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Siebtes Kapitel - Unser unmittelbares Ziel….. Die Gründung des Reichs - Teil 1

Siebtes Kapitel

Unser unmittelbares Ziel….. Die Gründung des Reichs

Leitgedanke:

«Einmal kommt die Zeit im Leben, da zwischen zwei psychologisch unvereinbaren Gottheiten die Wahl getroffen werden muss. Auf der einen Seite der Friede des Einsiedlers, die Stille des Waldes, das Hochgefühl des Opfers, die Macht der Vereinfachung und der Einheit, die Freude der Selbst-Hingabe, der Frieden absoluter Kontemplation, die Vision von Gott. Auf der anderen Seite die Mannigfaltigkeit und Beanspruchung des Lebens, das Behagen an gewöhnlichen Zielen, die Beherrschung von Geldmitteln, der Ruhm zahlloser Unternehmungen, der Stolz des Schöpferischseins und Selbstbesessenheit. Die moderne Welt hat insgesamt ihre Wahl getroffen. Aber es gibt eine bessere Wahl, nämlich die Wahl von beiden. Denn das Leben eines jeden ist, dass es sich von Zeit zu Zeit verliert im Leben des anderen. Dies, was im einzelnen einleuchtend ist, ist wahr, und sogar meistens wahr, im ganzen».

(Die Bedeutung Gottes in der menschlichen Erfahrung, engl., von W. E. Hocking, S. 427)

Siebentes Kapitel

Unser unmittelbares Ziel..... Die Gründung des Reichs

1
Wir sind Christus [257] von Bethlehem nach Golgatha und durch die Auferstehung bis zu dem Augenblick gefolgt, da er aus der berührbaren irdischen Sicht entschwand und eintrat in die Welt subjektiver Werte, um darin zu wirken als der «Meister aller Meister und der Lehrer der Engel und Menschen». Wir betrachteten das Thema der fünf Krisen in seinem Leben weit mehr vom Gesichtspunkt ihrer Weltbedeutung als von ihrer Bedeutung für uns als Einzelne. Wir haben gesehen, dass es eine Auflehnung gegeben hat (und das ist recht so) gegen den von manchen Theologen der Vergangenheit auf das Blutopfer Christi gelegten Nachdruck, und wir sind zu dem Schluss gekommen, dass für die heutige Welt die Anerkennung des auferstandenen Erlösers nötig ist. Wir haben die Tatsache der Einzigartigkeit seiner Mission vermerkt, die darin bestand, dass er kam, «als die Zeit erfüllet war», das Reich Gottes zu gründen und auf Erden ein anderes Naturreich ins Dasein zu bringen, somit die Grenzlinie zu ziehen zwischen dem, was objektiv und illusorisch und dem, was subjektiv und wirklich ist. Sein Kommen bezeichnete die Demarkationslinie zwischen der Welt der Formen oder Symbole und jener der Werte oder der Bedeutung. In diese letztere Welt treten wir mit grosser Geschwindigkeit ein. Wissenschaft, Religion und Philosophie sind heute mit Bedeutung beschäftigt, und ihre Forschungen führen sie hinaus aus der Erscheinungswelt. Regierungen und die verwandten Wissenschaften der Politik, Wirtschaft und Soziologie beschäftigen sich ihrerseits mit Ideen und Idealen. Sogar [258] im Bereich sozialer Unruhen und Kriege allgemein, vereinzelt oder zivil sehen wir den Konflikt unterschiedlicher Ideale und keine Kriege mehr aus Angriffslust oder zur Verteidigung von Besitz. Diese Unterscheidungen zwischen dem Objektiven und dem Subjektiven, zwischen dem Greifbaren und dem nicht Greifbaren, dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren hat das Christentum genährt, weil es diese Unterschiede waren, die das Reich Gottes und das Reich der Menschen aufwiesen. Christus kam, dem Leben Bedeutung und Wert zu geben, so, wie Buddha kam, uns die falschen Werte klarzumachen, auf denen unsere moderne Welt beruht.

Ein Studium der früher gegebenen Lehren wird zeigen, dass jede Lehre und jeder leidende Sohn Gottes, der Christus voranging, zweierlei taten:

Zunächst bereitete er den Weg für Christus vor, indem er jene Lehre herausgab, die sein besonderes Zeitalter, der Zeitabschnitt und die Zivilisation erforderten, und zweitens stellte er in seinem Leben die Mysterienlehre dar, die jedoch vor der Zeit Christi auf die sehr wenigen beschränkt war, die für Einweihung vorbereitet wurden, oder die durch das Recht der Initiation in die Tempel jener Mysterien vordringen konnten.

Dann kam Buddha und sprach zu der Menge, sagte ihnen, was die Quelle ihres Elends und ihrer Unzufriedenheit war, und gab ihnen in den Vier Edlen Wahrheiten eine kurze Darstellung der menschlichen Situation. Er umriss für sie den Edlen Achtfältigen Pfad, der die rechte Haltung überwacht, und gab in Wirklichkeit die Regeln, die jemand auf dem Pfad der Jüngerschaft lenken sollten. Dann, als er selbst Erleuchtung erlangt hatte, trat er in den «Geheimen Platz des Allerhöchsten» ein, um, wie die Legende erzählt, einmal im Jahr hervorzutreten und die Welt zu segnen. Dieser Tag des Segnens (der Tag des Mai-Vollmonds) wird im Osten als ein allgemeiner Feiertag begangen, und auch im Westen begehen ihn viele Hunderte als einen Tag geistiger Erinnerung.

