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KAPITEL VI - Teil 1

KAPITEL VI

Das Jahr 1930 war das letzte, in dem ich ein einigermassen normales Leben führen durfte. Von da an wurde ich immer mehr von unserem Werk auf dem europäischen Kontinent, den britischen Inseln und in den Vereinigten Staaten in Anspruch genommen; dazu kamen obendrein die Verlobungen und Heiraten meiner Töchter, die mich zu meiner eigenen Verwunderung aus irgendeinem Grund in emotioneller Hinsicht stark mitnahmen. Der zwischen 1924 und 1930 einigermassen normale Rhythmus meines Lebens wurde im Jahr 1931 definitiv unterbrochen.

Die sechs Jahre bis 1931 verliefen in vieler Beziehung in einem eintönigen Rhythmus und in der Routine des Alltags: - morgens aufstehen und für den Tibeter arbeiten, dafür sorgen, dass die Mädchen rechtzeitig aufstanden und sich zur Schule fertigmachten, frühstücken, telefonisch Lebensmittel bestellen und dann den Zug nach New York erwischen, um gegen 10 Uhr im Büro zu sein; dort hatte ich dann ständig Besucher zu empfangen, die sich angemeldet hatten, Post zu erledigen, Briefe zu diktieren, Entscheidungen hinsichtlich des Schulprogramms zu treffen und vieles mit Foster zu besprechen, bis es Zeit zur Mittagspause war. Am späten Nachmittag erteilte ich dann häufig noch Klassenunterricht; diese Stunden, in denen ich die Grundlagen der Geheimlehre besprach, sind mir in besonders angenehmer und befriedigender Erinnerung geblieben.

In mancher Beziehung ist H. P. B.'s Buch «Die Geheimlehre» heute überlebt; diese Art, der Ewigen Weisheit näherzukommen, findet bei der modernen Generation wenig oder keinen Anklang. Aber denjenigen unter uns, die es wirklich durchstudierten und seine innere Bedeutung einigermassen verstehen lernten, gab es ein grundsätzliches Wertgefühl für die Wahrheit, wie es kein anderes Buch zu vermitteln scheint. H. P. B. sagte voraus, dass die nächste Auslegung der Ewigen Weisheit von der psychologischen Seite aus erfolgen würde; und «Eine Abhandlung über Kosmisches Feuer», die ich im Jahr 1925 herausbrachte, ist der psychologische Schlüssel zur «Geheimlehre». Keines meiner Bücher wäre möglich gewesen, wenn ich nicht vorher der «Geheimlehre» ein so gründliches Studium gewidmet hätte.

Wenn ich über meine eigenen und meiner Töchter Jugendjahre zurückblicke, dann weiss ich, was für eine schwierige Zeit das ist. Ich hatte es dabei viel schwerer als meine Töchter, weil mir niemand irgendwelchen Rat gab. Sie hatten es schwer genug, aber Gott weiss, ich hatte es schwerer. Ich musste beiseite stehen und zusehen, wie man ihnen nachlief, und hoffen, sie würden sich nicht einfangen lassen, wie es gelegentlich der Fall war. Ich musste es mir gefallen lassen, zeitweilig von ihnen als altmodische Mutter betrachtet zu werden. Ich musste mir sagen lassen, meine Ansichten wären überlebt, und ich musste an die Zeit meiner eigenen inneren Auflehnung zurückdenken. Ich hatte soviel Böses in der Welt gesehen und erfahren, dass ich ihretwegen Schreckensqualen ausstehen musste, die sich zwar als vollkommen überflüssig erwiesen, aber mir dennoch damals schwer zu schaffen machten. Ich musste mich ihren jugendlichen Auffassungen fügen, dass ich von sexuellen Dingen überhaupt nichts wüsste, dass ich keine Ahnung hätte, wie man Männer behandelt, dass sonst niemand in mich verliebt gewesen sei als die beiden Männer, die ich geheiratet hatte. Meine Erfahrung unterschied sich natürlich nicht von der aller anderen Eltern, die ihre Kinder in die Welt hinausschicken, besonders wenn es sich dabei um Töchter handelt. Söhne lösen sich leichter los und wissen ihren Mund zu halten, und die Mutter weiss meistens nichts von den Liebesaffairen ihres Sohnes. Die nächsten sieben oder acht Jahre waren daher für mich recht schwierig und ich bin mir durchaus nicht sicher, ob ich mich dabei weise benahm. Immerhin habe ich anscheinend keinen grossen Schaden angerichtet, und damit muss ich mich zufriedengeben.

Im Herbst 1930 stellten wir fest, dass unser Werk in Europa und in Grossbritannien offensichtliche Fortschritte machte. Die von uns veröffentlichten Bücher verbreiteten sich über die ganze Welt, und dadurch kamen wir mit Menschen aus allen Ländern in Verbindung. Viele traten in die Arkanschule ein, und die meisten von ihnen sprachen Englisch. Unsere Schullektionen gab es damals noch nicht in fremden Sprachen, und wir hatten auch bloss Englisch sprechende Sekretäre. Die Kunde von unserer Tätigkeit und von unseren Zielen hatte sich in der ganzen Welt verbreitet, und zwar hauptsächlich durch unsere Bücher und durch Leute, die mit uns wegen Meditationsfragen und anderer Probleme brieflich in Verbindung getreten waren.

Mitglieder der Theosophischen Gesellschaft, die mit der Engherzigkeit in der Darstellung der Lehre unzufrieden waren, setzten sich ebenfalls mit uns in Verbindung, und viele von ihnen traten der Arkanschule bei. Wenn sie ihre Anmeldung einreichten, wies ich sie stets darauf hin, dass wir persönlich nichts gegen ihre anderweitige Mitgliedschaft hatten, dass aber die Leiter der theosophischen E. S. entschieden dagegen protestierten. Ausserdem machte ich ihnen klar, dass ihre Seelen auf alle Fälle ihnen selbst gehörten, und dass sie sich von niemandem, weder von mir noch von den Leitern der E. S., irgendwelche Vorschriften machen lassen sollten. Infolgedessen haben wir heute in der Arkanschule viele der ältesten und besten E. S. Mitglieder, die in den beiden verschiedenen Arten der Annäherung keinerlei Widerspruch sehen.

Die lächerliche, von der E. S. verbreitete Theorie, dass die gleichzeitige Befolgung zweier Meditationsarten gefährlich sei, hat mich nicht nur belustigt, sondern hat sich auch als falsch erwiesen. Erstens einmal haben beide Arten die gleiche Schwingungsqualität und zweitens ist die in der E. S. vorgeschriebene Meditationsarbeit derart elementar, dass sie, wenn überhaupt, nur eine geringe Wirkung auf die Zentren ausübt; sie ist jedoch für Leute auf dem Probepfad sehr zu empfehlen.

Die Arkanschule war also in ständigem Wachsen begriffen, blieb aber noch immer verhältnismässig klein. Unter dem Zwang der New Yorker Mietverhältnisse waren wir verschiedene Male umgezogen, und im April 1928 gehörten wir mit zu den ersten, die in das neue Geschäftsgebäude Nr. 11 West 42. Strasse einzogen, wo wir uns zunächst im obersten Stockwerk (im 32.) einquartierten. Heute sind wir ausserdem noch im 31. Stock, aber wir sind auch dort viel zu sehr eingeengt und werden uns in absehbarer Zeit wohl doch noch weiter ausdehnen müssen.

