gesunder Bergsteiger dazu mindestens zwölf harte Tagesreisen brauchen würde, und dann stünde ihm immer noch der ungeheure Aufstieg zur Spitze bevor - eine nur selten vollbrachte Tat. So ist es auch mit unserem Wissen. Was daran wirklich begehrenswert ist, ist selten leicht erreichbar und bedeutet an sich nur eine Grundlage für weiteres Wissen.

Leute, die sich einbilden, alles zu wissen und alle Fragen beantworten zu können, erfüllen mich mit einem Gefühl des Mitleids, und ich verstehe, dass man mit ihnen Geduld haben muss. In diesem Zustand befand ich mich in jenen jungen Jahren, und ich war damals noch zu unreif, um über mich selbst zu lachen. Ich nahm mich im Gegenteil todernst. Heute kann ich darüber lachen und heute weiss ich ganz genau, dass ich nicht alle Antworten weiss. Von Doktrinen und Dogmen ist nur wenig, wenn überhaupt etwas, an mir hängen geblieben. Ich bin sicher, dass Christus lebt und bin ebenso von der Existenz der Meister überzeugt, die seine Jünger sind. Ich bin sicher, dass es einen Plan gibt, den sie auf Erden auszuführen versuchen, und ich glaube, dass allein schon ihr Dasein das Erreichen des letzten Ziels der Menschheit verbürgt und dass wir alle einmal so sein werden, wie sie sind. Ich kann nicht länger mit dem Brustton der Überzeugung sagen, was andere tun sollten. Deshalb erteile ich selten Ratschläge. Ich bilde mir bestimmt nicht ein, Gottes Denken auslegen oder seinen Willen erforschen zu können, wie es die Theologen der Welt tun.

Im Lauf meines Lebens sind, glaube ich, buchstäblich Tausende zu mir gekommen, die irgend etwas von mir erklärt haben wollten oder die mich um Rat fragten, was sie tun sollten. Eine Zeitlang musste meine Sekretärin alle zwanzig Minuten eine neue Verabredung für mich vorbuchen. Ein Grund, warum ich so viele Verabredungen hatte, lag vielleicht daran, dass ich keine Gebühren verlangte und dass die Menschen von jeher etwas gern haben, was nichts kostet. Manchmal konnte ich helfen, wenn die betreffende Person unvoreingenommen und bereit war, mir zuzuhören. Aber die meisten Leute wollten sich bloss aussprechen und dabei die Grundlage schaffen, auf der ihre eigenen, vorgefassten Ideen Rechtfertigung finden; sie wissen im voraus, welchen Rat man ihnen geben sollte. Meine Technik war meist die, sie ausreden zu lassen, bis sie selbst nichts mehr zu sagen hatten, und am Ende hatten sie häufig selbst die Antwort gefunden und ihre eigenen Probleme gelöst, was in jeden Fall das Gesündeste ist und auch wirksames Handeln verbürgt. Wenn sie dagegen bloss ihre eigene Stimme hören wollen und alles selbst wissen, dann bin ich hilflos und oft wirklich besorgt.

Ob andere Leute mit meiner besonderen Wissensart oder Formulierung der Wahrheit (die wir ja alle für eigene Zwecke nötig haben) übereinstimmen oder nicht, macht mir nichts aus, aber wenn sie mit ihrer eigenen Wahrheit vollkommen zufrieden sind, dann kann man ihnen unmöglich helfen. Die tiefste Hölle (wenn es so etwas gibt, was ich bezweifle) wäre für mich ein Zustand vollkommener Zufriedenheit mit dem eigenen Gesichtspunkt und demzufolge eine derartige Erstarrung, dass alle Evolution im Denken und aller Fortschritt auf die Dauer zum Stillstand gebracht würde. Glücklicherweise weiss ich, dass die Evolution lange währt und stetig fortschreitet; das beweist die Geschichte und die Zivilisation. Ich weiss ausserdem, dass hinter allen Denkvorgängen ein grosser Denker steht und dass ein Ruhezustand unmöglich ist.

Damals war ich jedoch eine waschechte Bibelgläubige. Ich begann meine Berufstätigkeit in der vollen Überzeugung, dass bestimmte theologische Grundlehren in der von führenden Männern der Kirche festgelegten Form die Gesamtsumme göttlicher Wahrheit bedeuteten. Ich wusste genau, was Gott wollte und war (auf Grund meiner vollkommenen Unwissenheit) jederzeit bereit, jedes beliebige Thema mit der Gewissheit zu diskutieren, dass mein Standpunkt richtig sein würde. Heute habe ich oft das Gefühl, dass doch immerhin eine Möglichkeit besteht, dass ich in meiner Diagnose und Heilverordnung irren könnte. Auch glaube ich bestimmt an die Tatsache der menschlichen Seele und an deren Fähigkeit, den Menschen «aus dem Dunkel ins Licht, und vom Unwirklichen zum Wirklichen» zu führen - wie es im ältesten Gebet der Welt lautet. Ich hatte damals noch nicht gelernt, dass «die Liebe Gottes umfassender als das Ausmass menschlichen Denkens, und das Herz des Ewigen von wohltuendster Freundlichkeit» ist. Es war aber kein wirklich freundlicher Gott, den ich verkündete. Gott war freundlich zu mir, weil er meine Augen geöffnet hatte und ebenso die Augen derer, die so dachten wie ich, aber er war durchaus bereit, alle übrigen Sünder der Welt zur Hölle zu schicken. So stand es in der Bibel und die Bibel hatte stets recht. Sie konnte unmöglich irren. Ich stimmte damals mit den Behauptungen eines berühmten Bibelinstituts der Vereinigten Staaten überein, welches sich «auf den Standpunkt der ursprünglichen Handschriften der Bibel» stellte. Wie gern möchte ich heute diese Leute fragen, wo denn diese ursprünglichen Handschriften zu finden sind. Ich glaubte an die wörtliche Eingebung der biblischen Schriften und wusste nichts von den Wechselfällen und dem quälenden Suchen, dem alle ehrlichen Buchübersetzer unterworfen sind, und von der Tatsache, dass sie den ursprünglichen Text nur in annähernder Bedeutung wiedergeben können. Erst während der letzten Jahre, als meine eigenen Bücher zur Übersetzung in verschiedene Fremdsprachen gelangten, kam mir die vollkommene Unmöglichkeit sinngetreuer Wiedergabe lebhaft zum Bewusstsein. Wenn Gott englisch gesprochen hätte, wenn Christus auf englisch gepredigt hätte, dann könnte man vielleicht der Genauigkeit der Wiedergabe gewiss sein; aber das war ja nicht der Fall.