Dann kam Christus, zeigte der Welt die grossen Vorgänge der Einweihung (fünf an der Zahl) und machte sie in seinem Leben und durch dessen kritische Punkte öffentlich bekannt, die alle jene vor [259] sich haben, welche die von seinem grossen Bruder niedergelegten Regeln befolgen. Er brachte die Lehre zu der nächsten Stufe voran und machte sie zugänglich für die Massen. So ward die immerwährende Fortdauer der Offenbarung fortgesetzt. Der Buddha lehrte uns die Regeln für Jünger, die sich für die Mysterien der Einweihung vorbereiten, während uns Christus die nächste Stufe gab und uns den Vorgang der Einweihung vom Augenblick der neuen Geburt in das Reich bis zu jener der endlichen Auferstehung in das Leben zeigte. Sein Werk war einzigartig zu seiner Zeit und an seinem Platz, denn es bezeichnete eine Vollendung der Vergangenheit und den Eintritt in etwas gänzlich Neues, soweit die Menschheit als Ganzes betroffen war.

Die Menschheit hatte auch ein einzigartiges Stadium in ihrer Entwicklung erreicht. Sie war intelligent geworden, und die Persönlichkeit des Menschen physisch, emotionell und mental war zu einem bestimmten Punkt der Integrierung und Gleichschaltung fortgeschritten. Dies war einzigartig in einer derart umfassenden Weise. Früher gab es einzelne Persönlichkeiten. Nun in der christlichen Ära leben wir in einem Zeitalter der Persönlichkeiten. So hoch ist das allgemeine Niveau des integrierten Persönlichkeitslebens, dass wir anzunehmen geneigt sind, wir seien in einem Zeitalter angelangt, wo es keine herausragenden Gestalten gibt. Das liegt wahrscheinlich an der Tatsache, dass der allgemein hohe Durchschnitt menschlicher Entwicklung die Kraft, beherrschend hervorzuragen, viel mehr begrenzt hat. Wegen dieser Entwicklung hat die Menschheit (als Naturreich betrachtet) einen Punkt erreicht, wo etwas Neues hervorkommen kann, wie es unter entsprechenden Umständen in anderen Reichen immer geschehen ist. Wir können als Menschengeschlecht das nächste Naturreich, das Christus das Reich Gottes nannte, hervorbringen und zur Geburt kommen lassen. Es ist das Reich der Seelen, das Reich geistigen Lebens, und hier erhebt sich einzigartig der Christus. Er ist der Gründer dieses Reichs. Er verkündete sein Dasein, und erwies auf seine Natur hin. In sich selbst gab er uns einen Ausdruck der Eigenschaften dieses Reichs und zeigte uns die Kennzeichen seiner Bürger.

Durch das Beispiel seines Gründers hatte das Christentum auch eine einzigartige Mission bei der Einführung des Zeitalters des Dienens. Weltdienst, Weltwohlfahrt, Weltnutzen, wechselseitige [260] Weltbeziehungen und die Bedeutung des allgemeinen Guten, dies alles sind Ergebnisse des Nachdrucks, den Christus auf die Göttlichkeit und auf die Bruderschaft der Menschen, gegründet auf die Vaterschaft Gottes, legte. Keine andere Religion oder Zeit hat so stark diese Punkte betont. Sie bleiben noch in vieler Hinsicht Ideale, aber sie sind langsam im Begriff, Tatsachen zu werden.

Christus erreichte daher durch sein Werk folgendes:

1. Er liess die Mysterien nach aussen in Erscheinung treten, so dass sie der ganzen Menschheit bekannt wurden und nicht nur der geheime Besitz von Eingeweihten sind.

2. Er führte das Drama der Einweihung vor der Welt auf, so dass sein Symbolgehalt in das menschliche Bewusstsein eindringen konnte.

3. Er gab uns eine Darstellung von Vollkommenheit, so dass wir die Natur Gottes nicht länger in Frage stellen können, gleichzeitig jedoch gab er uns die Garantie, dass wir auch Kinder Gottes sind und gleichfalls Göttlichkeit erwerben können, wenn wir seinen Fussspuren folgen.

4. Er offenbarte uns die Welt der Bedeutung, und in der Person des historischen Christus zeigte er uns die Bedeutung des kosmischen Christus, des mythischen und des mystischen Christus im Herzen eines jeden Menschen. Er offenbarte die Natur des transzendentalen und des immanenten Gottes.

5. Die Vergangenheit der Menschheit gipfelte in ihm; die Gegenwart findet in ihm ihre Lösung, und die Zukunft ist versinnbildlicht in seinem Leben und Tod. Deshalb begegnen sich in ihm alle drei Linien der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft und geben ihm seine einmalige Bedeutung.

6. Er gründete das Reich Gottes zur rechten Zeit, als das Menschenreich Reife erlangte. Er stellte die Werte dieses Reichs in seinem eigenen Leben dar, indem er uns den Charakter seiner Bürgerschaft zeigte, und eröffnete die Tür weit für alle, die sich (durch Dienst und Disziplin) tauglich machen konnten, um aus dem Menschenreich in das Reich des Geistes hinüberzugehen.