Wir hatten eine Zeitlang mit einer Frau in der Schweiz in brieflicher Verbindung gestanden, die ziemlich viel Wissen besass, die an dem, was wir lehrten, interessiert war und gern etwas tun wollte, um die Ewige Weisheit der Welt zugänglich zu machen. Sie hatte ein wunderschönes Heim am Lago Maggiore in der Schweiz, wo sie auch eine Versammlungshalle erbaut und eine sehr gute Bibliothek angesammelt hatte. Im Herbst des Jahres 1930 tauchte sie eines Abends zu später Stunde in unserem Haus in Stamford (Connecticut) auf; sie blieb eine Weile bei uns, um uns verschiedene Pläne zu unterbreiten, ihre Mitarbeit anzubieten und unsere Stellungnahme zu erfahren. Sie schlug vor, mit unserer Hilfe in Ascona bei Locarno am Lago Maggiore ein geistiges Zentrum zu errichten, das sich ausserhalb jeder Kirche oder Sekte halten und allen esoterischen Denkern und Schülern aller Richtungen offenstehen sollte, die von Europa oder anderswoher dorthin kommen wollten. Sie bot uns ihre schönen Gebäude, die Vorlesungshalle und das herrliche Gelände als ihren Beitrag an, und Foster und ich sollten hinkommen und das Projekt durch Vorträge und Unterrichtsstunden in Gang bringen. Sie bot uns volle Gastfreundschaft an und war bereit, uns und auch den drei Mädchen in Ascona freie Kost und Unterkunft zu gewähren; nur die Reisekosten müssten wir selbst bezahlen.

Wir konnten uns natürlich nicht sofort auf der Stelle entscheiden, versprachen ihr aber, die Sache sehr ernst in Erwägung zu ziehen und ihr bald nach Neujahr 1931 Bescheid zu geben.

Es gab da viel zu überlegen. Die Reisekosten für fünf Personen waren keine Kleinigkeit, und wir waren uns durchaus nicht sicher, ob wir solch ein Unternehmen unter diesen Bedingungen wagen durften. Ich war zwanzig Jahre lang ununterbrochen in Amerika gewesen, und ich konnte auch nicht nach Europa gehen, ohne meine eigene Heimat zu besuchen; es gab allerhand zu überlegen, bevor wir genau wussten, was richtig war.

Meine Freundin, Alice Ortiz, kam gerade zu dieser Zeit mit einem Vorschlag zu mir, der mit der ganzen Situation zusammenhing. Ohne irgend etwas von dem Vorschlag von Olga Fröbe zu wissen, sagte sie mir eines Tages: «Was möchtest du für deine Mädel lieber haben: Soll ich sie für einige Jahre auf ein College (Oberschule) schicken oder möchtest du sie lieber ins Ausland reisen lassen? Ich würde in jeden Fall für die Kosten aufkommen, aber du musst tun, was du für die Mädel am besten hältst». Ich besprach das eingehend mit Foster und wir kamen zu dem Ergebnis, dass Auslandsreisen den Mädchen ein erweitertes Gesichtsfeld verschafften und ihnen nützlicher wären als irgendein akademischer Grad, den sie sich auf einem College erwerben könnten. Einen akademischen Grad kann jeder erwerben, aber weite Reisen sind nur wenigen vergönnt. Ich liess mich wahrscheinlich in meiner Auffassung dadurch beeinflussen, dass ich selbst weit gereist war und ebenfalls keine akademischen Würden besass.

Nur zweimal im Leben hat mir das leid getan. Solche akademische Grade werden hier im Land sehr überschätzt, und obwohl ich keinen besitze, halte ich mich dennoch für ebenso gebildet wie die Leute, die ein College absolviert haben. Vor einiger Zeit wurde ich aufgefordert, eine Reihe von Vorlesungen im Postgraduate College in Washington, der Bundeshauptstadt, zu halten, und zwar über den Intellekt und die Intuition. Die Ankündigungen waren schon vorgedruckt und verschickt worden, als man entdeckte, dass ich keine akademischen Grade hinter meinem Namen hatte; daraufhin wurden die Vorlesungen abgesagt. Später erhielt ich einen Brief vom Präsidenten des College, in dem er mir mitteilte, dass die Fakultät seiner Ansicht nach einen Irrtum begangen habe, dass es aber zu spät sei, etwas daran zu ändern. Kurz danach wurde ich von der Cornell Universität aufgefordert, zu ihren Studenten über moderne, geistige Annäherung an die Wahrheit zu sprechen und mich mit kleinen Gruppen von Studenten zu unterhalten. Auch diese Vorlesung wurde abgesagt, weil ich keine akademischen Titel besass.

Auf jeden Fall stand ich auf dem Standpunkt, dass meine Töchter sich zu nützlicheren Menschen entwickeln würden, wenn sie auch über die Bewohner anderer Kontinente mehr Kenntnisse sammeln könnten und zwar nicht nur durch Besichtigen von Denkmälern und den Besuch von Kunstgalerien, sondern durch direkten Kontakt mit der Bevölkerung selber. Wir gaben daher jeden Gedanken an eine akademische Bildung der Mädchen auf und entliessen sie lieber - in die Schule des Lebens.

Ich habe diesen Entschluss nie bereut. Sie haben viele Menschen kennengelernt und sind sich darüber klar geworden, dass die USA nicht das einzige Land in der Welt sind. Sie stellten fest, dass es in England, Frankreich, in der Schweiz usw. genauso viel nette und intelligente, gute und schlechte Menschen gibt wie in den Vereinigten Staaten.

Was wir heute in der Welt entwickeln müssen, ist ein Weltbürgertum, das dem primitiven Nationalismus ein Ende bereitet, der soviel Hass unter den Menschen gesät hat. Ich kenne nichts Vernichtenderes als das Schlagwort: «Amerika den Amerikanern». Nichts ist bezeichnender für das Inselbewusstsein der Briten, als die Gewohnheit, alle anderen als Ausländer zu betrachten, oder für die Überzeugung der Franzosen, dass sie an der Spitze aller Zivilisationsbestrebungen stünden. All das muss verschwinden. Ich habe in allen Ländern, in denen ich gewohnt habe, die gleichen Menschen angetroffen. Es gibt Länder, in denen man bequemer lebt als in anderen, aber die Menschheit ist stets die gleiche.

Ich bin in vielen Städten hier in den Staaten, in Grossbritannien und auf dem europäischen Kontinent herumgekommen und habe zugehört, was die einzelnen Menschen voneinander sagen und wie sie sich verachten und gegenseitig lächerlich machen; und da ich das vielleicht besser beobachtet habe als die meisten Reisenden, so wollte ich, dass meine Töchter ein Gefühl für die Einheit der Menschen bekämen. Ich denke, sie haben einen weiteren Gesichtskreis als der Durchschnitt ihrer Landsleute, und das verdanken sie ihren Reisen; und das verdanke auch ich der Tatsache, dass ich nicht nur im horizontalen Sinn weit herumgekommen bin, sondern dass ich auch in vertikaler Hinsicht die soziale Leiter von oben bis unten kennenlernte. Menschen gern zu haben ist sehr erzieherisch, und mir ist die Liebe zu den Mitmenschen angeboren. Einer der besten Menschen, die ich je kennenlernte, war der Sohn eines Kaisers. Die erste und liebste Freundin, die ich vor fünfunddreissig Jahren bei meiner Ankunft in den Staaten kennenlernte war eine Negerin; sie beide haben für mich in meinem Bewusstsein die gleiche Bedeutung, und an beide denke ich mit gleicher Zuneigung zurück.

Eins habe ich bestimmt festgestellt, nämlich dass sich die Mädchen in jedem Kreis zu bewegen und in jeder Situation zurechtzufinden wissen, obwohl sie nur die öffentlichen Schulen in Amerika absolviert haben. Wenn einige Veranlagung vorhanden ist und ein Elternhaus, in dem man interessante Dinge schätzt und menschliche Werte betont, dann gibt es für mich kein besseres Ausbildungssystem als eine Erziehung in öffentlichen Schulen, wie sie hier in den Staaten üblich ist.

Im Frühjahr 1931 entschlossen wir uns, Olga Fröbes Einladung zu folgen und sie für einige Monate in ihrem Haus am Lago Maggiore zu besuchen. Man kann sich leicht vorstellen, welche Aufregung das Planen, das Einkaufen von Koffern, Kleidern und die Vorfreude der Mädchen auf all das Neue verursachten. Sie waren niemals in ihrem Leben über die Landesgrenzen hinausgekommen, ausser Dorothy, die einmal in Hawaii gewesen war. Alice Ortiz gab uns neue Beweise ihrer üblichen Freigebigkeit und sorgte dafür, dass wir alle gebührend eingekleidet waren; überdies bezahlte sie alle Reisekosten.