Ein in okkulten Büchern immer wiederkehrendes Wort ist «Path» (Pfad), d.h. der Rückweg zu unserem Ursprung, zu Gott und zum geistigen Mittelpunkt allen Lebens. Welches Wort kommt dabei in einer französischen Übersetzung in Frage? Le chemin, la rue, le sentier oder was? Wenn man demnach den Versuch macht, ein so uraltes Buch wie das Neue Testament ins Englische zu übersetzen, wieviel sinngetreue Wiedergabe könnte dabei überhaupt in Frage kommen? Die einzige Grundlage besteht doch höchstens in einer uralten Übersetzung aus dem Arimäischen oder Hebräischen ins Altgriechische; aus dem Griechischen ins Lateinische und aus dem Lateinischen ins Altenglische, woraus dann schliesslich die jetzige offizielle «St. James»-Ausgabe hervorging. Dasselbe gilt für Bibelübersetzungen in alle anderen Sprachen. Ich habe mir erzählen lassen, dass man zur Zeit bei der Übersetzung des Neuen Testaments ins Französische die Worte «Wasser des Lebens» (siehe Offenbarung 22, 17; ebenso 22, 1 u. Ev. Joh. 4, 10 u. 4, 11) ganz einfach und vergnügt mit «eau de vie» wiedergab. Erst nach der Veröffentlichung kam man darauf, dass diese drei Worte die französische Bezeichnung für Branntwein sind und im Neudruck hiess es dann «eau vive», was doch immerhin nicht ganz dasselbe ist. Bibelübersetzungen sind durch viele Hände gegangen; sie sind das Resultat des theologischen Denkens vieler Mönche und Übersetzer, und daraus entstehen die endlosen Streitigkeiten der Theologen über Sinn und Bedeutung. Daraus erklärt sich auch die wahrscheinlich unrichtige Übersetzung von uralten Begriffen und ebenso die wohlgemeinten aber ungeschlachten Interpolationen frühchristlicher Mönche, welche diese uralten Schriften in ihrer Muttersprache wiederzugeben versuchten. All das ist mir jetzt klar, aber damals war mir die englische Bibel unfehlbar richtig und ich wusste nichts von Übersetzungsschwierigkeiten. Das war also mein Geisteszustand, als eine grosse Veränderung in meinem Leben vor sich ging.

Meine Schwester teilte mir ihre Absicht mit, auf der Universität Edinburgh Medizin zu studieren und das stellte mich unmittelbar vor die Frage, was ich selbst tun sollte. Ich wollte nicht allein leben oder die Zeit mit Reisen und Vergnügungen verbringen. Ich wollte merkwürdigerweise keine Missionarin werden. Mir lag daran, Gutes zu tun, aber ich wusste nicht was. Ich bin einem Pfarrer sehr zu Dank verpflichtet, der mich damals gut kannte und mir vorschlug, Evangelistin zu werden. Das lockte mich nicht besonders. Die Erweckungsprediger, die ich kennengelernt hatte (und es waren ihrer viele), hatten keinen grossen Eindruck auf mich gemacht. Sie schienen mir ziemlich ungebildete Leute zu sein; sie trugen billige und schlecht sitzende Kleidung und ihr Haar war meistens ungebürstet; sie hielten sich scheinbar für zu gut, um auf ihr äusseres Wert legen zu müssen. Ich konnte mich nicht in die Rolle hineinversetzen, auf einem Podium zu stehen und nach ihrem Muster zu schreien und schwülstige Reden zu führen, wie das unter solchen Umständen erwartet wurde, um die Menge aufzurütteln. Ich zögerte und blieb unschlüssig, und als ich die Sache mit meiner Tante besprach, ging es ihr ebenso. Ausserdem schickte sich so etwas nicht für junge Mädchen meiner Gesellschaftsklasse. Meine Kleidung, Ausdrucksweise, Haarfrisur und Schmucksachen würden nicht zu der Art von Leuten passen, die Bekehrungs-Versammlungen besuchten, um sich erlösen zu lassen. Es schickte sich einfach nicht. Ich betete jedoch und wartete und glaubte, ich würde eines Tages einen «Ruf» bekommen, und dann würde ich schon wissen, was zu tun sei.

Um die Zwischenpause auszufüllen, amüsierte ich mich damit, mich (wie ich mir einbildete) in einen Pfarrer namens Roberts zu verlieben. Er war tödlich langweilig, furchtbar schüchtern und Jahre älter als ich, und so machte ich gute Miene zum bösen Spiel und zog mich von ihm zurück, - woraus man sehen kann, wie tief mein Gefühl für ihn war.

Eines Tages erhielt ich eine unerwartete Aufforderung zum Besuch der «Sandes» Soldatenheime in Irland. Nachdem ich meine Schwester in ihrer neuen Behausung in Edinburg untergebracht hatte, fuhr ich nach Irland hinüber, um mir die Sache näher anzusehen. Ich fand diese Soldatenheime ziemlich einzig in ihrer Art, und Miss Elise Sandes selbst war eine sehr feinsinnige, liebenswürdige und kultivierte Frau. Die Frauen und Mädchen, die für sie arbeiteten, gehörten alle derselben Gesellschaftsklasse an wie ich. Miss Sandes hatte ihr Leben vollständig dem Versuch gewidmet, das Los der «Tommy Atkins» (Landser) zu erleichtern, und sie leitete ihre Heime nach Grundsätzen, die sich von den sonst in Armeelagern üblichen sehr unterschieden und auch von dem gewöhnlichen Bekehrungswerk abwichen, das man in Grossstädten antrifft. Sie unterhielt viele Soldatenheime in Irland und einige in Indien. Unter den Heimarbeitern fand ich verschiedene, mit denen ich mich anfreundete und die mir sehr dabei halfen, mich in die veränderte Umgebung einzugewöhnen - Edith Arbuthnot-Holmes, Eva Maguire, John Kinahan, Catherine Rowan-Hamilton und andere.

Meine erste Erfahrung in dieser Betätigung machte ich im Heim in Belfast. All diese Heime waren mit geräumigen Kantinen ausgerüstet, in denen allabendlich Hunderte von Männern zum Selbstkostenpreis abgefüttert wurden. Dann gab es Räume, in denen sie Briefe schreiben, Spiele spielen, um den Kamin herum sitzen, Zeitung lesen und Schach oder Dame spielen oder auch mit uns sprechen konnten, wenn sie einsam, niedergeschlagen und voller Heimweh waren. Gewöhnlich gehörten zwei Damen zu jedem Heim, und wir hatten dort auch unsere eigenen Unterkunftsräume. Häufig war ein grosser Schlafsaal vorhanden, in dem Soldaten und Matrosen auf Urlaub übernachten konnten, ausserdem ein Andachtsraum mit Harmonium, Gesangbüchern, Bibeln und Stühlen und irgend jemandem, der die Bibel auslegen und den Leuten im Interesse ihres Seelenheils gut zureden konnte. Ich musste mich in jedem Dienstbereich einarbeiten und es war wirklich eine harte Arbeit, obwohl ich feststellte, dass ich daran in jeder Beziehung Freude fand. Die ersten Monate waren die schwersten. Es war keine Kleinigkeit für ein schüchternes Mädchen (und ich war mehr als schüchtern), einen Raum mit vielleicht dreihundert Männern und wahrscheinlich keiner einzigen anderen Frau zu betreten und sich mit ihnen anzufreunden; auf sie zuzugehen, sich neben sie zu setzen und mit ihnen Dame zu spielen; nett zu ihnen zu sein und doch unpersönlich zu bleiben und gleichzeitig das Gefühl zu erwecken, dass man sich um sie sorgte und ihnen helfen wollte.

Ich werde nie die erste Bibelstunde vergessen, die ich übernahm. Ich war an meine eigene, kleine Bibelklasse gewöhnt und hatte auch gelegentlich bei Gebetsversammlungen gesprochen, so dass ich überhaupt kein Gefühl der Furcht verspürte. Ich war sicher, dass ich es schaffen würde. Es war doch viel leichter als mich einem Soldaten vorzustellen, ihn nach seinem Namen und Heimatort zu fragen, mich neben ihn ans Damebrett zu setzen, um dann allmählich auf das ernste Thema seiner Seele zu sprechen zu kommen. Ich war deshalb durchaus bereit, die Versammlung zu übernehmen.