7. Er [261] errichtete sein Kreuz als eine Grenze, ein Symbol und ein Beispiel zwischen der Welt greifbarer Werte und der Welt geistiger Werte. Er rief uns auf zum Tod der niederen Natur, damit der Geist Gottes voll zur Herrschaft kommen möge.

8. Er lehrte uns, dass der Tod ein Ende haben müsse, und dass die Bestimmung der Menschheit die Auferstehung vom Tod sei. Unsterblichkeit muss an die Stelle von Sterblichkeit treten. Um unsertwillen stand er deshalb vom Tode auf und bewies, dass die Bande des Todes kein menschliches Wesen zu halten vermögen, das als ein Sohn Gottes wirken kann.

Viele Söhne Gottes sind durch die Tempel der Mysterien gegangen. Viele hatten göttlich zu wirken gelernt und hatten, indem sie Göttlichkeit zum Ausdruck brachten, gelebt, gedient und sind gestorben. Keiner von ihnen kam jedoch zu jener besonderen Zeit der Entfaltung, welche die allumfassende Erkenntnis möglich machte, die Christus hervorgerufen hat, noch war der Intellekt der Massen genügend entwickelt, um bis zu jener Zeit von ihren Lehren in grossem Mass Nutzen zu haben. In dieser Hinsicht war Christus und seine Mission von einmaliger Bedeutung. Er lehrte uns, auf Einheit hinzuwirken, mit Isolierung, Hass und Absonderung ein Ende zu machen, und sagte uns, man müsse den Nächsten wie sich selbst lieben. Er brachte eine in ihren Folgerungen universale Botschaft, denn das Reich Gottes steht weit offen für alle, die lieben und dienen und die niedere Natur läutern, unabhängig von Bekenntnis und Dogma. Er lehrte die Einheit des Glaubens, die Vaterschaft Gottes und die Notwendigkeit, nicht nur mit Gott, sondern in Liebe und Verstehen mit jedem Menschen zu gehen. Er betonte die Notwendigkeit von Zusammenarbeit und wies darauf hin, dass, wenn wir seinem Weg wirklich folgen, wir dem Konkurrieren ein Ende machen und Zusammenarbeit an seine Stelle setzen. Er forderte uns auf, nach göttlichen, fundamentalen und wesentlichen Grundsätzen zu leben und keine Betonung auf die Persönlichkeit zu legen.

Liebe, Bruderschaft, Zusammenarbeit, Dienst, Selbstaufopferung, Einschliesslichkeit, Freiheit von Doktrinen, Erkenntnis der Göttlichkeit das sind die Kennzeichen der Bürger des Reichs, und diese [262] bleiben noch unsere Ideale. Deshalb ist die Frage von Bedeutung, der die Menschheit heute gegenübersteht, was getan werden muss, um das Erreichen der drei hauptsächlichsten Ziele zustandezubringen, die Christus vor uns hinstellte. Sie bleiben die Ziele für die ganze Menschheit und werden im allgemeinen so anerkannt, auch wenn ihre christliche Auslegung nicht beachtet wird oder wenn Christus unerkannt bleibt. Wie sollen wir das menschliche Wesen vervollkommnen, so dass seine Lebensführung und sein Verhalten zu den Menschen und zu seiner Umgebung richtig und aufbauend ist? Wie sollen wir auf Erden jenen Bewusstseinszustand hervorrufen, begleitet von jener Lebensweise, deren Ergebnis würdig wäre, als das Reich Gottes erkannt zu werden? Wie sollen wir zu einem Verstehen des Problems des Todes kommen, mit dem Überwinden des Sterbeprozesses und dem Erreichen der Auferstehung? Christus hatte für die Lösung des Problems menschlicher Vervollkommnung für das Problem einer neuen Welt und für das der Unsterblichkeit eine bestimmte Antwort und einen Plan vorgesehen.

Dass die Menschheit auf dem Weg ist zu grossen und lebendigen Ereignissen, wird allgemein erkannt. Wir sind in der Vergangenheit durch verschiedene Zivilisationen hindurchgegangen, bis zu der wichtigen Gegenwart, und sind auf dem Weg zu noch grösseren Erfolgen. Es erhebt sich jedoch die Frage, ob wir den Prozess beschleunigen könnten, ob wir durch ein rechtes Verstehen von Christus und seiner Lehre die Dinge so fördern könnten, dass das Reich und seine Gesetze früher herrschen, als es sonst der Fall wäre. Kein Opfer unsererseits wäre zu gross, wenn Christus recht hätte in der von ihm eingenommenen Stellung und mit seinen Lehren in bezug auf die Natur des Menschen. Die Entscheidung liegt bei uns. Wir haben die Wahl. Was ist daher letzten Endes die Entscheidung, die wir zu treffen haben? Was ist die Frage, die wir zu beantworten haben? Christus hat gesagt, dass der Mensch göttlich ist. Hatte er recht? Wenn der Mensch göttlich und ein Sohn des Vaters ist, dann lasst uns weiterhin dieses Göttliche zum Ausdruck bringen und unser Geburtsrecht beanspruchen. Wir sind in der Vergangenheit mit viel Nachdenken und Diskussionen über Gott beschäftigt gewesen. Der transzendentale Gott ist sowohl erkannt als auch verneint worden. Der immanente Gott ist im Begriff erkannt zu werden, und in dieser Erkenntnis mag sicher der Ausweg für den [263] Menschen liegen. Sind wir göttlich? Das ist die ganz wichtige Frage.

