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3. Buch - Die erreichte Vereinigung und ihre Resultate - Teil 6

48. Als Ergebnis dieser Vollkommenheit wird das Handeln so schnell wie das Denken, die Wahrnehmung erfolgt unabhängig von den Organen, und die Ursubstanz wird beherrscht.

Wir haben die vielen Ergebnisse und Wirkungen betrachtet, die sich [353] einstellen, wenn die Meditation bis zur Vollkommenheit gekommen ist; wir nähern uns nun einem Höhepunkt. Der Seher hat die vollendete Gleichschaltung oder Harmonie erreicht. Sein dreifaches persönliches Selbst ist geläutert, ausgeglichen und unterworfen. Ein jeder der drei Körper schwingt in Übereinstimmung mit der Note des Egos oder höheren Selbstes, das seinerseits im Begriff ist, mit der Monade oder dem göttlichen Selbst, dem Geist auf seiner eigenen Ebene, in Übereinstimmung zu kommen. Der grosse «Sohn des Denkprinzips», der Denker in den höheren Bereichen der Mentalebene, ist nun der dominierende Faktor; und das Ergebnis dieser Vorherrschaft ist ein dreifaches, das sich auf allen drei Ebenen auswirkt, jedoch auf der einen oder anderen ganz besonders. Diese Ergebnisse sind:

1. Das Handeln ist so schnell wie das Denken. Der Ausdruck «schnell wie ein Gedanke» wird oft gebraucht, um damit die Geschwindigkeit höchsten Grades zu bezeichnen. Der Yogi handelt auf der physischen Ebene so übereinstimmend mit seinem Denken, er trifft seine Entscheidungen so unmittelbar, und er erreicht seine Ziele so schnell, dass sein Leben auf der physischen Ebene durch eine äusserst rege Tätigkeit und durch erstaunliche Erfolge gekennzeichnet ist. Wenn wir vom Schöpfer sagen: «Gott dachte, machte sich ein gedankliches Bild, sprach und die Welten entstanden», so gilt das (freilich nur bis zu einem gewissen Grad) auch für den Yogi.

2. Die Wahrnehmung wird unabhängig von den Sinnesorganen. Um ein bestimmtes Wissen zu erlangen ist der Adept weder auf die Sinnesorgane noch auf den sechsten Sinn, das Denkvermögen, angewiesen.

Er hat die Intuition zu einem brauchbaren Instrument entwickelt und ist mit Fug und Recht befähigt, jedes Wissen direkt zu erlangen, unabhängig von Urteilsfähigkeit und vernunftgemässem Denken. Er braucht das Denken nicht mehr, um die Wirklichkeit zu [354] begreifen, er benötigt die Sinne nicht mehr als Kontaktmittel. Er gebraucht sie alle sechs, aber in einer anderen Weise. Das Denkvermögen wird dazu benutzt, um die Wünsche, Pläne und Absichten des einen Meisters, des Christus im Innern, an das Gehirn zu übermitteln. Die fünf Sinne leiten verschiedene Energiearten zu den erstrebten Zielen hin. Hier öffnet sich dem interessierten Forscher ein weites Studiengebiet. Das Auge ist einer der wirksamsten Energie- «Sender», und es war das Wissen um diese Tatsache, das in alten Zeiten den Glauben an den bösen Blick entstehen liess. In bezug auf Sehen gibt es noch viel zu entdecken, denn dieses Studium betrifft nicht nur physisches Sehen, sondern auch die Entwicklung des dritten Auges, Hellsehen, geistiges Erschauen und weiter bis zu jenem unfassbaren Mysterium, das mit den Worten «All-sehendes Auge» und das «Auge Shivas» bezeichnet wird.

Die Hände sind mächtige Faktoren bei allem magischen Heilen, und die Nutzanwendung des Tastsinns ist eine esoterische Wissenschaft. Die Verfeinerung des Gehörsinns und seine Nutzbarmachung, um die Stimme der Stille oder die Sphärenmusik zu hören, ist ein wichtiger und tiefgründiger Teil der okkulten Lehre. Jene Adepten, die sich auf die Wissenschaft des Sehens und Hörens spezialisiert haben, gehören zu den gelehrtesten und fortgeschrittensten Mitgliedern der Hierarchie.