Ich fand mich also eines schönen Sonntagnachmittags auf einem Podium in einem grossen Saal mit ein paar hundert Soldaten und einigen Angehörigen der königlich irischen Landpolizei. Ich legte ganz flott los, blieb dann langsam stecken, bekam Lampenfieber, warf einen Blick auf all die Männer, brach in Tränen aus und rannte vom Podium weg. Ich schwor mir, selbst wilde Pferde könnten mich nicht zurückschleifen, aber nach gebührender Zeit und im Verfolg meiner üblichen Frage: «Was würde Jesus von mir erwarten?» kehrte ich kleinlaut wieder. Es kam aber komischerweise doch anders. Als ich am folgenden Abend nach jenem entscheidenden Entschluss in den Versammlungsraum ging, um alles fertigzumachen, und gerade dabei war, das Gas anzuzünden, da blies mich ein Knall zu Boden und versengte mein Haar, so dass ich die Versammlung an dem Abend doch nicht übernehmen konnte. Die Explosion wirkte wie eine Notbremse.

Einige Wochen später kam ich zurück. Diesmal hatte ich meine Ansprache auswendig gelernt und mein Bemühen machte sich bezahlt, bis ich ungefähr in der Mitte an eine Stelle kam, wo ich ein Gedicht zitieren wollte, um meinem Thema etwas Schwung und Abwechslung zu geben. Ich hatte das Gedicht mit grossem Erfolg vor meinem Spiegel eingeübt. Die ersten beiden Zeilen klappten gut, und dann blieb ich stecken; ich wusste einfach nicht mehr, wie es weiterging. Ich war auf einem toten Punkt angelangt, rot bis in die Haarwurzeln und fühlte mich schwindelig. Da ertönte eine Stimme aus dem Hintergrund des Saales: «Keine Angst, Fräulein, ich sage es für sie zu Ende, und das gibt ihnen Zeit zu überlegen, was sie dann noch sagen wollen». Ich war aber schon vom Podium verschwunden und löste mich in meinem Zimmer in Tränen auf. Ich hatte vor Jesus und vor mir selbst versagt und ich sollte wohl lieber alles aufgeben. Ich lag die ganze Nacht wach und weigerte mich auch, einer Mitarbeiterin die Tür zu öffnen, die hereinkommen und mich trösten wollte. Trotzdem hielt ich aus. Mein Stolz wollte es nicht zulassen, dass ich mich öffentlich zu sprechen weigerte, und allmählich gewöhnte ich mich daran, einer Menge von Männern die Bibel auszulegen.

Allerdings war das eine schmerzhafte Prozedur. Die ganze Nacht vor der Ansprache lag ich gewöhnlich wach und zerbrach mir den Kopf, was in aller Welt ich wohl sagen sollte; und die darauf folgende Nacht blieb ich ebenso wach und schämte mich über die jämmerliche Art, wie ich's gesagt hatte. Dieses lächerliche Hin und Her ging weiter, bis ich in einer solchen Nacht einmal gegen mich selbst Front machte und nicht locker liess, bis ich wusste, wo mein Fehler lag. Ich kam zu der Überzeugung, dass ich unter reinem Egoismus litt und mich selbst zu sehr in den Mittelpunkt stellte; ich machte mir zu viel Gedanken darüber, was die Leute wohl von mir dachten. Die Erziehung meiner Kindheit erlitt damit ihren ersten, harten Schlag. Am Ende sagte ich mir: wenn ich wirklich in meinem Thema aufginge, wenn ich wirklich meine Zuhörer und nicht Alice La Trobe-Bateman liebte und wenn ich auf den Punkt gelangte, wo ich mir überhaupt schnuppe wäre (damals benutzte ich dieses Wort noch nicht), dann sollte ich's doch schaffen und wirklich nützlich sein können.

Merkwürdigerweise hatte ich von da ab keine Schwierigkeiten mehr. Ich gewöhnte mich daran, einen Saal in Indien zu betreten, der vielleicht mit vier- oder fünfhundert Soldaten vollgestopft war, auf einen Tisch zu steigen und mir nicht nur Gehör zu verschaffen, sondern (was mehr bedeutet) auch aufmerksame Zuhörer zu haben. Ich wurde eine gute Rednerin und lernte, gern zu sprechen, so dass ich mich heute auf einem Podium wirklich wohler fühle als irgendwo sonst. Belfast gab mir die Gelegenheit, mich in dieser Hinsicht freizumachen.

Ich weiss noch, wie ich mich einige Jahre später über den ungeheuren Erfolg meiner Bibelstunde aufrichtig geschmeichelt fühlte, die ich in Lucknow, in Indien, jeden Sonntagabend hielt. Eine grosse Anzahl von Armee-Schulmeistern hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, jeden Sonntag zu kommen und (mit einigen Hundert anderer Männer) mir zuzuhören; darüber begann mir etwas der Kamm zu schwellen. Ich dachte, ich müsste doch wirklich gut sein, wenn solch intelligente Leute Sonntag um Sonntag herkommen, um mich zu hören. Ich legte mich also gewaltig ins Zeug. Am Ende der Vortragsreihe überreichten sie mir feierlich ein Geschenk. Der Rangälteste unter ihnen trat nach Beendigung meiner Ansprache vor, übergab mir eine ellenlange, mit einem breiten, blauen Band geschmückte Pergamentrolle und hielt mir eine hübsche Rede. Ich war damals noch zu schüchtern, um das Pergament gleich in ihrer Gegenwart aufzurollen; aber als ich am Abend wieder in meinem Quartier war, machte ich die blaue Schleife auf und fand - in wundervoller Rundschrift - ein genaues Verzeichnis aller grammatikalischen Fehler, die ich begangen, und aller bildlichen Redewendungen, die ich während der ganzen Vortragsreihe durcheinandergebracht hatte. Ich betrachtete mich als geheilt und für alle Zeit erlöst, als ich feststellen konnte, dass ich danach über mich selbst so lachen musste, dass mir die hellen Tränen herunterliefen.

Wie viele gute Redner, die nur kurze Stichworte benutzen und in der Hauptsache frei sprechen und sich die nötigen Gedanken gewissermassen von ihren Zuhörern herauslocken lassen, kann man mich stenographisch nicht gut wiedergeben. Ich lese dann die Berichte und frage mich: «Kann ich das wirklich so gesagt haben?» Ich glaube bestimmt, dass das Geheimnis eines guten Redners ausser einer natürlichen Sprachbegabung in der Fähigkeit liegt, seine Zuhörer wirklich gern zu haben und sie dann von jeder Spannung zu befreien, indem man einfach menschlich zu ihnen spricht. Ich habe nie versucht, belehrende Vorlesungen zu halten. Ich spreche zu einer Versammlung genauso, wie zu einem einzelnen Menschen. Ich ziehe sie in mein Vertrauen hinein. Ich gebe mir nie den Anschein, alles zu wissen. Ich sage: «Das ist meine heutige Ansicht, und wenn ich sie später ändern sollte, dann sage ich Bescheid». Ich stelle Wahrheit (so, wie ich sie sehe) nie in der Weise dar, dass sie dogmatisch erscheint. Ich sage den Leuten oft: «In fünftausend Jahren wird diese angeblich so fortschrittliche Lehre den kleinen Kindern wie das Abc vorkommen, was nur beweist, wie sehr wir heute noch in den Kinderschuhen stecken». Wenn am Ende die Zuhörer aufgefordert werden, Fragen zu stellen - was mir immer besonders Spass macht - dann macht es mir gar nichts aus, wenn ich zugeben muss, dass ich auf eine Frage keine Antwort weiss, und das passiert mir recht häufig. Redner, die etwa glauben, es schade ihrem Ansehen, wenn sie Mangel an Wissen zugeben und die dann ausweichend oder hochtrabend antworten, haben noch viel zu lernen. Die Zuhörer haben den Redner gern, der ihnen ins Gesicht sehen und zugeben kann: «Davon habe ich wirklich keine blasse Ahnung».