Wenn der Mensch göttlich ist, wenn das Zeugnis der Zeitalter wahr ist und wenn Christus kam, um uns den Ausdruck des Göttlichen zu zeigen und das neue Reich zu gründen, dann wird das Zusammenbrechen der alten Formen und die weitverbreitete Zerstörung altvertrauter Gesellschafts- und Religionsformen einfach ein Teil des Vorgangs sein, der die neue Lebensweise und das geplante Wirken eines lebensvollen, sich entwickelnden Geistes einführt. Eine Reaktion auf das Erscheinen des Reichs mag auch der Grund für die Unruhe der Massen sein, und das allgemeine Empfänglichsein für die neuen Ideale mag seine Ursache haben in dem Aufprall der Kraft des Reichs auf das Denken der fortgeschritteneren Menschen in der Welt. Der Mystiker und der Christ mögen vom Reich Gottes sprechen, Philanthropen und Philosophen von der Weltgemeinschaft, von der neuen Zivilisation, vom Weltbund der Nationen, von der Menschheit als einer Körperschaft, von Gemeinschaftsleben und von Internationalität und wirtschaftlicher gegenseitiger Abhängigkeit und Welt-Einheit. Aber das sind nur Worte und Namen, von verschiedenen Arten des Denkens angewendet auf die eine grosse, hervortretende Tatsache eines neuen, sich aus dem Menschenreich erhebenden Naturreichs mit seinen eigenen Lebensprinzipien, seinen Gesetzen für die Gruppenwohlfahrt und seiner Bruderschaft der Menschen.

In der Entfaltung des menschlichen Bewusstseins treten wir aus dem notwendigen Stadium des Individualismus heraus. Wir haben zeitweise die tieferen Wahrheiten, die mystischen Werte und das eine Leben hinter allen Formen aus der Sicht verloren. Wir sind zu viel mit materiellen und selbstsüchtigen Interessen beschäftigt gewesen. Doch das war eine notwendige Stufe, obwohl gut sein kann, dass wir zu lange auf ihr verweilt haben. Es ist nun Zeit, die Periode des selbstsüchtigen Individualismus zu beenden und ihm nicht länger zu erlauben, ein beherrschender Faktor in unserem Leben zu sein. Es wird Zeit, die tieferen Elemente der Welt der Wirklichkeit mit dem äusseren Leben zu verbinden und zu vereinigen. Die besten Denker unserer Zeit würdigen das nun, und allenthalben wird nach einer Vertiefung des Lebens, einer Erkenntnis der Notwendigkeit des zusammenhängenden Verstehens der Weltvorgänge gerufen und nach ihrer bewussten, intelligenten [264] Eingliederung in eine erkennbare Weltordnung. Der Zerfall in der Welt in unserer Zeit ist recht und gut, vorausgesetzt, dass wir verstehen, warum er stattfindet und was ihm folgen sollte. Zerstörung, die von einem Ausblick auf schliesslichen Aufbau vorangetrieben wird, ist richtig und angebracht, doch müssen die Pläne für das kommende Bauwerk irgendwie verstanden werden, und es muss eine Idee für den nachfolgenden Wiederaufbau vorhanden sein.

Für uns besteht heute die Notwendigkeit, den verborgenen Faden eines Zwecks zu sehen, der uns aus der augenscheinlichen Sackgasse herausführt, aus den mannigfachen Theorien die Grundtheorie herauszulösen, die nicht nur ihre Wurzeln in der Vergangenheit hat, sondern fähig ist, in einer neuen Weise, in neuen Ausdrücken von jenen, die von der neuen Vision durchdrungen sind, angewendet zu werden. Wir brauchen, wie es Dr. Schweitzer nennt «... die Erkenntnis, dass Zivilisation auf eine Art von Theorie des Universums gegründet ist und sie nur durch ein geistiges Erwachen und den Willen zum Ethisch-Guten in der Masse der Menschheit wiederhergestellt werden kann». (Verfall und Wiederherstellung der Zivilisation, von Albert Schweitzer, S. 7879) Dieses Erwachen ist schon vorhanden, und der Wille zum Guten ist gegenwärtig. Die Lehre Christi ist nicht veraltet, nicht unzeitgemäss. Sie braucht nur von den Darstellungen der Theologien der Vergangenheit befreit und einfach als bare Münze genommen zu werden, als ein Wert, der ein Ausdruck des Göttlichen im Menschen ist, seiner Teilhaberschaft am Reich, das im Begriff steht, anerkannt zu werden, und seiner Unsterblichkeit als ein Bürger dieses Reichs. Wodurch wir in Wirklichkeit hindurchgehen, ist «eine religiöse Einweihung in die Mysterien des Seins» (Das Ende unserer Zeit, engl., von Nicholas Berdyaev, S. 105), und aus dieser sollen wir hervorkommen mit einem vertieften Sinn für den immanenten Gott in uns selbst und in der ganzen Menschheit. Die Notwendigkeit dieser Umwertung wird uns beständig eingeprägt. Es kann deshalb für uns von Wert sein, diese Möglichkeit einzuräumen und unsere individuelle Beziehung zum Werk, das Christus zum Ausdruck brachte und einführte, praktisch zu betrachten und uns mit dem Problem individueller Vervollkommnung zu befassen, damit wir helfen können, das Reich zu gründen und jene Werte [265] zu entwickeln, welche Unsterblichkeit gewährleisten.