Die anderen Sinne können ebenfalls zur vollkommenen Entfaltung gebracht werden, aber das gehört zu den Mysterien der Einweihung, und [355] darum kann hier nicht mehr darüber gesagt werden. Die drei Sinne des Hörens, Fühlens und Sehens sind die drei Merkmale der drei menschlichen Rassen und der drei Ebenen in den drei Welten.

                                            Rasse

1. Gehörsinn                     lemurische                  physische Ebene            Ohr                           Reagieren auf Ton. 

2. Tastsinn                         atlantische                  Astralebene                     Haut                          Reagieren auf Berührung oder Schwingung

3. Gesichtssinn                  arische                         Mentalkörper                  Auge                          Reagieren auf geistiges Erschauen.

Dieser dritte Sinn betrifft hauptsächlich unsere Rasse, und darum sagte der Prophet: «Wo die geistige Schau fehlt, muss das Volk verderben». Die Entwicklung des Sehens und das Erlangen geistiger Einsicht ist das grosse Ziel unserer Rasse und das Ziel aller Raja-Yoga-Arbeit. Dieses Sehen kann vom Mystiker «Erleuchtung», und vom Okkultisten «reines Schauen» genannt werden, es ist aber im Grund das gleiche.

Die beiden anderen Sinne sind bis jetzt noch verborgen; ihre wahre Bedeutung wird erst in der sechsten und siebten Rasse, die der unseren folgen, erkannt werden. Diese Sinne haben Beziehung zur buddhischen Ebene, der Ebene der Intuition, und zur atmischen oder geistigen Ebene.

3. Die Ursubstanz wird beherrscht. Diese Ursubstanz ist das Pradhana und wird auch der Ursprung von Allem und Urmaterie genannt. Rama Prasad sagt in seiner Erklärung: «Herrschaft über Pradhana bedeutet Macht über alle Modifikationen der Materie. Diese [356] drei Errungenschaften ... werden erreicht durch Überwinden des körperlichen Aspekts der fünf Sinneswerkzeuge».

Es ist interessant, dass diese drei Errungenschaften folgendes beweisen:

a. Die Unfähigkeit von Materie und Form, den Yogi zu fesseln.

b. Die Machtlosigkeit der Substanz, den Yogi an der gewünschten Erkenntnis irgendeines Aspekts der Manifestation zu hindern.

c. Die Hilflosigkeit der Materie, dem Willen des Yogi zu widerstehen.

Diese drei Faktoren erklären, wieso der Adept imstande ist, etwas nach Belieben zu erschaffen. Sein Freisein von den Begrenzungen durch Materie bildet die Grundlage aller weissen Magie.

Zum Schluss könnte man noch bemerken, dass diese Fähigkeit an sich relativ ist, denn der Adept ist von den Begrenzungen in den drei Welten menschlichen Bemühens befreit. Der Meister hat völlige Aktionsfreiheit in den drei Welten und auch im buddhischen Bereich; Christus hingegen und die Erleuchteten mit gleicher Einweihung haben diese Freiheit in den fünf Welten menschlicher Entwicklung.

49. Der Mensch, der den Unterschied zwischen Seele und Geist erkannt hat, wird Herr über alle Seins-Zustände und wird allwissend.

Der Zustand eines solchen Menschen wurde von Charles Johnston in seinem Kommentar zu diesem Lehrspruch sehr gut beschrieben; die Schönheit seiner Gedanken ist aus folgenden Worten zu ersehen: «Der geistige [357] Mensch ist im Netzwerk seiner Gefühle, in Begierde, Furcht, Ehrgeiz, Leidenschaften verstrickt; und er ist durch die mentalen Formen des Abgesondertseins und des Materialismus behindert. Wenn dieses Gewebe zerrissen ist und wenn alle diese Hindernisse überwunden sind, dann steht der geistige Mensch in seiner eigenen Welt, stark, mächtig und weise. Ausgestattet mit geistiger Einsicht und Energie bedient er sich göttlicher Kräfte und arbeitet zusammen mit göttlichen Gefährten. Zu einem solchen Menschen wird gesagt: «Du bist nun ein Jünger, fähig, auf eigenen Füssen zu stehen, fähig zu hören, zu sehen und zu sprechen. Du hast das Verlangen überwunden und Selbsterkenntnis erlangt; du hast die Vollendung deiner Seele gesehen, du hast sie als solche erkannt und du hast die Stimme der Stille gehört».