Wir wählten eins von den kleineren Schiffen, das direkt von New York nach Antwerpen fuhr und ich muss gestehen, dass ich das Bordleben mit drei sehr lebenslustigen und ausgelassenen Mädchen ziemlich anstrengend fand. Auf sie aufzupassen, war keine Kleinigkeit; und sie jeden Abend rechtzeitig ins Bett zu kriegen, war auch nicht eben ein Vergnügen. Kein Mädchen, das sich gerade beim Tanz mit einem Offizier amüsiert, lässt sich gern von der Mutter stören und daran erinnern, dass es Zeit zum Zubettgehen ist. Sie waren sehr artig, aber auch sehr erregt von dem ganzen Bordbetrieb. Sie wussten von allen Mitreisenden, wer sie waren, wo sie herkamen und wie sie hiessen, und alle drei waren sehr beliebt.

Vor einigen Jahren stiess ich auf ein Bündel Sachen, und als ich es aufrollte, entdeckte ich drei hübsche Ballkleider, die ich für die Mädchen an Bord des Schiffes gemacht hatte. Die Idee war allerdings durchaus nicht originell, denn sie waren der amerikanischen Flagge nachgemacht und bestanden aus dunkelblauen Röcken mit weissen Streifen und weissen Jäckchen mit roten, fünfzackigen Sternen. Ich lehnte es ab, achtundvierzig Sterne an jedes Jäckchen zu nähen, denn das wäre zuviel Arbeit gewesen, aber der allgemeine Eindruck war doch höchst patriotisch und farbenfroh.

Ich werde nie den Tag vergessen, als wir die Schelde hinauffuhren und in Antwerpen anlegten. Die Mädchen hatten natürlich noch nie eine ausländische Stadt zu Gesicht bekommen. Alles schien ihnen neu und fremdartig, von der Droschkenkutsche, mit der wir ins Hotel fuhren, bis zu den Daunenkissen auf allen Betten. Wir gingen ins Hotel «Des Flandres» und verbrachten ein paar sehr vergnügte Tage in Antwerpen. Die bunten Tischtücher im Van Viordinaire, die ausländische Küche und der Cafe au lait waren ein Ereignis für die Mädchen und für mich eine Erinnerung an frühere Zeiten.

Eine Freundin hatte die Überfahrt mit uns zusammen gemacht, um mit uns in Ascona zu sein, aber sie verliess uns bald in Antwerpen, da sie mit ihrer Tochter den Rhein hinunterfahren wollte. Sie hatte eine ganz andere Vorstellung von einer vergnüglichen Auslandsreise, als Foster und ich. Gleich morgens pflegte sie mit ihrer Tochter an einem Arm und dem Baedeker im anderen herunterzukommen und mich zu fragen: «Alice, was werdet ihr euch heute ansehen? Hier ist eine Statue mit drei Sternen im Reiseführer, und in der Kathedrale gibt es Rubensgemälde und allerhand anderes zu sehen. Was habt ihr zuerst vor?» Zu ihrer grossen Überraschung sagte ich ihr, wir würden nichts dergleichen unternehmen, da wir nicht daran interessiert wären, Statuen längst verstorbener Kriegshelden oder jede Kirche anzusehen, die man hätte besuchen können.

Ich sagte ihr, meine Hauptabsicht sei die, die Mädchen etwas von der Atmosphäre des Landes in sich aufnehmen zu lassen und ihnen zu zeigen, wie die Leute aussehen, wie sie wohnen und was sie an den verschiedenen Tageszeiten treiben. Wir wollten also bloss herumspazieren, in kleinen Cafes unter den Sonnendächern sitzen und Kaffee trinken, bloss dasitzen und die Leute beobachten und ihnen zuhören und uns unterhalten. Das taten wir dann auch, während sie ihre eigenen Wege ging. Ich habe meine Töchter nie in Galerien mitgenommen, über Kirchen gesprochen oder die üblichen Dinge getan, die der Durchschnittsreisende unternimmt. Wir bummelten durch die Strassen, sahen uns Gärten an, machten Spaziergänge in die Vororte. Nach ein paar Tagen wussten die Mädel eine ganze Menge über die Stadt, ihre Umgebung, ihre Bewohner und ihre Geschichte. Wir kauften keine Andenken, machten aber Aufnahmen, kauften Ansichtskarten und fanden heraus, dass die Menschen genauso waren wie wir.

Von Antwerpen aus fuhren wir in die Schweiz, nach Locarno, soweit wie wir mit der Bahn fahren konnten; dort holte uns Olga ab und brachte uns in ihre schöne Villa, wo wir uns einige Wochen aufhielten. Diese Bahnreise fanden die Mädel herrlich, aber mich erschöpfte sie. Wir fuhren mit dem «blauen Zug» durch den Simplon und das Centovalli.

Die Schönheit der italienischen Seen lässt sich unmöglich beschreiben. Dieser Lago Maggiore, an dessen Ufer Olgas Villa lag, ist einer der schönsten und grössten der italienischen Seen. Teilweise liegt er auf Schweizer Gebiet im Kanton Tessin, aber grösstenteils in Italien. Der See ist tiefblau, und die kleinen Dörfchen liegen sehr malerisch an den Berghängen und erstrecken sich bis zum Wasser hinunter. Ich kenne nichts Schöneres als die Aussicht, die man von Ronco aus nach beiden Seiten auf den See hat. Ich finde einfach keine Worte, um diese Schönheit zu beschreiben, aber ich werde sie ewig in Erinnerung behalten. Solche Bilder stellt man sich gern in Augenblicken der Ermattung und Enttäuschung vor, und doch lagen hinter all dieser Schönheit auch Laster und Verbrechen längst entschwundener Tage.

Diese Gegend war einmal der Hauptort der Schwarzen Messe in Mitteleuropa gewesen, und Anzeichen dafür waren noch auf den Landstrassen zu finden. Die kleinen Dörfer der Umgebung waren von ihren Bewohnern hauptsächlich aus wirtschaftlichen Gründen verlassen worden, und es hatten sich dort Gruppen aus Deutschland und Frankreich angekauft, deren Absichten und Anschauungen alles andere als anständig und einwandfrei waren. Die Jahre kurz vor dem Krieg war es besonders in Deutschland sehr abscheulich zugegangen. Es blühten damals alle Arten von Lastern, und viele von den Leuten, welche diesen unerwünschten Gepflogenheiten frönten, hatten sich während des Sommers an die italienischen Seen verzogen. Die Gegend wird später einmal vom Wust gereinigt werden, und es wird sich eine wahrhaft geistige Tätigkeit entwickeln; aber wir hatten es damals noch mit dem Geist des Bösen, der diese Gegend durchdrungen hatte, und mit den sonderbar dekadenten und widerwärtigen Leuten zu tun, die am Ufer des Sees lebten.

Sobald ich herausfand, was dort los war und wieviel Böses sich hinter der äusseren Schönheit verbarg, setzte ich mich zu den Mädchen hin und klärte sie über alles auf. Ich wollte nicht, dass sie sich in ihrer Unwissenheit in Gefahr begeben sollten und zeigte ihnen die verschiedenen Typen von Leuten, die ganz deutlich dieser unerfreulichen Gattung angehörten. Ich verbrämte die Tatsachen nicht mit schönen Worten, sondern sagte ihnen glatt heraus, worum es sich handelte, und verschwieg weder Homosexualität noch andere Verirrungen, so dass sie unversehrt mit vielem in Berührung kamen, was ihnen andernfalls hätte schaden können. Ich verheimlichte ihnen eben nichts, und es gab keinerlei Art von Sünden und üblen Sitten, über deren Existenz ich sie nicht unterrichtet hätte. Ich erklärte ihnen, welche Sorte von Menschen diesen Verirrungen frönten und diese benahmen sich auch so laut und auffällig, dass die Mädchen an meinen Worten nicht zweifeln konnten. Ich habe nie die Meinung vertreten, dass man den jungen Leuten das Bestehen unerwünschter Tatsachen verheimlichen sollte.