Um wieder auf Belfast zurückzukommen. Meine Vorgesetzten hatten anerkannt, dass ich eine ziemliche Gabe hatte, Seelen zu erlösen, und ich erwies mich darin als so tüchtig, dass Miss Sandes mich zu sich in das Heim der Artillerie-Schiesschule in Mittelirland holen liess, um mit ihr zusammenzuarbeiten und mich gründlich weiter auszubilden. Das Heim lag in einer entzückend grünen Landschaft, und ich werde nie den Tag meiner Ankunft vergessen. Trotz aller Schönheit der Umgebung war mein erster Eindruck: Eier. Überall nichts als Eier. Eier in der Badewanne, Eier in jeder Pfanne, Eier in den Schubladen meiner Kommode und in Kisten unter meinem Bett. Wenn ich mich recht entsinne, waren wohl hunderttausend Eier im Haus und sie mussten irgendwie untergebracht werden. Wie ich feststellte, brauchten wir jeden Abend zweiundsiebzig Dutzend Eier in der Kantine des Soldatenheims, und da wir im ganzen drei Heime in der Umgebung mitversorgten, brauchten wir unzählige Eier. Eier hatten deshalb den Vorrang vor allem anderen, - mit Ausnahme des Evangeliums.

Meine erste Aufgabe jeden Morgen, nachdem ich eine ruhige Stunde mit meiner Bibel unter einem Baum auf einer Wiese verbracht hatte, war Semmel backen - Hunderte von Milchbrötchen - die ich dann oft im Lauf des Tages auf einen Ponywagen (allerdings war das Pony ein Esel) laden und zu den einzelnen Holzhütten bringen musste, in denen sich die Soldaten abends zusammenfanden. Eines Tages brachte dieser Esel mich in grösste Verlegenheit. Ich zottelte ganz vergnügt einen Feldweg entlang, als ich plötzlich eine Geschützbatterie im Galopp auf dem gleichen Weg mir entgegenkommen sah. Ich versuchte in grosser Eile nach dem Wegrand hin auszubiegen, aber der verflixte Esel stemmte einfach seine vier Beine auf den Boden und weigerte sich, vom Fleck zu gehen. Kein Zuruf und keine Peitsche halfen im geringsten. Die Batterie kam wenige Schritte vor uns zum Halten. Die Offiziere brüllten mir zu, Platz zu machen. Ich konnte einfach nicht. Schliesslich kam eine Abteilung von Leuten auf uns zu, die mich samt Wagen und Esel hochhoben und im Strassengraben abluden, worauf die Batterie wieder weiterfuhr. Die Artilleristen sorgten dafür, dass ich diese Episode nicht so schnell vergass. Sie verbreiteten das Gerücht, dass meine Brötchen so schwer wären, dass mein armer Esel sie nicht von der Stelle bewegen könnte; und hin und wieder humpelte einer von ihnen in meine Kantine und beschwerte sich darüber, dass ihm eine Krume meiner Brötchen auf den Fuss gefallen sei. Ich gewöhnte mich an das Getöse der grossen Geschütze und auch daran, dass sich die Mannschaften am Abend nach einer Schiessübung gegenseitig anschrieen, weil sie davon taub waren. Ich gewöhnte mich an Betrunkenheit und lernte, mir nichts aus Betrunkenen zu machen und mit ihnen umzugehen, aber an Spiegeleier gewöhnte ich mich nie, besonders wenn es Kakao dazu gab. Ich glaube, ich habe mehr Kakao, Eier und Zigaretten verkauft, als die meisten anderen Menschen.

Es waren glückliche, arbeitsreiche Tage. Ich verehrte Miss Sandes wie jeder andere. Ich liebte sie wegen ihrer Schönheit, ihrer Gedankenkraft, ihrer Bibelkenntnis, ihres menschlichen Verstehens für andere und ausserdem wegen ihres sprudelnden Humors. Am meisten liebte ich sie, weil ich herausfand, dass auch sie mich liebte. Wir schliefen im gleichen Zimmer des komischen Häuschens, in dem wir wohnten, und bis heute sehe ich sie noch im frühen Morgenschein mit einem schwarzen Strumpf über ihren Augen im Bett liegen, um das Licht abzublenden. Sie war so viel grossmütiger und weitherziger in ihren Ansichten als ihre Mitarbeiter. Ich erinnere mich noch, wie sie ihnen mit den Augen zublinzelte, ohne ein Wort zu sagen. Wir alle rackerten uns ab, um Seelen zu erlösen und sie sah zu, wünschte uns viel Glück und liess oft ein Wort fallen, das uns auf die gesuchte Lösung brachte; aber ich weiss bestimmt, dass sie sich oft mit grossem Vergnügen über uns lustig machte, während wir uns mühten und anstrengten.

Einmal gab sie mir einen wirklichen Schock, mit dem sie - wie ich bestimmt glaube - bei mir einen Zyklus innerer Selbstbefragung einleitete, der mich am Ende aus meinem theologischen Sumpf herausbrachte. Drei Wochen lang hatte ich mich damit abgemüht, die Seele eines vollkommen nichtswürdigen, verschmutzten kleinen Soldaten zu erlösen. Er war, was man in England ein «nasty piece of work» nannte, ein elendes Produkt - ein schlechter Soldat und ein schlechter Mensch. Ich spielte Abend für Abend mit ihm Dame (was er gern mochte) und lotste ihn zu den Andachten, was er über sich ergehen liess. Ich bat ihn dringend, sich erlösen zu lassen, aber ohne Erfolg. Elise Sanders sah mir lächelnd zu, bis sie anscheinend zu dem Schluss kam, dass es jetzt lange genug gedauert habe. Eines Abends, als sie gerade in der mit Soldaten vollgestopften Holzhütte am Klavier stand, rief sie mich also zu sich hinüber und es entwickelte sich folgendes Zwiegespräch:

«Alice, siehst du den Mann da drüben?», wobei sie auf mein Problem hindeutete.

«Ja», sagte ich, «du meinst den Mann, mit dem ich immer Dame gespielt habe?»

«Na gut, liebes Kind, willst du dir mal bitte seine Stirn ansehen?» Ich sah hin und bemerkte, dass sie mir ziemlich niedrig schien. Sie nickte zustimmend.

«Jetzt schau dir seine Augen an. Was ist an ihnen auszusetzen?»

«Sie scheinen ziemlich eng beieinander zu liegen», antwortete ich.

«Richtig. Und wie steht es mit seinem Kinn und seiner Kopfform?»

«Aber er hat doch überhaupt kein Kinn, und sein Kopf ist sehr klein und vollkommen rund», antwortete ich voller Verwunderung.

«Na also, liebe Alice, warum überlässt du ihn dann nicht Gott?» Mit diesen Worten verliess sie mich. Seitdem habe ich viele Menschen Gott überlassen.