Die wunderbare Synthese der Lehre ist nirgendwo klarer zu erkennen als in diesem Lehrspruch, denn der hier erreichte Punkt ist von einer höheren Rangordnung als der in Buch II, Lehrspruch 45, genannte; er ist eine Zwischenstufe zwischen jenem und dem in Buch IV, Lehrspruch 33 und 34 erwähnten Zustand.

In Buch I, Lehrspruch 4, finden wir den wahren Menschen verwickelt in die Maschen der psychischen Natur, das Licht in ihm ist verhüllt und unsichtbar. Dadurch, dass er zu unterscheiden lernt zwischen dem wahren Selbst und dem niederen persönlichen Selbst, befreit er sich; das Licht in ihm wird sichtbar und er wird frei. Wenn er die Befreiung erlangt, die seelischen Kräfte entfaltet und gemeistert hat, öffnet sich vor ihm ein noch umfassenderes und grösseres Erleben und Erkennen. Er fängt an, seinen Bewusstseinsbereich vom planetarischen bis zum solaren auszudehnen, und Gruppenbewusstsein kann zu göttlichem Bewusstsein entfaltet werden. Der [358] erste Schritt dazu ist in diesem Lehrspruch angegeben, mehr erfahren wir darüber im letzten Buch. Die Regeln für diese Bewusstseinserweiterung werden nicht angegeben, da sie die Entwicklung eines Meisters und die Entfaltung des Christus zu jenem höheren Seins-Zustand betreffen, der für ihn möglich ist. Aber das vierte Buch behandelt kurz die vorbereitenden Stadien und deutet weitere Möglichkeiten an. Hier wird das Grunderfordernis angedeutet, das Vermögen, den Unterschied zwischen der Seele (dem Christus im Innern) und dem Geist- oder Vater-Aspekt zu erkennen. Einsichtsvolles Handeln, das auf dem Fundament der Liebe beruht, ist überzeugend bewiesen worden; nun kann der Geist- oder Willens-Aspekt ohne Gefahr entwickelt und die Macht in die Hände Christi übergeben werden.

Drei Ausdrücke können auf diesen Entfaltungsprozess Licht werfen:

Die erste grosse Bewusstheit, die der Aspirant erreichen muss, ist die Allgegenwart; er muss seine Verbundenheit mit allem, und das Einssein seiner Seele mit allen anderen Seelen erkennen; er muss Gott in seinem Herzen und in jeder Form des Lebens finden. Als Eingeweihter kommt er dann zur Allwissenheit, die Hallen der Belehrung und der Weisheit übergeben ihm ihre Geheimnisse. Er wird ein Christus, ein Wissender um alle Dinge, der erkannt hat, was im Herzen des Vaters und in den Herzen aller Menschen ist. Schliesslich kann er Allmacht erreichen; dann werden dem Menschensohn die Schlüssel des Himmels übergeben, und er wird alle Macht besitzen.

50. Durch eine [359] gleichmütige Geisteshaltung gegenüber diesen Errungenschaften und gegenüber allen seelischen Kräften und Fähigkeiten erreicht der Mensch, der frei ist von der Saat der Unfreiheit, den Zustand des losgelösten Eins-Seins.

Das losgelöste Eins-Sein, das hier gemeint ist, ist die völlige Loslösung von allen Aspekten der Form, und das Einswerden mit dem geistigen Sein. Es ist die Abwendung vom materiellen Bewusstsein und ein Leben im geistigen Bewusstsein. Es ist Harmonie mit dem Geist, und Disharmonie mit der Materie. Es ist die Identifizierung mit dem Vater im Himmel und das rechte Verstehen des Ausspruchs des Meisters aller Meister: «Ich und der Vater sind eins».

Nachdem der wahre Yogi ein richtiges Gefühl für Werte gewonnen und erkannt hat, dass die entwickelten Kräfte und die errungenen Erkenntnisse die «Saat der Unfreiheit» in sich bergen, befasst er sich nicht mehr mit ihnen. Sobald er es will oder für eine bestimmte Dienstleistung braucht, nimmt er das, was dafür notwendig ist, wahr und wendet die okkulten Kräfte an; aber er selbst bleibt losgelöst und dadurch frei von allen karmischen Bindungen.

51. Die Verlockungen aller Daseinsformen, auch der himmlischen, müssen abgewiesen werden, denn dadurch können wieder Bindungen entstehen, die vom Übel sind.