Ich habe sie auch lesen lassen, was sie wollten, aber wenn es sich um ein Buch handelte, das ich für reine Pornographie hielt, dann sagte ich das natürlich und fragte sie, warum sie es lesen wollten. Wenn ich dabei vollkommen offen und doch gleichzeitig gewillt war, sie selbst das lesen zu lassen, was ich ablehnte, so machte ich stets die Erfahrung, dass ihre angeborene Anständigkeit und ihr natürliches Feingefühl sie vollauf beschützten. Soviel ich weiss, gab es bei uns nie die Bücher, die unter der Bettdecke versteckt wurden, weil meine Töchter wussten, dass sie lesen konnten, was sie wollten und dass ich mich offen dazu äussern würde. Jedenfalls kamen sie gut durch die drei Sommer in Ascona hindurch und lernten viel, ohne dabei Schaden zu nehmen.

Den ersten Sommer in Ascona verbrachten wir in Olgas Villa, aber später wohnten wir in einem kleinen Landhaus oberhalb des Sees, das sie auf ihrem Gelände errichtet hatte. Ganz in der Nähe davon hatte sie eine wunderhübsche Vorlesungshalle erbauen lassen, wo morgens und nachmittags die Versammlungen stattfanden. Das Gelände war einmalig schön. Wir hatten ideale Gelegenheit zum Schwimmen und Bootfahren, und auf den ersten Blick schien uns alles wie ein Geschenk des Himmels, das viele Möglichkeiten für eine verheissungsvolle Zukunft in sich barg. Während des ersten Jahres unseres Aufenthalts war die Gruppe ziemlich klein, aber sie wuchs stetig während der nächsten zwei Jahre, und man kann wohl sagen, dass das Unternehmen grossen Erfolg hatte. Leute aus allen Nationen trafen sich dort, und durch das Zusammenleben lernte man sich sehr gut kennen. Es schien, als gäbe es keine nationalen Schranken, und wir alle sprachen die gleiche geistige Sprache.

Dort lernten wir zum ersten Mal Dr. Robert Assagioli kennen, der schon mehrere Jahre lang unser Vertreter in Italien gewesen war; unsere Verbindung mit ihm und die vielen Jahre gemeinsamer Tätigkeit bedeuten einen der grossen Lichtblicke unseres Lebens. Er war früher einmal einer der führenden Gehirnspezialisten in Rom gewesen, und als wir ihn kennenlernten, galt er als einer der hervorragendsten Psychologen Europas. Er ist ein Mensch von seltener Charakterschönheit. Sobald er in ein Zimmer trat, machte sich seine Gegenwart durch seine wesentlichen, geistigen Qualitäten bemerkbar. Frank D. Vanderlip stellt ihm in seinem Buch «What Next in Europe?» ein besonders bemerkenswertes Zeugnis aus. Er nennt ihn den modernen Franz von Assisi und bezeichnet den Morgen, den er mit ihm zubrachte, als den Höhepunkt seiner Europareise. Dr. Assagioli ist Jude. Als wir ihn damals in Ascona trafen und später in Italien besuchten, wurden die Juden dort gut behandelt. Die ungefähr 30'000 in Italien ansässigen Juden wurden als italienische Bürger geschätzt und waren keinerlei Einschränkungen oder Belästigungen ausgesetzt.

Die Ansprachen Dr. Assagiolis gehörten zu den Höhepunkten unserer Ascona-Konferenzen. Er hielt Vorlesungen in französischer, italienischer und englischer Sprache und die geistige Kraft, die durch ihn hindurchströmte, spornte viele zu erneuertem, geistigen Leben an. Während der ersten beiden Jahre trugen er und ich den Hauptanteil an den Vorlesungen, obwohl auch andere fähige und interessante Redner zugegen waren. Im letzten Jahr unseres Aufenthalts in Ascona wurde der Platz von deutschen Professoren überrannt, und dadurch änderte sich der Ton und die Qualität des Ganzen. Einige von ihnen waren höchst unerwünscht und brachten das Niveau von einer verhältnismässig hohen, geistigen Warte auf das Gebiet akademischer Philosophie und fragwürdiger Esoterik herunter. 1933 waren wir zum letzten Mal dort.

Das zweite Jahr in Ascona war besonders interessant. Grossfürst Alexander gesellte sich zu uns und hielt sehr interessante Ansprachen, aber noch wichtiger war der Besuch von Violet Tweedale. Das war für mich ein roter Tag im Kalender und ich sehe noch heute, wie sie mit ihrem Mann den Hügel herunterkam und durch die Kraft ihrer geistigen Persönlichkeit sofort im Mittelpunkt stand. Sie war sehr schön, sehr liebenswürdig und sehr vornehm, und es entwickelte sich vom ersten Augenblick an eine wirkliche Freundschaft zwischen ihr, ihrem Mann, Foster und mir. Später besuchten wir sie oft in ihrem wunderschönen Heim in Torquay, South Devon, und wenn ich müde wurde oder Sorgen hatte, dann pflegte ich zu Violet zu gehen, um mit ihr zu sprechen. Sie war eine äusserst produktive Schriftstellerin. Sie schrieb zahlreiche volkstümliche Novellen, und ihre auf eigenen Erfahrungen beruhenden Bücher über Psychismus sind stichhaltig und sehr unterhaltend. Eines ihrer letzten Bücher, «Der Kosmische Christus», hat eine weite und sehr nutzvolle Verbreitung gefunden. Sie gehörte zu den wenigen medial veranlagten Personen in der Welt, an die man unbedingt glauben kann. Sie war hochintelligent, besass viel Sinn für Humor und einen hochentwickelten Forschungsdrang. Sie studierte die Bücher des Tibeters mit grossem Eifer, und ich sorgte dafür, dass sie alles, was er schrieb, sofort bekam. Sie war mit hoch und niedrig befreundet, und als sie vor kurzem starb, gab es ausser meinem Mann und mir noch Hunderte von Menschen, die einen unersetzlichen Verlust erlitten. Die Brosche, die sie stets getragen hatte, wurde mir von ihrem Mann geschenkt; ich trage sie ständig und gedenke ihrer in tiefer Liebe und Freundschaft.

Jedes Jahr kehrten wir nach unserer Auslandsreise für einige Monate in die Staaten zurück; gewöhnlich liessen wir die Mädchen in England, wo wir nötigenfalls ein Haus mieteten, und wo uns zwei Jahre lang ein Haus, Ospringe Place in Kent, von einem befreundeten Schulmitglied zur Verfügung gestellt wurde.

Während dieser Jahre heirateten alle drei Mädchen. Wie bereits erwähnt, heiratete Dorothy einen Hauptmann Morton, der sechs Monate älter war und wunderbar zu ihr passte. Es ist eine von den wirklich glücklichen Ehen, an denen man seine Freude haben kann. Ich weiss, dass Terence für Dorothy derjenige ist, den man unter einer Million nur einmal antrifft, ruhig, gescheit, freundlich und doch entschlossen, wo es angebracht ist; und Dorothy ist witzig, lebhaft und temperamentvoll, aber auch ein scharfsinniger Denker und eine gute Psychologin; dabei ist sie sehr kunstverständig und hängt sehr an ihrem Mann. Etwas später heiratete Ellison einen Regimentskameraden von Terence, Arthur Leahy. Sowohl Arthur als auch Terence befinden sich derzeit im Ausland als Oberste im aktiven Dienst. Meine zweite Tochter, Mildred, fuhr einmal mit uns in die Staaten zurück und heiratete dort Meredith Pugh. Obwohl diese Ehe hoffnungsvoll zu sein schien, stellte sie sich als sehr unglücklich heraus. Die Dinge nahmen einen so drastischen Verlauf, dass Mildred innerhalb von vier Monaten verlobt, verheiratet und geschieden war und zugleich ein Kind erwartete. Ihr kleiner Sohn war jedoch eine mehr als hinreichende Entschädigung für alles, was sie durchmachte. Auf Einzelheiten brauche ich nicht einzugehen. Mildred behielt in dieser äusserst schwierigen Situation ihr inneres Gleichgewicht, und benahm sich klug und gelassen. Als sie zu mir nach England zurückkehrte, war ich erstaunt über ihren Mangel an Bitterkeit und Vergeltungsbedürfnis; andererseits war es mir ein Rätsel, wie jemand so schrecklich elend aussehen und doch noch am Leben bleiben konnte.