An dieser Stelle möchte ich formell festhalten, dass ich zur damaligen Zeit an Bekehrung glaubte und dass ich auch heutigen Tages an Bekehrung glaube. Ich glaubte damals, das Christus die Macht besitzt, zu erlösen, und heute glaube ich das tausendmal mehr. Ich weiss, dass sich Menschen von den Irrtümern ihres Lebenswandels abwenden können, und ich habe immer wieder gesehen, wie sie jene Wirklichkeit in sich fanden, die Paulus «Christus in euch, die Hoffnung auf Herrlichkeit» nennt. Auf dieses Wissen stütze ich mein ewiges Seelenheil und das Heil der ganzen Menschheit. Ich weiss, dass Christus lebt und dass wir in ihm leben, und ich weiss, dass Gott unser Vater ist und dass unter Gottes grossem Plan alle Seelen am Ende ihren Weg zu ihm zurückfinden werden. Ich weiss, dass das Leben Christi im menschlichen Herzen jeden Menschen vom Tod zur Unsterblichkeit führen kann. Ich weiss, dass eben weil Christus lebt, auch wir leben werden und dass wir durch sein Leben erlöst werden. Menschliche Bekehrungsmethoden erscheinen mir jedoch oft recht zweifelhaft, und ich glaube, dass Gottes Weg meistens der beste ist und dass er uns den Rückweg zur Heimat oft selbst finden lässt, in der Gewissheit, dass in uns allen etwas von ihm Selbst steckt, was göttlich ist, was nie stirbt und was sich zur Wissenserfahrung durchringt. Ich weiss, dass nichts im Himmel oder in der Hölle zwischen die Liebe Gottes und seine Kinder zu treten vermag. Ich weiss, dass er auf Posten steht und wacht, «bis der letzte müde Pilger seinen Weg in die Heimat gefunden hat». Ich weiss, dass alle Dinge denen zum Besten dienen, die Gott lieben, und das bedeutet keine Liebe zu einer weit entfernten, abstrakten Gottheit, sondern zu unseren Mitmenschen. Liebe zu unseren Mitmenschen ist ein sichtbares - vielleicht noch unklar erkanntes, aber immerhin bestimmtes - Anzeichen dafür, dass wir Gott lieben. Elise Sanders lehrte mich das durch ihr Leben und ihre Liebe, ihren Mutterwitz und ihr Verstehen.

Mein Aufenthalt in Irland währte nicht sehr lange, aber es war eine höchst angenehme Zeit für mich. Ich war vorher noch nie in Irland gewesen und verbrachte einen grossen Teil meiner Zeit in Dublin und im Lager Currach, nicht weit von Kildare. Während ich in Currach war, hatte ich eine besonders merkwürdige Aufgabe zu erfüllen; meine Familie wäre entsetzt gewesen, wenn sie davon gewusst hätte. Man darf nicht vergessen, dass junge Mädchen damals nicht solche Freiheiten hatten wie heute, und schliesslich war ich auch erst zweiundzwanzig.

Eine der Batterien der Königlichen Feldartillerie war damals in den Newbridge Kasernen untergebracht, und einige von diesen Leuten (die ich während des Sommers auf dem Übungsplatz kennengelernt hatte) luden mich ein, sie jeden Abend in ihrem Temperenzlerklub für Soldaten zu besuchen. Das bedeutete für mich um 18 Uhr abends hingehen und spät in der Nacht nach Hause kommen, weil sie für mich die Erlaubnis erwirkt hatten, nach Kantinenschluss noch eine Andacht für sie abzuhalten. Nach einigem Verhandeln durfte ich die Einladung annehmen, und so radelte ich jeden Abend nach der abscheulichen britischen Mahlzeit die man «high tea» (Tee mit Aufschnitt) nennt, dorthin. Zwischen 23 Uhr und Mitternacht fuhr ich dann immer wieder nach Hause begleitet von zwei Soldaten, die von den Mannschaften selbst allabendlich dazu bestimmt wurden und dafür Urlaubskarten erhielten. Ich wusste nie, ob mein Begleiter ein Lump oder ein netter, zuverlässiger Christenmensch sein würde. Ich glaube, sie losten aus, wer mich nach Hause bringen sollte, und wenn das Los auf einen Trinker fiel, so sahen seine fürsorglichen Kameraden zu, dass er an dem Tag von der Kantine wegblieb. Immerhin stelle man sich einmal ein junges Mädchen mit meiner erschreckend behüteten, viktorianischen Erziehung vor, wie sie jeden Abend mit zwei ihr gänzlich unbekannten Tommies nach Hause radelte. Und kein einziges Mal ist dabei ein Wort gefallen, an dem selbst die sprödeste alte Jungfer hätte Anstoss nehmen können, und ich selbst hatte den grössten Spass dabei!

Die Leute aus der Kantine kamen jeden Abend zu mir ins Temperenzler-Zimmer. Ich gab mir keine Mühe, sie irgendwie zum Besuch der Andacht zu bewegen, aber wir kamen gut miteinander aus. Dort lernte ich die verschiedenen Arten von Betrunkenen zu unterscheiden. Darunter war natürlich auch der streitsüchtige Trinker, und es gab gar manche Schlägerei, bei der ich mich dazwischen warf; ich bekam dabei niemals etwas ab, obwohl ich mich bestimmt als sehr lästig erwies. Dieser Typus machte mir nie viel zu schaffen, und mein Dazwischentreten brachte mich nie zu Schaden. Die Militärpolizisten begrüssten meine Hilfe als Friedensstifter, und ich erwies mich mit der Zeit als ziemlich sachkundig. Dann gab es den zärtlichen Trinker, und vor ihm hatte ich offen gestanden Angst. Ich wusste nie, was er sagen oder tun würde, doch kam ich bald darauf, immer einen Stuhl oder Tisch zwischen uns zu stellen. Löwenbändiger wissen aus Erfahrung, wie nützlich ein fester Stuhl zwischen ihnen und einem ärgerlichen Löwen sein kann, und ich kann das mit vollem Vertrauen auch im Fall eines zärtlichen Betrunkenen empfehlen. Der vergrämte Trinker ist weit schwieriger zu behandeln, aber man findet ihn weniger oft. Man lernt ausserdem zwischen Leuten zu unterscheiden, denen der Alkohol hauptsächlich in die Beine geht und anderen, bei denen mehr der Kopf leidet und die anzuwendende Methode ist dementsprechend verschieden. Oft wurde ich während meiner damaligen Tätigkeit von den Militär-Polizisten um Hilfe gebeten, einen Betrunkenen ruhig nach Hause zu bringen. Sie hielten sich dann gewöhnlich ausser Sicht, aber nahe bei der Hand, und es muss ein erbaulicher Anblick gewesen sein, wenn ich so mit meinem Betrunkenen im Zickzack den Weg entlang pilgerte. Vielleicht kann man sich das Entsetzen meiner Tante vorstellen, wenn sie jemals dieses unregelmässige Fortschreiten gesehen hätte, aber ich tat das alles «um Jesu willen» und nicht ein einziges Mal hat ein Mann versucht, frech zu werden. Trotzdem hätte ich meine eigenen Töchter höchst ungern in einer ähnlichen Lage gewusst, nach dem Prinzip, dass die Gans manches tun darf, was sich für das Gänschen nicht immer schickt.

Meine Arbeit war voller Abwechslung: Ich musste die Buchhaltung besorgen, die Blumen in den Leseräumen arrangieren, für Soldaten Briefe schreiben, endlose religiöse Versammlungen abhalten und die täglichen Andachten leiten, eifrig meine Bibel studieren und sehr sehr artig sein. Ich kaufte alle möglichen Bücher, um besser predigen zu lernen, wie etwa Anleitungen für Anfänger, Konzepte für Kanzelreden, Lehren für Laienprediger und andere mit ähnlich lautenden Titeln. Oft war ich in Versuchung, selbst eins zu veröffentlichen, vielleicht mit dem Titel «Ideen für Idioten», aber ich kam damit nicht weit. Soweit ich das feststellen konnte, kam ich mit meinen Mitarbeitern gut aus. Mein stark entwickelter Minderwertigkeitskomplex liess mich sie stets bewundern, und das schaltete jede Eifersucht wirksam aus.