Die Übersetzung von Rama Prasad ist aufschlussreich und soll deshalb hier angeführt werden. Sie lautet wie folgt:

«Wenn herrschende Gottheiten ihre Anziehungskraft ausüben, sollte [360] man losgelöst bleiben und nicht befriedigt darüber sein, denn dadurch könnte es wieder zu einem Kontakt mit dem Unerwünschten kommen».

Dvidedis Deutung gibt noch einen anderen Blickpunkt:

«Es darf weder Freude noch Stolz aufkommen, wenn die Kräfte der verschiedenen Ebenen uns ihre Aufmerksamkeit zuwenden, denn es besteht die Möglichkeit, dass wir in das alte Übel zurückfallen».

Der Yogi oder Jünger hat sein Ziel erreicht. Er hat sich durch Leidenschaftslosigkeit und Unterscheidungskraft aus den Fesseln der Form befreit. Aber er muss auf der Hut sein, denn «wer meint, dass er stehe, mag wohl zusehen, dass er nicht falle». Das Leben der Formen lockt immer, und die Versuchungen der grossen Illusion sind ständig da. Die befreite Seele muss ihre Augen wegwenden von den Lockmitteln der «herrschenden Gottheiten» (den Kräften, die in den drei Welten die Gesamtsumme des Lebens darstellen) und sie auf jene mehr geistigen Aspekte richten, die das Leben Gottes sind.

Sogar das Reich der Seele selbst und die sogenannte «Stimme der Götter» tragen latent die Keime der Bindung in sich. Darum lässt der Gottessohn, der Christus in Manifestation, alles hinter sich, was er gewonnen hat; er denkt nicht an die Vollkommenheiten, die er erreicht hat, und an die Kräfte, die er entfaltet hat, sondern drängt vorwärts, einem höheren Ziel entgegen. An jedem Abschnitt des Weges hört er von neuem die Aufforderung: «Vergiss, was hinter dir liegt, und strebe weiter nach dem, was vor dir liegt». (Philipper III); und jede neue Einweihung ist nur der Beginn eines neuen Abschnitts des Bemühens.

Erklärer [361] dieses Lehrspruchs weisen darauf hin, dass es vier Klassen von Jüngern gibt. Es sind:

1. Diejenigen, deren Licht gerade zu scheinen beginnt; sie werden «Observanten der Regeln» genannt. Es sind jene Probejünger oder Aspiranten, die soeben den Pfad betreten.

2. Diejenigen, deren Intuition sich entfaltet, und bei denen sich eine entsprechende Entwicklung der psychischen Kräfte zeigt. Dieses Stadium birgt grosse Gefahren in sich, da die Macht, die solchen Jüngern durch den Besitz der psychischen Kräfte gegeben ist, sie verblenden kann. Sie könnten sich zu der Annahme verleiten lassen, dass psychische Macht ein Zeichen geistigen Wachstums ist. Das ist nicht der Fall.

3. Jene Jünger, die alle Sinnesreize überwunden haben und die sich durch den Formaspekt in den drei Welten nicht mehr täuschen lassen. Sie haben die Sinne gemeistert und über die Formnatur gesiegt.

4. Diejenigen, die über all das Gesagte hinausgelangt sind und fest im wahren geistigen Bewusstsein stehen. Das sind die Erleuchteten die durch die sieben Stadien der Erleuchtung hindurchgegangen sind. Siehe Buch II, Lehrspruch 27.

Wenn der Leser hier den Lehrspruch 26 des dritten Buches und die Erläuterung dazu studiert, wird er eine Vorstellung bekommen von der Wesensart dieser Form-Welten und ihren herrschenden Gottheiten, deren Stimmen den Aspiranten vom rechten Weg hinwegzulocken trachten in das Reich der Illusion. Der Leser sollte auch die vier Klassen der dort angeführten Geistwesen mit diesen vier [362] Arten von Jüngern vergleichen. Alles, was es in den drei Welten gibt, ist eine Widerspiegelung dessen, was in den himmlischen Bereichen zu finden ist; und wer den berühmten Aphorismus des Hermes «Wie oben, so unten» richtig versteht, kann dadurch viel gewinnen. Diese Widerspiegelung ist das, was das Übel ausmacht; dieser umgekehrte Aspekt der Wirklichkeit bildet die grosse Illusion, und damit haben die Gottessöhne nichts zu tun. Es ist für sie nur dann ein Übel, wenn sie sich damit befassen - sonst nicht. Die Lebensformen in diesen Welten, und die Leben, die diese Formen beseelen, sind an sich gut und recht, und sie verfolgen ihren eigenen Weg der Entwicklung; aber ihr nächstliegendes Ziel und ihr Bewusstseinszustand stimmen nicht überein mit Ziel und Bewusstseinszustand des sich entwickelnden Jüngers, und darum darf er sich nicht damit befassen.