Während dieser Jahre, in denen mein Mann und ich fünf Monate in Europa und sieben Monate in den Staaten verbrachten, wuchs unsere Schultätigkeit andauernd. Die drei Sommer in Ascona hatten der Schule eine Anzahl von Leuten verschiedener Nationalität zugeführt, und zusammen mit jenen, die ihr bereits früher aufgrund der Bücher beigetreten waren, bildete sie in vielen europäischen Ländern eine Kerngruppe, auf der man in Zukunft aufbauen kann. Das Werk in Spanien entwickelte sich unter Leitung von Francisco Brualla ausserordentlich gut, und wir hatten dort bereits einige hundert Schüler, meistens Männer. Das Werk in Grossbritannien machte ebenfalls Fortschritte. Kleine, über die ganze Welt verstreute Schülergruppen begannen allmählich, geschlossen der Schule beizutreten.

Eine solche Gruppe in Indien interessierte mich besonders. Es gab dort eine Organisation, die sich Suddha Dharma Mandala nannte. Sie war von Sir Subra Maniyer gegründet worden und schien mir ein okkulter Orden fortgeschrittenen Grades zu sein. Mir war eines ihrer Bücher in die Hände gekommen, und ich hatte festgestellt, dass einige von den Leitern der Theosophischen Gesellschaft sich in dem Orden als Mitglieder betätigten, nachdem sie aus der Esoterischen Sektion der T. G. herausgewachsen waren. Ich verstehe mich von Haus aus nicht sehr gut darauf, Organisationen beizutreten, aber ich schrieb dem Ordensleiter und bat ihn um Aufnahme als Mitglied; ich erhielt jedoch keine Antwort. Als ich ein Jahr darauf immer noch nichts gehört hatte, schrieb ich erneut und bestellte einige von den Büchern, für deren Betrag ich einen Scheck beifügte. Ich erhielt weder eine Antwort, noch wurden mir die Bücher zugestellt, obwohl der Scheck einkassiert wurde. Nach Ablauf einiger Monate sandte ich einen Durchschlag meines Briefes an den Ordensleiter, erhielt aber immer noch keine Antwort. Darauf machte ich mir keine weitere Mühe und war überzeugt, dass es sich um eines jener Schwindelunternehmen handelte, die gern leichtgläubige Westländer einfangen.

Drei Jahre später fuhr ich in die Hauptstadt Washington, um eine Reihe von Vorlesungen im New Willard Hotel zu halten. Am Ende einer dieser Vorträge kam ein Mann mit einem kleinen Köfferchen auf mich zu und sagte: «Ich bin von der Suddha Dharma Mandala beauftragt, ihnen diese Bücher auszuhändigen». Da waren also alle Bücher, die ich bestellt hatte, und mein Glaube an die Rechtschaffenheit der Organisation war wiederhergestellt. Ich hörte eine Zeitlang nichts weiteres, bis ich von einem Mitglied der Gruppe ein Schreiben erhielt, in dem man mir mitteilte, dass Sir Subra Maniyer gestorben und mein Buch «Eine Abhandlung über Kosmisches Feuer» sein ständiger Begleiter gewesen sei; und er habe auf seinem Todesbett den Wunsch ausgesprochen, die sieben rangältesten Mitglieder seines Ordens sollten der Arkanschule beitreten und sich zwecks weiterer Unterweisung an mich wenden. Das taten sie auch, und diese hochinteressante Gruppe alter Hinduschüler arbeitete viele Jahre lang mit uns zusammen. Alle diese Männer waren bejahrt und sind nach und nach gestorben, und anscheinend sind keine mehr übrig, mit denen ich in Verbindung bleiben könnte. Sie alle hatten tiefe Ehrfurcht für H. P. Blavatsky, und für mich war die Fühlungnahme mit ihnen äusserst interessant.

Eine andere Verbindung mit H. P. B. ergab sich, als eine kleine Gruppe von Sinnetts Leuten sich der Arkanschule anschlossen; die erste von ihnen war meine Freundin Lena Rowan-Hamilton. Sie brachten etwas von der alten Tradition ins Leben der Schule hinein und dazu ein starkes Gefühl der Verbundenheit mit jener Quelle der Ewigen Weisheit, die im 19. Jahrhundert ihr Licht nach Westen strömen liess.

Eine der interessanten Entwicklungserscheinungen in der Schule zeigte sich in der ständigen Erschwerung der Aufnahmebedingungen. Immer mehr sehen wir uns gezwungen, Schüler wegen ihrer rein gefühlsmässigen Einstellung abzuweisen und die Notwendigkeit mentaler Konzentration und Entfaltung zu betonen, wenn jemand die fortgeschrittenere Schulung unserer oberen Grade durchmachen will. In dem Mass, in dem die Bedürfnisse der Welt immer dringender werden, tritt auch das gleichzeitige Bedürfnis nach geschulten Jüngern immer mehr zutage. Die Welt muss von denen gerettet werden, die Intelligenz mit Liebe vereinigen; blosses Höherstreben und gute Absichten genügen nicht mehr.

Während dieser Reisejahre stiessen wir in den einzelnen europäischen Ländern auf mancherlei Abarten von Okkultismus. Überall kamen wir mit kleinen Gruppen in Berührung, die einzelne Aspekte der Ewigen Weisheit nachdrücklich betonten und esoterische Wahrheit auf ihre Art zum Ausdruck brachten. Die ersten Anzeichen einer wachsenden, geistigen Flutwelle liessen sich überall erkennen, in Polen und Rumänien in gleicher Weise wie in Grossbritannien und Amerika. Es war beinahe so, als ob das Tor zu einem neuen, geistigen Leben für die Menschheit geöffnet worden wäre und als ob das ein entsprechendes sich Aufbäumen der Kräfte des Bösen zur Folge hätte, das dann im Weltkrieg seinen Höhepunkt erreichte; ich glaube nicht, dass diese anschwellende Flut vom Weltkrieg wirklich unterbrochen wurde. Ich glaube jedoch zuversichtlich, dass dies zu einem noch intensiveren, geistigen Antrieb führen wird und dass diejenigen unter uns, die im Weinberge des Meisters mitarbeiten, in den kommenden Jahren alle Hände voll zu tun haben werden, um alle diejenigen zu organisieren, zu ermutigen und zu unterweisen, die geistig wach sind.

Einer der Gründe, die mich zur Niederschrift dieser Autobiographie ermutigt haben, ist die Tatsache, dass ich und die Mitglieder unserer Gruppe Gelegenheit gehabt haben, gewisse Entwicklungen zu beobachten und zu erkennen, die unter dem Einfluss der Hierarchie auf Erden stattgefunden haben. Einige der wirksamen Massnahmen, die das Neue Zeitalter und die künftige Zivilisation - insbesondere von ihrem geistigen Gesichtswinkel aus - einleiten sollen, sind sogar durch unsere Vermittlung veranlasst worden. Rückschauend bin ich mir darüber klar, was im Lauf der Jahre von seiten der Hierarchie durch unseren Einsatz erreicht wurde.

Wenn ich das ausspreche, dann will ich durchaus nicht etwa renommieren oder mich in Selbstzufriedenheit sonnen. Wir sind nur eine von vielen Gruppen, durch welche die Meister der Weisheit wirken, und wenn je eine Gruppe das vergisst, dann neigt sie zu eitler Absonderung und läuft unmittelbar Gefahr, in sich zusammenzubrechen. Es war uns vergönnt, gewisse Dinge zu unternehmen. Anderen Jüngern und Gruppen fiel die Verantwortung zu, unter Leitung ihrer eigenen Meister andere Projekte einzuleiten. Soweit diese Projekte unter hierarchischer Inspiration und im Geist wahrer Bescheidenheit und wahren Verstehens ausgeführt werden, tragen sie zu dem grossen geistigen Unternehmen bei, das die Hierarchie im Jahr 1925 in die Wege leitete. Mit einer dieser dramatischen Manifestationen hierarchischer Zielsetzung möchte ich mich an dieser Stelle befassen.