Jemand hat bemerkt, dass unsere Zweifel zu dieser Zeit zum grossen Teil auf den Mangel an intuitivem Wahrnehmungsvermögen jener zurückzuführen sind, welche die Massen beeindrucken und das Volk vorwärtsführen können. Sie suchen durch gedankliche Vorgänge und Einschärfung zu führen, nicht durch jene intuitive Darstellung der Wirklichkeit, die das Kind und der Weise gleichzeitig erkennen können. Es ist eine Vorschau notwendig, denn «wo keine Vision ist, dort geht das Volk zugrunde» (Sprüche XXIX/18). Wir ermangeln nicht des Idealismus, noch sind wir zu unintelligent gewesen. Die meisten Menschen handeln aufrichtig, wenn sie mit Streitfragen und Problemen konfrontiert werden, sogar wenn ihre Art und Weise des Handelns missverstanden zu werden scheint. Aber unser grosses Versagen ist die Versäumnis gewesen, jene persönlichen Ausrichtungen und Opfer zu vollbringen, welche die Verwirklichung möglich machen würden.

Das Volk möchte geführt sein; es verlangt nach rechter Führerschaft. Es hofft, auf den Weg gebracht zu werden, den es gehen kann. Dabei war ihm doch alle Zeit die Führung, Führerschaft und Richtung gegeben. Christus beleuchtete den Pfad, und erwartet noch immer, dass wir folgen sollen, nicht einer oder der andere, sondern unter inspirierten Jüngern als Menschheit. Gleich den Kindern Israels unter Moses müssen wir ausziehen und das «Heilige Land» finden. Wie können denn jene, welche die Vision haben (und derer gibt es viele), sich selbst schulen, um der Menschheit bei der rechten Orientierung zu helfen? Wie können sie die Führer werden, die so bitter nötig sind? Indem sie lernen, selbst von Christus geführt zu werden, und indem sie der Führung des inneren mystischen Christus folgen, der sie unvermeidlich direkt zu Christus dem Einweihenden führen wird. Als Aspiranten auf die Mysterien müssen wir den Weg erfahren durch Gehorsam dem Licht gegenüber, das wir in uns haben, durch Liebe und, indem wir aufnahmefähig werden für die Inspiration von oben. Es gibt keinen anderen Weg. Wir haben keine echte Entschuldigung für unser Versagen; denn andere sind vorausgegangen, und Christus hat alles so klar und einfach gemacht.

Gehorsam gegenüber dem Höchsten, das jemand kennt, in kleinen wie in grossen Dingen, dies ist eine zu einfache Vorschrift für viele, als dass sie ihr folgen würden aber sie ist das Geheimnis des Weges. Wir verlangen so viel, und wenn uns eine einfache Regel gegeben und uns gesagt wird, wir brauchten nur der Stimme [266] des Gewissens zu gehorchen und dem Schimmer von Licht zu folgen, den wir sehen können, dann finden wir es nicht genügend interessant, dem sogleich zu folgen. Doch diese Vorschrift war die erste, die Christus befolgte, und sogar als Kind sagte er, dass er «gekommen sei, um sich mit seines Vaters Dingen zu beschäftigen». Er gehorchte dem Ruf. Er tat, wie Gott ihm sagte. Er folgte Schritt für Schritt der inneren Stimme und sie führte ihn von Bethlehem nach Golgatha. Doch führte sie ihn schliesslich zum Berg der Himmelfahrt. Er hat uns das Ergebnis des Gehorsams gezeigt, und er «lernte Gehorsam durch sein Leiden». Er zahlte den Preis, und er offenbarte uns, was Gott im Menschen sein und tun könnte.

Die Vollendung der menschlichen Vollkommenheit besteht nicht einfach in der Bildung eines guten Charakters und darin, nett und freundlich zu sein. Mehr als dies ist darin enthalten. Es ist eine Frage des Verstehens und einer neuen, geordneten inneren Haltung, die auf Gott ausgerichtet ist, weil sie auf den Dienst am Menschen ausgerichtet ist, in dem Gott sich selbst ausdrückt. «Wer nicht seinen Bruder liebt, den er sieht, wie kann der Gott lieben, den er nicht sieht?» (I. Joh. IV/20) Dies ist die Frage, die Johannes, der geliebte Apostel, stellt, und die wir als Menschheit noch nicht zu beantworten unternommen haben. Es ist eine Lebensnotwendigkeit, zu der einfachen, fundamentalen Lehre Christi zurückzukehren und unseren Bruder lieben zu lernen. Liebe ist kein sentimentaler, emotioneller Zustand des Bewusstseins. Sie zieht den Grad der Entwicklung und die Entfaltung des Charakters derer in Betracht, die geliebt werden sollen. Trotz allem ist es eine Liebe, die wahr sieht, und die, weil sie so wahr sieht, weise handeln kann. Es ist eine Liebe, die sich vorstellt, dass die Welt Liebe nötig hat und dass ein Geist der Liebe (der ein Geist der Einschliesslichkeit, Toleranz, weisen Urteilskraft und weitschauenden Vision ist) alle Menschen zu jener äusseren Einheit zusammenziehen kann, die auf einer erkannten inneren Verwandtschaft beruht.