52. Intuitives Erkennen wird entwickelt durch Unterscheidungskraft und konzentriertes Meditieren über die winzigen Zeitspannen eines Augenblicks und deren kontinuierliche Aufeinanderfolge.

Es ist gesagt worden, dass ein vollkommenes Verstehen des Gesetzes der Zyklen den Menschen zu einem hohen Grad der Einweihung führen kann. Dieses Gesetz der Periodizität liegt allen Prozessen in der Natur zugrunde, und das Studium dieses Gesetzes würde den Menschen aus der Welt der objektiven Wirkungen in die Welt der subjektiven Ursachen führen. Es ist ferner gesagt worden, dass die Zeit selbst nur eine Aufeinanderfolge von Bewusstseinszuständen ist, und das gilt für ein Atom, einen Menschen und für Gott. Auf dieser Wahrheit sind die grossen Systeme der Mental-Wissenschaft und der Christlichen Wissenschaft im Abendland, und viele orientalische Philosophien aufgebaut. Dieser Lehrspruch [363] gibt uns den Schlüssel zur Beziehung zwischen Materie und Denkkraft, oder zwischen Substanz und der ihr innewohnenden Seele; und das kann einem klar werden, wenn man über die folgenden Worte eines Hindu-Kommentators nachdenkt:

«So wie das Atom eine Substanz ist, in der winzige Kleinheit ihre Grenze erreicht, so ist auch ein Augenblick eine winzige, begrenzte Zeitspanne. Oder: Ein Augenblick ist soviel Zeit, wie ein Atom braucht, um seinen Standort im Raum zu verlassen und den nächsten Punkt zu erreichen. Die Aufeinanderfolge von Augenblicken ist darum das Nicht-Aufhören des Zeitstroms».

Wenn wir begreifen können, dass ein Atom und ein Moment ein und dasselbe sind, und dass dahinter der Erkennende oder Wahrnehmende von beiden steht, dann haben wir den Schlüssel zu allen Bewusstseinszuständen und zum Wesen der Energie. Dann würden wir auch die Wirklichkeit des Ewigen Jetzt begreifen und die Bedeutung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft richtig einschätzen. Das, so wird uns hier gesagt, können wir erreichen durch konzentriertes Meditieren über die Zeit und ihre Einheiten.

Es könnte hier noch erwähnt werden, dass die verschiedenen Arten der Konzentration, die in diesem dritten Buch behandelt werden, sich nicht für alle Arten von Aspiranten eignen. Es gibt unter den Menschen sieben Haupttypen mit unterschiedlichen Merkmalen und Naturen, die auf Grund bestimmter Eigenschaften die Anlage oder Neigung haben, den «Rückweg zu Gott» in der ihnen eigenen Weise zu gehen. Gewisse Typen, die eine Neigung zur Mathematik und göttlichen Geometrie (mit Zeit- und Raumbegriffen) haben, und die ihre intuitive Erkenntnis entwickeln möchten, sollten nach der in diesem Lehrspruch angegebenen Methode vorgehen; [364] andere werden sie zu schwierig finden und werden sich klugerweise anderen Arten des konzentrierten Meditierens zuwenden.

53. Aus diesem intuitiven Wissen erwächst die Fähigkeit, alle Wesen zu unterscheiden und ihre Gattung, ihre Qualitäten und ihren Platz im Raum zu erkennen.

Der Sinn dieses Lehrspruchs ist in der folgenden freien Umschreibung leichter zu verstehen:

«Durch die Entfaltung der Intuition entsteht ein exaktes Wissen um den Ursprung des manifestierten Lebens, um dessen Merkmale oder Qualitäten und dessen Position innerhalb des Ganzen».

Aus den Yoga-Lehrsprüchen geht klar hervor, dass die göttlichen Dreiheiten überall zu finden sind, und dass jede von einem Leben beseelte Form (und es gibt nichts anderes in der Manifestation) anzusehen ist als:

1. Leben. Das Leben Gottes kommt aus seiner Quelle in sieben Strömen, Emanationen oder «Ausatmungen», und jede Form in der objektiven Welt ist der Ausdruck eines Lebens, das mit einem dieser Ströme ausgesendet wurde. Die entwickelte Intuition ermöglicht es dem Sehenden, die Art des Lebensatoms zu erkennen. Das wird durch das Wort «Gattung» angedeutet. Der moderne Okkultist würde das Wort «Strahl» vorziehen; der Christ würde «Pneuma» oder Geist sagen, aber der Begriff ist der gleiche.