Als ich 1932 in Ascona weilte, erhielt ich vom Tibeter eine Botschaft, die dann im Herbst als Flugschrift unter dem Titel «Die neue Gruppe der Weltdiener» veröffentlicht wurde; sie war von epochemachender Bedeutung, obwohl bis jetzt nur wenige Leute deren wahre Bedeutung klar erkannten.

Die Geistige Hierarchie unseres Planeten stellte sich auf den Standpunkt, dass eine Gruppe ins Leben gerufen werden sollte, die den Kern der kommenden Weltzivilisation bilden und sich durch jene Eigenschaften auszeichnen sollte, die während der nächsten 2500 Jahre für diese Zivilisation bezeichnend sein würden. Zu diesen Eigenschaften gehört vor allem ein Geist der Inklusivität, ein mächtiger Drang nach selbstlosem Dienst an unseren Mitmenschen sowie ein bestimmtes Gefühl für geistige Führung, die von der inneren Seite des Lebens herrührt. Diese neue Gruppe der Weltdiener zerfällt in zwei bestimmte Gruppen, deren erste mit der Geistigen Hierarchie in enger Verbindung steht, während die zweite, auf die ich später zu sprechen komme, die Männer und Frauen guten Willens umfasst. Die erste Gruppe besteht aus Aspiranten, die auf die Jüngerschaft hinarbeiten, und zwar unter der Leitung gewisser Jünger des Meisters, die ihrerseits von einigen wenigen Weltjüngern geleitet werden, deren Arbeitsgebiet so umfassend ist, dass es ein unverkennbar internationales Ausmass erreicht. Diese Gruppe dient in ganz bestimmter Weise als Mittler zwischen der Geistigen Hierarchie unseres Planeten und der Masse der Menschheit. Durch sie streben die Meister der Weisheit - unter der Leitung Christi - die Verwirklichung gigantischer Pläne zur Welterlösung an.

Dieser Versuch, die Menschheit nach neuen und klarer bestimmten Richtlinien und in weit grösserem Umfang als bisher vorwärts zu führen, wird durch das Herannahen des Wassermann-Zeitalters ermöglicht; dieses Zeitalter ist sowohl im astronomischen als auch im astrologischen Sinn von Bedeutung.

Es besteht heute in der ganzen Welt ein starkes Vorurteil gegen Astrologie, und das ist nicht nur verständlich, sondern es bedeutet auch einen Schutz für die Leichtgläubigen und die Dummen. Als Schicksalsprophezeiung ist die Astrologie meines Erachtens sowohl eine Gefahr als auch eine Belastung. Wenn jemand hoch entwickelt ist, dann wird er seine Sterne zu beherrschen beginnen. Dann lässt er sich in seiner Handlungsweise nicht mehr beeinflussen, und sein Horoskop wird sich als ungenau und völlig bedeutungslos erweisen. Bei unentwickelten Menschen besteht dagegen die Wahrscheinlichkeit, dass ihre Sterne sie vollständig bestimmen, und ihre Horoskope werden sich im Sinn einer Voraussagung als durchaus richtig herausstellen. Wenn der Betreffende in einem solchen Fall das Diktum seines Horoskopes hinnimmt, dann macht er damit seinen freien Willen zum Narren und verharrt innerhalb der Grenzen seines Horoskopes, ohne irgendwelche persönlichen Anstrengungen zu machen, sich von den etwa vorhandenen Bedingungen zu befreien.

Ich lächle oft im stillen, wenn sich Leute damit rühmen, dass ihr Horoskop durchaus stimmt, und dass bei ihnen alles genauso eintrifft, wie es ihr Horoskop voraussagt. Was sie damit in Wirklichkeit sagen, ist: - Ich bin ein ganz mittelmässiger Mensch; ich besitze keinen eigenen, freien Willen; ich werde völlig von meinen Sternen bestimmt, und ich habe deshalb auch nicht die geringste Absicht, in diesem Leben irgendwie vorwärts zu kommen. Diese Art von Horoskop ist etwas, was die Besten unter den Astrologen vermeiden. Die feinsten Köpfe auf diesem Gebiet befassen sich in der Hauptsache mit einer Schilderung des Charakters, was immer nützlich ist, und sie bemühen sich darüber hinaus, das Horoskop der Seele und damit gleichzeitig den Lebenszweck festzustellen, der für den Betreffenden das Ziel seiner Inkarnation darstellt; und daraus ergibt sich dann eine klare Abgrenzung zwischen den im Lauf vieler Inkarnationen entwickelten Neigungen der Persönlichkeit und dem allmählich zutage tretenden Vorhaben und Willen der Seele.

Wenn man dagegen die astrologischen Bedeutungen im Zusammenhang mit astronomischen Vorgängen betrachtet, dann ergibt sich ein ganz anderes Bild. Man erfährt heute davon, dass wir gegenwärtig in das Sternzeichen Aquarius (Wassermann) eintreten, oder mit anderen Worten, dass vom Standpunkt des Tierkreises aus die Sonne auf ihrer scheinbaren Himmelsbahn durch die Konstellation Aquarius hindurchzugehen scheint. Das ist jetzt eine astronomische Tatsache, die nichts mit Astrologie zu tun hat. Der Einfluss des Sternzeichens, durch das die Sonne in irgendeiner bestimmten Weltepoche hindurchgeht, ist jedoch unwiderleglich, und das kann ich hier sofort beweisen.

Vor der jüdischen Gesetzesverkündigung, als Moses die Kinder Israels aus Ägypten führte, war die Sonne im Zeichen Taurus, d.h. sie befand sich auf dem Durchgang durch das Sternzeichen des Stiers. Zu jener Zeit traten die Mithras-Mysterien auf Erden in Erscheinung, in deren Mittelpunkt das Opfer eines heiligen Stiers stand. Die Sünde der Kinder Israels in der Wüste, die Moses so sehr erzürnte, als er vom Berg des Herrn herunterkam, bestand nun darin; dass er sie bei der Verehrung des goldenen Kalbes ertappte, und dass sie damit zu einer vergangenen und veralteten Religion zurückgekehrt waren, die sie längst hätten überwunden haben sollen (Vgl. Lukas 22, 12 und Markus 14, 15, nach Luther «grosser Saal»). Das mosaische Gesetz selbst wurde vom Zeichen Aries, dem Widder, beherrscht, durch das die Sonne im Lauf der nächsten 2000 Jahre hindurchging. Dann tauchte der Sündenbock in der jüdischen Geschichte auf, und ausserdem finden wir in der Bibel die Geschichte vom Lamm, das sich im Dickicht verirrt hatte; und all das steht im Zusammenhang mit dem damaligen Durchgang der Sonne durch das Sternzeichen Taurus und Aries.

Was diese natürlichen Reaktionen hervorrief, muss etwas anderes gewesen sein, als die Befunde akademischer Astrologie, die selbst heutigen Tages nur wenigen etwas bedeutet. Irgendein von den Zeichen Taurus und Aries ausgehender Einfluss muss die Symbologie hervorgerufen haben, die das religiöse Leben des Volkes in der damaligen Zeit bestimmte. Das zeigte sich noch augenfälliger, als die Sonne in die nächste Konstellation, das Sternzeichen Fische (Pisces) eingetreten war. Es erschien Christus und es entstand die Fisch-Symbologie, die sich in so charakteristischer Weise durch die ganze Geschichte der Evangelien hindurchzieht. Seine Jünger waren hauptsächlich Fischer. Er vollbrachte seine Wunder mit Fischen, und nach seinem Tod sandte er seine Apostel unter Petrus' Leitung mit der Weisung aus, Menschenfischer zu werden. Aus diesem Grund ist auch die Mitra, die der Papst trägt, ein Fischmund.