Wir sind alle so bereit, Liebe zu empfangen. Wir sind alle so begierig, geliebt zu werden, weil wir unbewusst, wenn nicht [267] bewusst empfinden, dass Liebe Dienen bedeutet, und wir haben es gern, bedient zu werden. Die Zeit ist gekommen, da diese selbstsüchtige Lebenseinstellung sich ändern muss. Wir müssen lernen, Liebe zu geben, nicht Liebe zu verlangen. Als Dienende sollen wir allen begegnen, mit denen wir täglich in Berührung kommen, nichts verlangen, nichts erwarten für das abgesonderte Selbst. Wenn dieser Geist (der ganz besonders der Geist Christi und derer ist, die ihn am besten kennen) allgemeiner werden wird, dann werden wir einer schnelleren Durchführung der gewünschten Veränderungen gewahr werden. Theologisch haben wir verkündet, dass «Gott Liebe ist», und dann haben wir ihn in Begriffen unseres eigenen Hasses, unserer eigenen begrenzten Ideale, unserer engen Theologien und unserer trennenden Haltung dargestellt. Wir haben Christus als den grossen Diener der Menschheit erkannt und auf ihn hingewiesen als auf das Beispiel dessen, was möglich ist. Doch wir stimmen keinem allgemeinen Dienst zu, und diese Eigenschaft ist noch nicht die bewegende Kraft im Leben der Welt. Zwar bewegt sie das Leben deutlicher als jemals vorher, aber die Anstrengungen, die jetzt unternommen werden, zwanzig Jahrhunderte, nachdem Christus uns mit der Aufforderung verlassen hat, seinen Fussspuren zu folgen, zeigen nur, wie langsam wir gewesen sind, wieviel zu tun bleibt und wie verzweifelt nötig es die Menschen haben, von jenen bedient zu werden, welche die Vision und die Liebe Gottes in ihren Herzen haben. Es ist offenbar, wie wenig Liebe in der Welt gegenwärtig angewendet wird. Das Wesentliche, woran wir uns erinnern müssen, ist, dass der Grund, wenn wir Gott als einen Gott der Liebe erkennen können, darin liegt, dass wir selbst im Grunde und latent im Wesen gott-gleich sind. Das stellt in sich ein Problem dar, denn bevor das Göttliche in uns nicht einigermassen erwacht ist, haben wir es schwer, Liebe richtig auszulegen. Für die Massen von Menschen, die noch auf dem Pfad des Werdens und in vielen Fällen kaum menschliche Wesen sind, ist es unmöglich, die wirkliche Bedeutung von Liebe zu verstehen.

Das Verstehen und der Ausdruck von Liebe sind, genau genommen, persönliche Angelegenheiten. Liebe kann unbestimmt eine Theorie oder eine emotionelle Erfahrung bleiben. Sie kann ein bewegender Faktor im Leben werden und etwas, das wir zum Ganzen beisteuern. Wenn jeder für sich selbst die Bedeutung der Liebe in seinem Leben ausdenken würde und alle sich entschlössen, Liebe und Verstehen zu geben (nicht emotionelle Reaktionen, sondern ständige, unerschütterliche, verstehende Liebe), dann würden [268] die Verwirrungen in dieser beunruhigten Welt sich ordnen, und es würde leichter darin zu leben sein. Das gegenwärtige Chaos und der Aufruhr würden dann rasch verschwinden. Liebe ist wesentlich die Verwirklichung von Bruderschaft. Sie ist die Erkenntnis, dass wir alle die Kinder des Einen Vaters sind; sie ist Mitleid, Verstehen und Geduld. Sie ist der wahre Ausdruck des Lebens Gottes.

Wenn das erste Erfordernis des Menschen, der sich für die Mysterien Jesu vorzubereiten sucht, Gehorsam gegenüber dem Höchsten ist, das er erfühlen und erkennen kann, und das zweite das Ausüben von Liebe ist, so ist das dritte die Entwicklung jener Empfindungsfähigkeit und inneren Aufmerksamkeit, durch die er zu der Bedeutung und der Voraussetzung von Inspiration gelangen kann. Dies ist keineswegs die Entwicklung von psychischen Fähigkeiten, wie es gewöhnlich verstanden wird. Sie sind unter Gottes Kindern in vielen Formen vorhanden, von jener Aufmerksamkeit der inneren Stimme des Gewissens und der Pflicht gegenüber (zwei der niedrigsten Formen von Inspiration) bis zu jenen hohen geistigen Errungenschaften, die in den inspirierten heiligen Schriften der Welt Ausdruck finden.