2. Bewusstsein oder Seele. Alle diese Formen des göttlichen Lebens sind bewusst, wenn auch nicht alle Bewusstseinszustände gleich sind; sie variieren vom Leben des materiellen Atoms, so begrenzt [365] und bedingt es auch sein mag, bis zum Leben des Sonnenlogos. Die Art und Weise, wie die Formen auf ihre Umgebung bewusst reagieren, äusserlich und unsichtbar, bringt die verschiedenartigen Merkmale und auch die Unterschiede hervor, die durch:

a. den Strahl,

b. die Manifestationsebene,

c. die Schwingungsrate,

d. die Entwicklungsstufe

verursacht werden; und diese Merkmale bilden die Qualität) auf die in diesem Lehrspruch hingewiesen wird. Das ist der subjektive Aspekt im Gegensatz zum objektiven und essentiellen Aspekt.

3. Form oder Körperlichkeit. Das ist der exoterische Aspekt, das, was aus dem subjektiven Aspekt als sichtbares Ergebnis des geistigen Dranges hervorgeht. Die Position im Raum ist jener Teil des Körpers des himmlischen Menschen, in welchem ein jedes Atom oder eine jede Form ihren Platz hat. Hier sollte man daran denken, dass für den Studierenden des Okkultismus der «Raum eine Wesenheit ist» (Geheimlehre I, 583); und diese Wesenheit ist identisch mit dem kosmischen Christus, dem «Körper Christi», auf den Paulus im ersten Brief an die Korinther, Kapitel XII, hinweist.

In diesem Lehrspruch wird also klar gemacht, dass der befreite Yogi, der die Intuition entwickelt hat, alles über alle Formen des Lebens wissen kann. Dazu gehört das Wissen um:

1. Gattung.                          2. Qualität.                                        3. Position im Raum.

Strahl                                   Charakter                                           Standort im Körper des Himmlischen Menschen.

Geist                                     Seele                                                   Körper. 

Lebensaspekt                     Bewusstsein                                       Form.

Essenz                                  Subjektive Natur                               Objektive Form.

Auf einen [366] solchen Wissenden treffen die Worte des Lehrers zu, die in den Archiven der Meister zu finden sind:

«Er, der den Funken sieht, kann auch die Flamme und den Rauch erkennen.

Zwar verbirgt der Schatten das Spiegelbild, dennoch kann er das Licht sehen.

Für ihn ist das Greifbare der Beweis des Ungreifbaren, und beide offenbaren ihm den Geist, während Form, Farbe und Schwingung das Wort Gottes laut verkünden».

54. Dieses intuitive Wissen, der grosse Befreier, ist allgegenwärtig und allwissend und umschliesst Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft im ewigen Jetzt.

Auch dem oberflächlichen Leser ist die Bedeutung dieses Lehrspruchs klar, nur der Ausdruck Ewiges Jetzt kann erst dann verstanden werden, wenn das Seelen-Bewusstsein entwickelt ist. Es hat wenig Wert, dem durchschnittlichen Studierenden zu sagen, dass «Zeit» eine Aufeinanderfolge von Bewusstseinszuständen sei, dass es eine Zeit gibt, wenn die Erscheinungswelt versinkt und ein Zukunftsbild erschaut wird, das alle unsere Hoffnungen und Erwartungen in einem Augenblick der Erfüllung vorwegnimmt, und dass dieser Zustand für immer bestehen bleibt; und auf einen Bewusstseinszustand hinzuweisen, in dem es keine Folge von Ereignissen und keine Aufeinanderfolge von Erkenntnissen gibt, hiesse in einer Geheimsprache sprechen. Aber es ist so und wird so sein. Wenn der Aspirant sein Ziel erreicht hat, kennt er die wahre Bedeutung seiner Unsterblichkeit und die wahre Art seiner Befreiung. Raum und Zeit [367] werden für ihn bedeutungslose Worte. Der Aspirant erkennt und versteht, dass einzig die wahre Wirklichkeit die grosse zentrale Lebenskraft ist, die unverändert im Mittelpunkt der sich wandelnden, vergehenden, zeitlichen Formen bestehen bleibt.