Nach astronomischem Befund gehen wir jetzt ins Sternzeichen Aquarius ein, das Zeichen des Wasserträgers und das Zeichen der Universalität, denn Wasser ist ein universales Symbol. Vor seinem Tod sandte Christus seine Jünger aus, um den Wasserträger zu finden, der sie in einen oberen Raum führte, wo das Abendmahl feierlich eingesetzt wurde. All das deutet darauf hin, dass Christus die kommende neue Ära erkannte, die auf seine Dispensation folgen würde, und in die wir jetzt eintreten. Leonardo da Vincis grosses Gemälde vom Abendmahl im oberen Raum ist das grosse Symbol des Wassermann-Zeitalters, denn wir werden unter Christi liebevoller Leitung am gemeinsamen Tisch sitzen, sobald Bruderschaft verwirklicht und die Menschheit in göttlicher Verbundenheit vereinigt ist. Die alten Schranken zwischen Menschen und Nationen werden während der nächsten 2000 Jahre allmählich verschwinden.

Zur Einleitung und Vorbereitung dieser Aufgabe verkündete die Hierarchie das Erscheinen der Neuen Gruppe der Weltdiener auf Erden, unter Leitung von Jüngern und geistigen Aspiranten, die kein Gefühl für Absonderung kennen, die alle Menschen, gleich welcher Hautfarbe und Glaubensrichtung, als gleich betrachten, und die sich zu unermüdlicher Mitarbeit verpflichtet haben, um internationale Verständigung, gemeinsame Teilhabe an wirtschaftlichen Gütern und religiöse Einheit zu fördern.

Die zweite Gruppe innerhalb der Organisation der Neuen Gruppe der Weltdiener besteht aus den Männern und Frauen guten Willens. Dies sind genau genommen keine geistigen Aspiranten. Sie sind am grossen Plan nicht besonders interessiert und wissen wenig oder nichts von der planetarischen Hierarchie. Sie sehnen sich jedoch nach Einführung rechter, menschlicher Beziehungen. Sie wollen Gerechtigkeit und Freundlichkeit zum vorherrschenden Prinzip auf Erden machen. Unter Leitung der Weltjünger und ihrer Helfer können diese Leute dazu erzogen werden, guten Willen in praktischer und wirksamer Weise Ausdruck zu verleihen. Dadurch können sie grundlegende Vorarbeit leisten und die Welt erziehen helfen, das geistige Vorhaben vollkommener zu manifestieren. Sie können die Menschheit mit der Notwendigkeit rechter, menschlicher Beziehungen innerhalb jeder Gemeinde, jeder Nation und schliesslich in internationalem Ausmass vertraut machen.

Dem Umbruch der gegenwärtigen Welt hat der Krieg die Wege geebnet. Die Übelstände unrechter, menschlicher Beziehungen, die aggressive Böswilligkeit und die unterschiedliche Behandlung einzelner Rassen treten heute so klar zutage, dass nur die ganz Dummen die Notwendigkeit des tätigen, guten Willens nicht einzusehen vermögen. Es gibt soviel wohlmeinende Leute, die theoretisch zugeben, dass Gott Liebe ist, und sich dabei der frommen Hoffnung hingeben, dass er diese Liebe einmal in der Menschheit zutage fördern wird.

So wurde die Neue Gruppe der Weltdiener der modernen Menschheit zu Bewusstsein gebracht. Die Flugschrift, welche dieses Ideal in grossen Zügen beschreibt, wurde weit verbreitet, und ihr folgten weitere Schriften, in denen der Tibeter dieses Problem geistiger Zielsetzung und guten Willens eingehender behandelt. In diesen Flugschriften stellte uns der Tibeter die Befolgung ganz bestimmter Massnahmen anheim. Er befürwortete die Aufstellung von Adressenlisten der Männer und Frauen guten Willens aus den verschiedenen Ländern der Welt. Er machte uns den Vorschlag, in möglichst vielen Ländern etwas zu organisieren, was er Diensteinheiten nannte. Er umriss das Wesen der Unterweisungen, die wir diesen Leuten zugehen lassen sollten, und wir machten uns sofort daran, diese Vorschläge und Anweisungen auszuführen.

Von 1933 bis 1939 beschäftigten wir uns damit, die Doktrin guten Willens zu verbreiten, Diensteinheiten in neunzehn verschiedenen Ländern zu organisieren und Männer und Frauen ausfindig zu machen, bei denen die Vision des Tibeters Anklang fand und die gewillt waren, ihr Möglichstes zu tun, um rechte menschliche Beziehungen zu fördern und den Gedanken des guten Willens unter den Menschen zu verbreiten.

Foster und ich sind seit jeher mit der Betonung des Friedens an sich nicht einverstanden gewesen. Seit Jahren haben sich die Friedensgruppen in der Welt damit beschäftigt, diesen Gedanken zu verbreiten und Adressenlisten von Leuten zusammenzustellen, die den Friedensgedanken befürworten - als ob das nicht jeder täte - und allerorten das Verlangen zu erwecken, den Frieden zu einer Zwangsmassregel zu machen. Wir hatten dabei stark das Gefühl, dass man da den Karren vor das Pferd spannt.

Zur Zeit der heftigen Friedenspropaganda zwischen dem ersten und dem zweiten Weltkrieg machte der Friedensgedanke grosse Fortschritte. Millionen von Menschen setzten ihre Namen unter die Friedensresolutionen. Den Achsenmächten war die Idee dieser Friedenspropaganda durchaus willkommen, denn sie bedeutete einen Zustand der Einschläferung, in dem keine Schritte unternommen würden, um sich gegen etwaige Angreifer zu bewaffnen. Die Tatsache, dass Kriege meistens die Folge eines wirtschaftlichen Verfalls sind, wurde übersehen, und es geschah wenig, um diesen Zuständen abzuhelfen. Die Leute mussten weiterhungern; es wurden überall zu geringe Löhne bezahlt und es wurden trotz starker Gegenbestrebungen überall noch Minderjährige beschäftigt; die Übervölkerung der Welt erschwerte die Lage immer mehr. Überall waren alle nur möglichen Vorbedingungen zum Krieg vorhanden, und dennoch erhob sich der Schrei nach «Frieden auf Erden».

Die Engel in Bethlehem sangen: «Ehre sei Gott in der Höhe» - und das ist der Vollendung letztes Ziel; dann: «Friede auf Erden» - für die Menschheit als Ganzes; und dazu kommt als erster und unumgänglicher Schritt «den Menschen ein guter Wille». Guter Wille muss zuerst kommen, wenn je Friede herrschen soll, und das hat man vergessen. Man hat eine Periode des Friedens einzuleiten versucht, bevor guter Wille zum Ausdruck kam. Es kann keinen Frieden geben, solange nicht guter Wille der bestimmende Faktor in allen menschlichen Beziehungen ist.

Eine weitere, umwälzende Tat vollzog der Tibeter, als er «Eine Abhandlung über Kosmisches Feuer» diktierte. In diesem Buch lieferte er, wie es H. P. B. von ihm vorausgesagt hatte, den psychologischen Schlüssel zur Welterschaffung. H. P. B. sagte, im 20. Jahrhundert würde ein Jünger kommen, der weiteren Aufschluss über die drei Feuer, mit denen sich die Geheimlehre befasst, geben würde, nämlich über Elektrisches Feuer, Sonnenfeuer und Feuer durch Reibung. Diese Prophezeiung bewahrheitete sich, als «Eine Abhandlung über Kosmisches Feuer» veröffentlicht wurde. Dieses Buch betrifft erstens das Feuer des reinen Geistes oder Lebens; zweitens das Feuer des Denkens, das jedes Atom des Sonnensystems belebt und das Mittel schafft, durch das die Menschensöhne sich entwickeln. Es betrifft drittens das Feuer der Materie, das jene Anziehung und Abstossung hervorruft, die das Grundgesetz der Evolution ausmachen und die Formen zusammenhalten, so dass sie dem Leben im Verlauf seiner Evolution als Träger dienen können; wenn diese Träger sodann ihren Zweck erfüllt haben, werden diese Erscheinungsformen wieder abgestossen, damit die sich entwickelnden Lebewesen auf ihrem Weg zu noch höherer Evolution fortschreiten können. Die wahre Bedeutung dieses Buches wird erst gegen Ende dieses Jahrhunderts gewürdigt werden. Es ist von einer Tiefgründigkeit und enthält eine Fülle an technischem Wissen, die über das Fassungsvermögen des gewöhnlichen Lesers hinausgehen. Es ist ausserdem ein überbrückendes Buch, weil es gewisse grundlegende Ideen und Ausdrücke des Orients übernimmt und dem westlichen Studierenden bekannt macht, während es gleichzeitig die oft verschwommenen metaphysischen Begriffe des Ostens praktisch erklärt.