Ohne solche Inspiration ist es für einen Menschen nicht möglich, in den Tempel einzutreten und Gemeinschaft zu haben mit DEM, das ihn in die subtilen Vorgänge der Einweihung einführt. Der erste Einweihende ist die Seele selbst, das göttliche Selbst im Menschen, der geistige Mensch, der hinter dem Sperrgitter des äusseren Menschen steht und der sich abmüht, durch die äussere Persönlichkeit zu lenken und zu wirken. Es ist diese Seele oder das Selbst, das dem Menschen die Tür zur Inspiration öffnet und ihm die Natur seines göttlichen Bewusstseins offenbart, sein Ohr einstimmt, damit es den Ton auffangen kann von «der Stimme, die in der Stille spricht», wenn ein Mensch alle äusseren Stimmen zum Schweigen gebracht hat.

Die Erlangung der Fähigkeit der Inspiration ist wesentlich für irgendeinen Fortschritt auf dem Pfad der Einweihung. Sie setzt eine Entwicklung der Intelligenz voraus, die einen Menschen zu den notwendigen Unterscheidungen befähigt. Echte Inspiration ist in keiner Weise das Hervorsprudeln des unterbewussten Selbstes oder des Denkens, noch ist sie das Freilassen der Flut von rassischen, nationalen oder familiären Ideen und Gedankenbildern [269] im Menschen; sie ist auch nicht das Einstimmen auf die Welt der Gedanken, das so leicht durch jene erfolgen kann, in denen eine gewisse Fähigkeit für telepathische Verbindung entwickelt ist. Noch ist sie das Lauschen auf die vielen Stimmen, die sich zu Gehör bringen können, wenn ein Mensch Erfolg damit hat, so gänzlich negativ und so frei von jedem intellektuellen Denken geworden zu sein, dass die Töne der Ideen und Einflüsterungen aus der Welt psychischer Phänomene sehr leicht sich hineindrängen können. Dies geschieht gewöhnlich bei einem relativ niedrigen Grad von Intelligenz. Inspiration ist etwas ganz anderes. Sie ist das Eindringen in die Gedanken- und Ideenwelt, der Christus lauschte, wenn er eine Stimme hörte und der Vater zu ihm sprach. Sie ist die intuitive Erwiderung eines intelligenten Denkens auf Eindrücke, die von der Seele und aus der Welt der Seelen kommen. Die Sprache des Reichs wird uns dann vertraut. Wir sind in Berührung mit jenen befreiten Seelen, die in diesem Reiche wirken, und die Gedankenwellen und die Ideen, die sie dem menschlichen Denken einzuprägen suchen, kommen in Umlauf durch das eingestimmte Denken der Weltjünger. Dies ist Inspiration, und dies ist die Fähigkeit, für welche die Aspiranten überall sich zu schulen beginnen sollten und die im Alltagsleben erworben werden muss. Es ist eine Kraft, die durch rechte Meditation hervorgebracht wird. Sie ist ein Ausdruck der Seele, die durch das Denken wirkt und so das Gehirn mit rein geistigen Impulsen in Bewegung bringt. Inspiration ist verantwortlich für alle die neuen Ideen und sich entfaltenden Ideale unserer modernen Welt. Das Zeitalter der Inspiration ist nicht vorbei und nicht vergangen, es ist hier und jetzt gegenwärtig. Gott spricht noch zu den Menschen, denn diese unsere Welt schafft noch immer die entsprechenden Gelegenheiten für die Entwicklung jener Eigenschaften, die das Kennzeichen des Christus im menschlichen Herzen, der Seele, des Gottessohnes in Inkarnation, sind, der in diesem Tal der Tränen wohnt oder, wie es genannt worden ist, in diesem «Tal der Seelen-Entfaltung» (soul-making).

Um jedoch diesen bestimmten und bewussten Seelenkontakt zu erreichen, muss der Aspirant durch Leiden Gehorsam lernen, und er hat auch die Aufgabe des Liebens zu erfüllen. Dies ist nicht [270] leicht. Es erfordert Disziplin, unaufhörliche Anstrengung und beharrliches Streben, jene Unterwerfung des Selbstes, die einer täglichen Kreuzigung gleichkommt, und jene unentwegte Aufmerksamkeit, die niemals die Augen vom Ziel abwendet, sondern sich immer des Zwecks, des Fortschreitens und der inneren Ausrichtung bewusst ist. Das Wunder dieses Werdeganges ist, dass er hier und jetzt vor sich gehen kann, in der Lage, in der wir uns befinden, ohne dass die geringste Abweichung von täglicher Pflicht und Verantwortung gefordert würde.

Dies ist das Ziel für den Menschen, der Christus bei der Gründung des Reichs beizustehen sucht und dadurch den Willen Gottes erfüllt. Kein anderes Ziel ist der Aufmerksamkeit des Menschen wert, noch wird eines so jede Kraft, die er hat, jede Begabung, jedes Talent, das er besitzt, und jeden Augenblick seines Daseins absorbieren. Heute geht der Ruf nach Dienern der Menschheit hinaus, und nach Männern und Frauen, die an der Aufgabe der Selbstvervollkommnung arbeiten wollen, um besser ausgerüstet zu sein, ihren Mitmenschen und Gott im Menschen zu dienen.