«Ich bin», sagt die menschliche Einheit und betrachtet sich als das Selbst und identifiziert sich mit der sich wandelnden Form. Zeit und Raum sind für den Menschen die wahren Wirklichkeiten. «Ich bin Das», sagt der Aspirant, und versucht, sich so zu erkennen, wie er wirklich ist, als lebendiges Wort, als Teil eines kosmischen Satzes. Für ihn existiert der Raum nicht mehr; er weiss sich allgegenwärtig. «Ich bin Das ich bin», sagt die befreite Seele, der freigewordene Mensch, der Christus. Weder Zeit noch Raum existieren für ihn, und Allwissen und Allgegenwart sind die Qualitäten, die ihn auszeichnen.

In seinem Kommentar zu diesem Lehrspruch zitiert Charles Johnston den Heiligen Kolumban und sagt:

«Es gibt Menschen, doch es sind sehr wenige, denen durch göttliche Gnade gewährt wurde, klar und ganz deutlich in einem einzigen Augenblick wie im Strahl der Sonne, den ganzen Umkreis der Welt mit Meer und Himmel zu sehen, wobei ihr Bewusstsein auf wundersame Weise erweitert ist».

Auch der kurze Kommentar von Dvidedi soll hier angeführt werden, da der erreichte Bewusstseinszustand treffend zusammengefasst ist:

«Im 33. Lehrspruch dieses (3.) Buches wurde bereits die Art des Taroka-jnana beschrieben - des Wissens, das von den Bindungen der Welt freimacht. Das unterscheidende Wissen, das hier beschrieben wird, führt zu Taraka, dem Wissen, das Zweck und Ziel des Yoga [368] ist. Es bezieht sich auf alle Objekte, angefangen von Pradhana (Geist-Materie A.B.) bis zu den Bhutas (Elemente, Formen. A.B.) und auch auf alle Zustände dieser Objekte. Ausserdem bringt es ein gleichzeitiges Wissen um alle Dinge hervor und ist ganz unabhängig von den gewöhnlichen Gesetzen der Erkenntnis. Daher ist es das höchste Wissen, das vom Yogi ersehnt werden kann; und es ist ein sicheres Anzeichen für Kaivalya (Zustand des absoluten Eins-Seins A.B.), der im folgenden Lehrspruch als Ergebnis dieses Wissens beschrieben wird».

55. Wenn die objektiven Formen und die Seele gleich rein geworden sind, ist die Einswerdung erreicht, welche die Befreiung zur Folge hat.

Das, was das Licht der Seele verhüllt, ist gereinigt worden, so dass das Licht Gottes hindurchscheinen kann. Das, was die volle Manifestation des Göttlichen in der Erscheinungswelt behindert hat, ist so behandelt worden, dass es nun ein angemessenes Werkzeug der Wesensäusserung und des Dienens ist. Die Seele kann nun frei und einsichtsvoll in den drei Welten wirken, weil die völlige Einheit zwischen dem niederen und dem höheren Menschen erreicht ist.

Die Seele und ihr Träger bilden eine Einheit; es besteht eine volle Übereinstimmung der Körper, und der Sohn Gottes kann frei auf Erden wirken. So ist das grosse Ziel erreicht; die Seele, welche die acht Yoga-Mittel befolgt hat, kann sich durch den niederen dreifachen Menschen kundtun, und sie kann ihrerseits ein Ausdrucksmittel des [369] Geistes sein. Die Materie ist in einen Zustand versetzt worden, in dem ihre Schwingung mit derjenigen der Seele übereinstimmen kann; und die Folge davon ist, dass - zum ersten Mal - der Geist sich zum Ausdruck bringen kann, denn «Materie ist der Träger für die Manifestation der Seele auf dieser Daseins-Ebene, und die Seele ist der Träger für die Manifestation des Geistes auf einer höheren Runde der Spirale. Diese drei bilden eine Trinität, die verbunden ist durch das Leben, das sie alle durchdringt». Für den Menschen, der das erreicht hat, gibt es keine Wiedergeburt mehr. Er ist frei und kann mit vollem Wissen um die Bedeutung der Worte sagen:

«Mein Leben (das niedere physische Leben) ist verborgen mit Christo (dem Leben der Seele) in Gott (dem Geist). Kolosser III, 3.)