Während der letzten Monate hat der Tibeter noch etwas Drittes getan, was einzig dasteht: Er hat im Zusammenhang mit gewissen Ritualen eine Grundlage aufgezeigt, auf der die Neue Weltreligion errichtet werden kann.

Schon lange bestand ein offensichtliches Bedürfnis nach einem Berührungspunkt zwischen den exoterischen Religionen des Westens und den esoterischen Glaubensrichtungen des Ostens. Auf der Ebene esoterischer oder geistiger Annäherung an die Gottheit hat es schon immer eine gewisse Einheitlichkeit gegeben. Die vom mystischen Gottsucher im Westen befolgte Technik ist genau die gleiche, wie sie auch der Sucher im Orient verwendet. An einem bestimmten Punkt laufen alle Wege der Rückkehr zu Gott zusammen, und von da an folgen alle weiteren Stadien der Annäherung den gleichen Regeln. Die Meditationsstufen sind identisch. Das leuchtet jedem ein, der die Werke des Meisters Eckehart und die Yoga Sutras des Patanjali studiert. Ebenso gleichen alle die grossen, in der Hinduphilosophie beschriebenen Bewusstseinserweiterungen in ihrer Wesensäusserung den fünf grossen Erweiterungen, wie sie im Neuen Testament in den fünf grossen Krisen im Leben Christi beschrieben werden. Wenn der Mensch bewusst nach Gott sucht und mit Disziplin und Ausdauer bewusst an sich zu arbeiten beginnt, dann weiss er sich eins mit den Suchern im Osten und im Westen, und ebenso mit denen, die schon vor Christi Geburt suchten und denen, die es erst heute tun.

In dem Bestreben, die Beziehung zwischen Ost und West klarzulegen, schrieb ich das Buch «Der Yoga-Pfad». Es ist ein Kommentar zu den «Yoga Sutras» des Patanjali, der wahrscheinlich 9000 Jahre vor Christus lebte und lehrte. Der Tibeter lieferte mir die Umschreibungen für die uralten Sanskritworte, da ich die Sprache nicht kenne; aber den Kommentar habe ich selbst in der Absicht geschrieben, die Sutras in einer Weise auszulegen, die für das westliche Denkvermögen und Bewusstsein geeigneter war, als die üblichen östlichen Kommentare. Ich schrieb ausserdem das Buch «Von Bethlehem nach Golgatha», um die fünf Hauptepisoden im Leben Christi - die Geburt, Taufe, Verklärung, Kreuzigung und Auferstehung und deren Verhältnis zu den fünf Einweihungen zu beschreiben, die dem östlichen Jünger als Ziel angedeutet werden. Beide Bücher stehen in einem bestimmten Zusammenhang mit der neuen Weltreligion.

Es muss einmal zu einer Verschmelzung kommen zwischen dem Werk des grossen Meisters des Orients, Buddhas, der auf Erden kam und Erleuchtung erlangte und damit zum Führer und Lehrer von Millionen östlicher Menschen wurde, und dem Werk Christi, der als Lehrer und Erlöser erschien und erstmalig im Westen als solcher anerkannt wurde. Es besteht keinerlei Abweichung oder Widerspruch in ihren Lehren. Sie machen sich keinerlei Konkurrenz. Sie ragen hervor als die zwei grössten Weltlehrer und Erlöser. Der eine hat den Orient und der andere den Okzident näher zu Gott geführt.

Auf dieses Thema geht der Tibeter in seiner Flugschrift «Die Neue Weltreligion» näher ein. Er weist darauf hin, dass das Werk des Buddha die Menschen für den Pfad der Jüngerschaft, und das Werk Christi sie auf die Einweihung vorbereitet. Er deutete in dieser Flugschrift auf ein Ritual hin, nach welchem der grosse Tag Buddhas, das Wesakfest (oder Vaisakhafest zur Zeit des Maivollmondes) dem erleuchteten Buddha, und der vom April-Vollmond bestimmte Ostersonntag dem auferstandenen Christus gewidmet sind, während der Junivollmond das Fest der Menschheit sein sollte, die dabei unter Leitung Christi ihre grosse, alljährliche Annäherung an Gott vollzieht. Die anderen Vollmondtage in jedem Monat bedeuten geringere Feste, in denen gewisse geistige Qualitäten in Betracht gezogen und betont werden, die für die Bezeugung von Jüngerschaft und Einweihung notwendig sind.

Eine weitere, umwälzende Tätigkeit, auf die der Tibeter die Menschheit aufmerksam machte, bezieht sich auf die gegenwärtig von der Hierarchie unternommenen Schritte, um der Menschheit näherzukommen, die alten Mysterien wiederherzustellen und den Meistern und ihren in sogenannten Ashramen zusammengefassten Jüngergruppen die Manifestation auf der physischen Ebene zu ermöglichen.

Aus all diesem Bemühen erhellt sich demnach die Bedeutung des zweiten Erscheinens Christi. Er wird kommen und seine Jünger mit sich bringen. Die Meister werden eines Tages wieder einmal auf Erden zugegen sein, wie sie es vor Millionen von Jahren in den Kindertagen der Menschheit waren. Darauf verliessen sie uns eine zeitlang und verschwanden hinter dem Schleier, der das Sichtbare vom Unsichtbaren trennt. Sie taten das, um dem Menschen Zeit zu geben, sich zu einem Erwachsenen zu entwickeln, der selbständig denkt, eigene Entscheidungen trifft, sich endgültig zum Reich Gottes hinwendet und bewusst den Pfad der Rückkehr anzutreten sucht. Das ist in so grossem Umfang eingetreten, dass es jetzt möglich erscheint, dass die Meister im Lauf des nächsten Jahrhunderts aus ihrem Schweigen heraustreten und sich den Menschen wieder zu erkennen geben werden. Auf dieses Ziel hat der Tibeter hingearbeitet, und viele von uns haben ihn dabei unterstützt.

Er führte ausserdem die neuen Regeln für Jünger ein, die dem einzelnen weit grössere Freiheit gewähren, als das bei den in der Vergangenheit so wohlbekannten Vorschriften der Fall war. Kein Gehorsam wird heute mehr verlangt. Man betrachtet den Jünger als intelligentes Werkzeug und überlässt es ihm, den Anforderungen nach eigenem Ermessen gerecht zu werden. Es wird keine Schweigepflicht auferlegt, weil kein Jünger in einen Ashram oder eine Einweihungsstätte zugelassen wird, solange die geringste Gefahr besteht, dass er darüber sprechen könnte. Jünger werden heute telepathisch unterwiesen, und die physische Gegenwart eines Meisters ist nicht länger vonnöten. Die vormalige, persönliche Entwicklung wird nicht mehr betont. Dagegen wird die Not der Menschheit als Hauptansporn zu geistiger Entwicklung hingestellt. Die Jünger werden heute dazu ausgebildet, als Gruppen zusammenzuarbeiten, und dabei hält man ihnen die Möglichkeit von Gruppeneinweihungen - einer ganz neuen Idee und Vision - vor Augen. Die physischen Disziplinen sind nicht mehr obligatorisch. Man ist der Ansicht, dass der moderne, intelligente, liebevolle und dienende Jünger sie nicht mehr nötig hat, da er seinen physischen Gelüsten entwachsen und jetzt zum Dienen bereit sein sollte. Die meisten Grundsätze dieser Lehre enthält das eben veröffentlichte Buch «Jüngerschaft im Neuen Zeitalter», welches Unterweisungen vermittelt, die der Tibeter einer Gruppe von seinen Jüngern erteilt hat, von denen ich einige kannte und andere nicht. Unseres Wissens ist dies das erste Mal in der Geschichte der Hierarchie, dass eingehende, von einem Meister an seine Jüngergruppe ausgegebene Belehrungen veröffentlicht und damit der Allgemeinheit zugänglich gemacht wurden.