Eines Morgens erhielt Elise Sandes einen Brief, der sie sichtlich beunruhigte. Die Leiterin des Werks in Indien, Theodora Schofield, war kränklich und es schien angezeigt, sie zur Erholung in die Heimat zurückzubringen. Es war aber anscheinend niemand da, den man entbehren und an ihre Stelle hinaussenden könnte. Sie selbst war schon zu alt und Eva Maguire war unabkömmlich. Miss Sandes sagte mit der ihr eigenen Offenheit, sie würde mich hinschicken, wenn sie das Geld dazu hätte, denn «wenn du auch nicht sehr viel taugst, so bist du wahrscheinlich immer noch besser als gar keiner». Indienreisen waren zu jener Zeit kostspielig und Miss Sandes musste erst einmal Theos Rückreise bezahlen. Mit meiner üblichen, religiösen Gelassenheit sagte ich: «Wenn Gott will, dass ich gehe, wird er auch das Geld schicken». Sie sah mich an, ohne etwas dazu zu bemerken. Zwei oder drei Tage später, als wir beim Morgenfrühstück sassen, hörte ich sie beim öffnen eines Briefes laut rufen. Dann reichte sie mir den Umschlag hin. Er enthielt keinen Brief und keinerlei Hinweis auf den Absender. Aber ein Bankscheck lag darin über fünfhundert Pfund, und quer darüber standen die Worte: «Für das Werk in Indien». Keiner von uns beiden wusste, wo das Geld hergekommen war, aber beide nahmen wir es als unmittelbare Gabe Gottes an. Das Problem der Überfahrt war damit gelöst und wiederum fragte sie mich, ob ich sofort für sie nach Indien gehen würde, wobei sie wieder betonte, dass ich zwar nicht viel wert sei, dass sie aber im Augenblick niemand andern habe. Manchmal frage ich mich, ob nicht mein Meister das Geld geschickt habe. Es war wesentlich, dass ich nach Indien gehen und bestimmte Erfahrungen sammeln sollte, um mich auf diese Weise auf die Tätigkeit vorzubereiten, von der er mir Jahre zuvor gesagt hatte, dass ich dafür in Frage käme. Ich weiss es nicht, und ich habe ihn auch nie danach gefragt, weil das nicht zu den Dingen gehört, die von Bedeutung sind.

Ich schrieb meinen Leuten, ob ich gehen dürfe (ich wäre ohnehin gegangen), wollte aber die Form wahren und wenigstens höflich sein. Meine Tante, Frau Clara Parsons, schrieb mir, sie hätte nichts dagegen, falls ich eine Rückfahrkarte hätte; ich besorgte mir also auch eine Rückfahrkarte. Dann fuhr ich nach London, um mich für Indien auszustaffieren, und da ich damals eigentlich keine Geldsorgen hatte, kaufte ich nach Herzenslust und mit grösstem Vergnügen ein. Ich «leistete» mir wirklich etwas. Als - nebenbei bemerkt - mein Gepäck mit all den neuen Sachen später in Quetta in Belutschistan ankam, fand ich, dass man den gesamten Inhalt gestohlen und dafür dreckige Lumpen unterschoben hatte. Glücklicherweise hatte ich genug Sachen bei mir, aber es war meine erste wichtige Erfahrung von der Vergänglichkeit aller Dinge. Da ich jedoch auf Kleider Wert legte, was ich auch noch heute tue, so bestellte ich mir eine neue Ausstattung.

Meine Schwester und Tante brachten mich in Tilbury Docks zum Schiff und ich gestehe, dass mir noch nie etwas so gut gefallen hat, wie die dreiwöchige Seereise nach Bombay. Wie alle Zwillingsmenschen war ich immer gern auf Reisen und da ich damals ausserdem eine schreckliche kleine Vornehmtuerin war, schwelgte ich in dem Bewusstsein, dass mein von einem Onkel geliehener Deckstuhl einen Adelstitel aufwies. Kleine Dinge gefallen kleinen Geistern, und mein Denkvermögen war damals noch sehr klein - praktisch noch im Schlummerzustand.

Ich erinnere mich noch gut an diese erste Reise. Im Speisesaal sassen neben mir am Tisch zwei Frauen und fünf offensichtlich wohlhabende und welterfahrene Männer. Sie hatten uns drei Frauen offensichtlich gern, aber ich war ganz entsetzt über sie. Sie sprachen von Glücksspielen und Pferderennen, sie tranken viel, spielten Karten und - was das Schlimmste von allem war - sie sprachen nie ein Tischgebet. Nach der ersten Mahlzeit war ich völlig entgeistert. Nach dem Gabelfrühstück ging ich in meine Kabine und betete inbrünstig um die Kraft, das Richtige zu tun. Als die Zeit der Hauptmahlzeit nahte, verliess mich mein Mut, und ich musste noch mehr beten. Am nächsten Morgen, beim ersten Frühstück, hielt ich jedoch eine Rede. Ich war deswegen besonders früh in den Speisesaal gegangen, noch bevor die beiden anderen Frauen zu Tisch kamen, aber alle fünf Männer waren anwesend. Ich war zu Tode erschrocken und schämte mich entsetzlich, aber ich tat, was meiner Ansicht nach Jesus tun würde. Ich sah die Männer an und sagte nervös und eilig: «Ich trinke nicht und ich tanze nicht; ich spiele auch keine Karten und gehe nicht ins Theater; ich weiss, dass sie mich deshalb verabscheuen, und ich denke, ich gehe lieber und suche mir einen anderen Tisch». Totenstille trat ein. Dann erhob sich einer der Männer (mit sehr bekanntem Namen, weshalb ich ihn nicht erwähne), lehnte sich über den Tisch und streckte mir seine Hand hin mit den Worten: «Schlagen sie ein. Wenn sie zu uns halten, halten wir zu ihnen, und wir wollen uns alle Mühe geben, artig zu sein». Ich hatte eine wundervolle Reise. Jene Männer waren unglaublich nett zu mir und ich gedenke ihrer mit Sympathie und in Dankbarkeit. Es war meine schönste Reise, und da ich innerhalb von fünf Jahren sechsmal zwischen London und Bombay hin- und herfuhr, so habe ich einige Erfahrung. Ob sich auch diese Männer amüsierten, ist eine andere Frage, aber sie waren stets nett zu mir. Einer von ihnen sandte mir später eine Menge religiöser Bücher für eines der Soldatenheime. Ein zweiter sandte mir einen netten Scheck über eine fette Summe, und ein dritter, ein bekannter Eisenbahnmagnat, sandte mir eine Rundreisekarte, mit der ich während meiner ganzen Indienzeit auf der Great Indian Peninsula Railroad frei umherfahren konnte.

Bei meiner Ankunft in Bombay hatte ich einen Schiffswechsel geplant, und ich wollte mit einem Dampfer der British India Linie nach Karachi und von dort nach Quetta in Belutschistan weiterreisen. Aber es sollte damals nicht dazu kommen, obwohl ich diese Fahrt später unternahm. Ein Telegramm erwartete mich mit der Nachricht, ich solle in Bombay aussteigen und mit dem Expresszug nach Meerut fahren, das in Zentralindien liegt. Ich war entsetzt. Ich reiste zum ersten Mal in meinem Leben allein. Ich war in einem Erdteil, wo ich keine einzige Menschenseele kannte; ich musste nicht nur meine Schiffskarte nach Karachi einlösen, sondern mir auch noch eine Fahrkarte auf der G. I. P. nach Meerut besorgen. Wie eine Brieftaube zum heimischen Nest, so eilte ich zum Christlichen Verein junger Mädchen, wo man zu mir sehr gut war und für mich den geschäftlichen Teil erledigte. Wiederum darf man nicht vergessen, dass ich jung und hübsch war, und dass junge Mädchen damals einfach nicht so umherreisten, wie ich es tat.

Am Bahnhof in Bombay machte ich eine sehr menschliche und lehrreiche Erfahrung. Sie beweist, wie wundervoll doch die Menschen sind, und diese Bestätigung ist ja auch einer der Zwecke dieses Buches. Ich war, wie der Leser bereits festgestellt haben dürfte, ein recht selbstgefälliger Tugendbold, wenn auch voll guter Absichten. Ich war beinahe zu gut zum Leben und bestimmt heilig genug, um mich verhasst zu machen. Ich hatte mich an dem allgemeinen Bordleben nicht beteiligt, sondern war mit meiner grossen Bibel unterm Arm auf Deck umherstolziert. Es war da ein Passagier an Bord gewesen, den ich schon seit meiner Abfahrt von London zur ganz besonderen Zielscheibe meiner Verabscheuung gemacht hatte. Er war der Hauptmacher an Bord; er leitete die täglichen Verlosungsspiele; er sorgte für Tanzveranstaltungen und arrangierte die Bühnenvorstellungen; er spielte Karten und ich wusste, dass er Unmengen von Whisky und Soda trank. Die Reise dauerte damals drei Wochen, und während der ganzen Zeit beobachtete ich ihn mit Geringschätzung. Von meinem Gesichtspunkt aus war er der Teufel.

Er hatte ein- oder zweimal zu mir gesprochen, aber ich hatte ihm sehr klar zu verstehen gegeben, dass ich mit ihm nichts zu tun haben wollte. Als ich an jenem Tag in dem grossen Bahnhof von Bombay auf meinen Zug wartete, starr vor Angst und mit dem heimlichen Wunsch, «wär, ich doch daheim geblieben», da kam dieser Mann auf mich zu und sagte: «Gnädiges Fräulein, sie können mich nicht leiden und sie haben mir das sehr deutlich zu verstehen gegeben, aber ich habe eine Tochter ungefähr in ihrem Alter, und ich würde mir verdammt übel vorkommen, wenn ich sie allein in Indien herumreisen liesse. Ob sie jetzt wollen oder nicht, sie werden mir ihr Abteil zeigen. Ich will mir ihre Mitreisenden genau ansehen, und sie müssen sich wohl oder übel in meinen Beschluss schicken. Ich werde sie auch auf den Haltestellen abholen, wo wir zum Essen aussteigen». Was über mich kam, weiss ich nicht, aber ich sah ihm gerade ins Gesicht und sagte: «Ich habe Angst. Bitte sorgen sie für mich». Das tat er im vollstem Mass, und als ich ihn das letzte Mal zu Gesicht bekam, da stand er in Schlafanzug und Frisiermantel mitten in der Nacht auf einer Umsteigestation und gab dem Schaffner ein Trinkgeld, damit er sich meiner annähme, da er selber nicht mehr mit mir auf der gleichen Strecke weiterfahren konnte.

Drei Jahre später war ich nach Rhanikhet im Himalayagebirge gegangen, um dort ein neues Soldatenheim aufzumachen. Da kam eines Tages ein Laufbote aus einem Grenzbezirk mit einem Brief von einem Freund dieses Mannes, worin er mich bat, zu ihm zu kommen, da er nur noch kurze Zeit zu leben habe und geistigen Beistand brauche. Er hatte nach mir verlangt. Meine Mitarbeiterin weigerte sich, mich gehen zu lassen; sie hatte die Verantwortung für mich übernommen und war äusserst schockiert. Ich ging also nicht, und er starb allein. Ich habe mir das nie verziehen - aber was konnte ich machen? Tradition, Sitte und die Frau, die mich bemutterte, arbeiteten gegen mich, aber ich fühlte mich unglücklich und hilflos. Auf der Fahrt von Bombay nach Meerut hatte er mir eines Abends beim Essen direkt ins Gesicht gesagt, ich wäre ganz und gar nicht so selbstsicher und heilig, wie ich aussähe, und er glaube bestimmt, ich würde eines Tages schon noch draufkommen, dass ich ein menschliches Wesen wäre. Er sagte, er stecke zur Zeit bis über die Ohren in Schwierigkeiten und fragte, ob ich ihm nicht helfen wolle. Er kam gerade aus England zurück, wo er seine Frau in eine Irrenanstalt hatte bringen müssen; sein einziger Sohn war tödlich verunglückt, und seine einzige Tochter war mit einem verheirateten Mann davongelaufen. So stand er allein in der Welt. Er wollte nichts von mir als ein freundliches Wort. Das gab ich ihm, denn ich mochte ihn mit der Zeit recht gut leiden. Als er im Sterben lag, sandte er nach mir. Ich ging nicht hin, und das tut mir leid.

Von da an gestaltete sich mein Leben sehr fiebrig. Ich sollte (in Abwesenheit von Miss Schofield) die Aufsicht über eine ganze Reihe von Soldatenheimen führen, Quetta - Meerut - Lucknow - Chakrata, und zwei weitere Heime, die ich mit eröffnen half - Umballa und Rhanikhet - in den Himalayas, nicht sehr weit von Almora. Chakrata und Rhanikhet lagen im Vorgebirge, ungefähr zweitausend Meter hoch, und waren natürlich Sommeraufenthalte. Vom Mai bis September wurden wir «Bergpapageien». Es gab noch ein anderes Heim in Rawal Pindi, aber damit hatte ich nichts zu tun, ausser dass ich für einen Monat dort hinging, um die Leiterin, Miss Ashe, zu vertreten. In jedem dieser Heime gab es zwei Damen und zwei Geschäftsführer, die für den Betrieb der Kaffeestube und die allgemeine Instandhaltung des Heimes verantwortlich waren. Gewöhnlich waren es ausgediente Soldaten, die ich wegen ihrer Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft in bester Erinnerung habe.

Ich war sehr jung und unerfahren; ich kannte in ganz Asien keinen einzigen Menschen; ich war schutzbedürftiger, als ich dachte; ich neigte zu den dümmsten Streichen, bloss weil ich nichts wirklich Böses kannte und nicht die blasseste Ahnung davon hatte, was jungen Mädchen passieren könnte. Einmal litt ich zum Beispiel unter furchtbaren Zahnschmerzen und es wurde damit so schlimm, dass ich es einfach nicht mehr aushalten konnte. Es gab damals keinen ansässigen Zahnarzt in dem Bezirk, in dem ich arbeitete, aber gelegentlich kam ein umherziehender Dentist (meistens ein Amerikaner) hierher, der sich dann in einer Art von Postbaracke, dem sogenannten «Dak», einnistete und die nötigen Arbeiten machte. Ich hörte, dass zufällig einer im Städtchen war und ging einfach zu ihm, ganz allein und ohne meiner Mitarbeiterin etwas davon zu sagen. Ich fand einen jungen Amerikaner und seinen Assistenten. Der Zahn war in schlimmer Verfassung und musste heraus, und so bat ich ihn, mir Gas zu geben und den Zahn zu ziehen. Er sah mich ziemlich komisch an, tat aber, wie ich verlangte. Als ich danach wieder zur Besinnung kam, las er mir tüchtig die Leviten; ich hätte doch nicht wissen können, dass er ein anständiger Mann sei, und während ich vom Gas betäubt war, wäre ich doch ganz in seiner Gewalt gewesen, und nach seiner Erfahrung wären doch einzelne Männer, die in Indien herumzogen, nicht besser, als man erwarten dürfte. Ehe ich ging, nahm er mir das Versprechen ab, in Zukunft vorsichtiger zu sein. Das habe ich dann auch - im allgemeinen - gehalten und ich gedenke seiner mit Dankbarkeit, auch wenn ich seinen Namen vergessen habe. Damals kannte ich überhaupt keine Furcht und wusste nicht, was es heisst, Angst zu haben. Zum Teil war das natürlich Gedankenlosigkeit, zum Teil Unwissenheit und dazu kam die Gewissheit, dass Gott für mich sorgen würde. Scheinbar tat er das auch nach dem Grundsatz, dass Betrunkene, Kinder und Toren unverantwortlich sind und beschützt werden müssen.

Der erste Ort, wo ich hinging, war also Meerut, wo ich Miss Schofield kennenlernte und in einige von den Dingen eingeweiht wurde, die ich als ihre zeitweilige Vertreterin wissen musste. Mein grösster Mangel war einfach der, dass ich für die Verantwortung zu jung war. Was sich später ereignete, ging über meine Kräfte. Ich hatte keinerlei Erfahrung und konnte demzufolge noch nicht das Wichtige vom Unwichtigen unterscheiden. Manches Nebensächliche regte mich furchtbar auf, und wirklich ernste Dinge machten mir nichts aus. Wenn ich an diese Jahre zurückdenke, so scheint mir trotzdem, dass ich im grossen und ganzen doch ganz gut abschnitt. Anfangs war ich fast überwältigt von den Wundern des Orients. Alles war so neu, so fremdartig und ganz anders als ich es mir vorgestellt hatte. Farbenpracht, schöne Bauten, Schmutz und Verkommenheit, Palmenbäume und Bambus, entzückende kleine Kinder und Frauen, die zur damaligen Zeit Wasserkrüge auf dem Kopf trugen; Wasserbüffel und merkwürdige Fahrzeuge, wie Gharries und Ekkas (ob die wohl heute noch existieren?), mit Menschen überfüllte Basare und Geschäftsstrassen der Eingeborenen, Silberzeug und wunderschöne Teppiche, Eingeborene mit leisem Schritt, Moslems, Hindus, Sikhs, Rajputs, Gurkhas, eingeborene Soldaten und Polizisten, gelegentlich ein Elefant mit seinem Mahout (Wärter), merkwürdige Gerüche, seltsame Sprachen und ewiger Sonnenschein, abgesehen während der Monsune, - immer und ewig Hitze.

Das sind so einige meiner Erinnerungen an jene Zeit. Ich liebte Indien. Ich wollte immer nochmal dorthin zurück, aber ich fürchte, es wird mir in diesem Leben nicht mehr gelingen. Ich habe viele Freunde in Indien und unter Indern, die in anderen Ländern leben. Ich weiss einiges von den Problemen Indiens, von seinem Streben nach Unabhängigkeit, seinen internen Kämpfen und Konflikten, seinen vielen Sprachen und Rassen, seiner Übervölkerung und seinen mannigfaltigen Glaubensrichtungen. Ich kenne Indien nicht allzu genau, weil ich nur einige Jahre dort weilte, aber ich liebe seine Menschen.

Hier in den Vereinigten Staaten wissen die Leute nichts von dem Problem und deshalb raten sie gern Grossbritannien, was geschehen sollte. Die wilden Reden feuriger Hindus bedeuten hier mehr als die ruhige Versicherung des britischen Raj, dass Indien den Rang einer Dominion einnehmen oder auch völlige Unabhängigkeit haben kann, sobald Hindus und Moslems ihre Streitigkeiten beilegen. Immer wieder hat man den Versuch gemacht, zu einer Verfassung zu kommen, unter der die Moslems (die mächtige, reiche und kriegerische Minorität von siebzig Millionen) und die Hindus zusammenleben können; eine Verfassung, die nicht nur diese beiden Gruppen, sondern auch die indischen Fürstentümer und die Millionen von Menschen befriedigt, welche die Indische Kongresspartei nicht anerkennen oder nicht auf sie hören.

Vor ein paar Jahren fragte ich einen bekannten Hindu, was seiner Ansicht nach passieren würde, wenn die Briten all ihre Truppen und Interessen aus Indien zurückzögen. Ich bat ihn um die Wahrheit und nicht um blosse Propaganda. Er zögerte und sagte: «Aufruhr, Bürgerkrieg, Mord, Plünderung und Abschlachtung von Tausenden von friedliebenden Hindus durch die Moslems». Ich deutete an, dass demnach die langsamere Methode der Erziehung wohl die klügere wäre. Er zuckte mit den Achseln und sagte: «Was machen sie, Alice Bailey, eigentlich in einem britischen Körper? Sie sind ein wiederverkörperter Hindu und haben viele Leben hindurch einen Hindukörper gehabt». «Das glaube ich gern», antwortete ich, und dann sprachen wir über die unleugbare Tatsache, dass Indien und Grossbritannien eng verwandt sind und miteinander viel Karma abzuarbeiten haben und dies früher oder später tun müssen; und dieses Karma ist nicht allein britischen Ursprungs.

Es ist eine interessante Tatsache, dass während des letzten Krieges die allgemeine Dienstpflicht nicht auf Indien Anwendung fand, dass sich aber mehrere Millionen freiwillig meldeten, während aus einer Bevölkerung von 550 Millionen in Indien und Burma nur ganz wenige mit den Japanern mitmachten. Indien wird und muss frei sein, aber das muss auf die rechte Weise geschehen. Das wirkliche Problem besteht nicht zwischen den Briten und der Bevölkerung Indiens, sondern zwischen den Moslems, die Indien eroberten, und den Indern. Sobald einmal dieses interne Problem gelöst ist, wird Indien frei sein.

Eines Tages werden wir alle frei sein. Rassenhass wird aussterben; nationale Staatsangehörigkeit wird wichtig, aber die Menschheit als Ganzes wird weit wichtiger sein. Grenzen und Gebietseinteilungen werden ihren rechten Platz im menschlichen Denken einnehmen, aber es wird mehr auf guten Willen und nationale Verständigung ankommen. Religiöse Differenzen und sektiererische Abneigungen müssen am Ende verschwinden und dann werden wir «einen Gott und Vater» anerkennen, «der da ist über allen und durch alle und in uns allen». Das sind keine eitlen und visionären Träume. Es sind allmählich in Erscheinung tretende Tatsachen. Sie werden schneller in Erscheinung treten, wenn kommende Generationen durch die richtigen Erziehungsmethoden beeinflusst werden; wenn sich die Kirchen über die Tatsache Christi - und nicht über theologische Auslegungen - klarwerden, und wenn die Geldmittel und die Güter der Erde als Werte angesehen werden, die man teilen muss. Dann werden diese kritischen internationalen Probleme ins richtige Licht rücken, und die Welt der Menschen wird in Frieden und Sicherheit der neuen Kultur und der künftigen Zivilisation entgegen gehen. Vielleicht interessieren diese Prophezeiungen den Leser nicht, aber diese Dinge bewegen mich und alle diejenigen, die ihre Mitmenschen lieben.