Es wird uns gesagt, dass, wenn wir die Welt der Ideale betreten, «die Unterschiede zwischen den Religionen unwesentlich und die Übereinstimmungen auffallend werden. Da besteht nur noch ein Ideal für den Menschen, tief menschlich zu werden. «Ihr sollt vollkommen sein!» Der ganze Mensch, der vollständige Mensch, ist der ideale Mensch, der göttliche Mensch». Auf dem Pfad der Läuterung entdecken wir, wie schwach und mangelhaft der niedere persönliche Mensch ist; auf dem Pfad der Jüngerschaft arbeiten wir an der Entfaltung jener Eigenschaften, die charakteristisch sind für den Menschen, der bereit ist, den Weg zu betreten und in Bethlehem geboren zu werden. Dann werden wir die Wahrheit über uns und über Gott wissen, werden durch das Erreichte erkennen, ob das, was uns gesagt wurde, Tatsache ist oder nicht. Es wird uns gesagt, dass «... niemand die historische Wahrheit von solchen Dokumenten wie die Evangelien richtig verstehen kann, ehe er nicht zuerst in sich selbst die mystische Bedeutung, die sie enthalten, erfahren hat. ... Angelus Silesius, der im 17. Jahrhundert lebte, hat bereits seine kritische Haltung gegenüber dieser gewissen Art von Forschung ausgesprochen:

«Wär' Christus tausendmal zu Bethlehem geboren und nicht in dir, so wärst du dennoch ewiglich verloren.

Das Kreuz [271] von Golgatha kann dich nicht von dem Bösen, so es nicht auch in dir wird aufgericht', erlösen.»

(Zitiert in: «Der Weg der Einweihung», von Rudolf Steiner, S. 46)

Selbsterkenntnis führt uns zur Gotteserkenntnis. Sie ist die erste Stufe. Läuterung des Selbstes führt hinauf zum Tor der Einweihung, und dann kann man den Weg betreten von Bethlehem nach Golgatha, den Christus ging.

Wir sind menschliche Wesen, aber wir sind auch göttlich. Wir sind Bürger des Reichs, obwohl wir bisher noch keinen Anspruch erhoben haben und in unsere göttliche Erbschaft nicht eingetreten sind. Inspiration strömt jederzeit herab. Liebe ist verborgen in jedem menschlichen Herzen. Nur Gehorsam wird auf der ersten Stufe verlangt, und wenn er geleistet worden ist, werden Dienen als Ausdruck der Liebe und Inspiration als Einfluss aus dem Reich ein bestimmter Teil unseres Lebens. Dies zu offenbaren, kam Christus, es ist das WORT, das er hinaussandte. Er hat für uns unsere menschlichen und göttlichen Möglichkeiten dargestellt, und indem wir die Tatsache unserer dualen, aber göttlichen Natur annehmen, können wir bei der Begründung und beim Zum-Ausdruck-Bringen des Reichs zu helfen beginnen.

Wir müssen zu der Anschauung kommen, dass «der höchste, reinste und absolut entsprechende Ausdruck des Menschengeheimnisses der Gottmensch Christus ist. Er allein stellt wirklich und endgültig das Wesen des Menschen ins rechte Licht. Sein Erscheinen in der Geschichte gibt dem Menschen die Berechtigung, sich für mehr als eine blosse Kreatur anzusehen. Wenn es wirklich einen Gottmenschen gibt, so gibt es auch einen Menschen-Gott, das heisst "den Menschen", der die Gottheit in sich aufgenommen hat ... der Menschen-Gott ist gemeinschaftlich und allumfassend, sozusagen die Menschheit als ganzes oder die Weltkirche. Denn nur in Gemeinschaft mit all seinen Mitmenschen kann der Mensch Gott aufnehmen». (Geister, die um Christus ringen, engl., von Karl Pfleger, S. 235)

Die individuelle Haltung zum Beispiel Christi ist deshalb Gehorsam gegenüber der Forderung an uns, Vollkommenheit zu erstreben. Das Motiv jedoch muss das eine sein, das Christus zu all seinem göttlichen Wirken anspornte: Die Gründung des neuen Reichs und die Erlangung jenes Bewusstseinszustands auf einer allgemeingültigen und menschlichen Stufenleiter, der aus dem menschlichen Wesen einen Bürger des Reichs machen wird, der [272] bewusst darin wirkt, sich freiwillig seinen Gesetzen unterordnet und unerschütterlich nach der Ausbreitung des Reichs auf Erden strebt. Ein solcher Mensch ist der Bote des Reichs, und seine selbstgewählte Aufgabe wird sein, das Bewusstsein seiner Mitmenschen zu heben, so dass sie über sich selbst hinauswachsen können. Das Teilen der Segnungen des Reichs mit ihnen und ihre Stärkung, wenn sie den schwierigen Pfad zu dem Tor betreten, das in das Reich führt, wird seine einzig geltende und unmittelbare Aufgabe. Die Seele, die Kontakt mit ihrem niederen Ausdruck, dem persönlichen Selbst, genommen hat, treibt dieses Selbst auf den Pfad des DIENENS. Der Mensch kann dann nicht ruhen, bis er andere auf den WEG und zur Freiheit der Söhne Gottes geführt hat, die das neue kommende Reich kennzeichnet.

Die neue Religion ist auf dem Weg; auf sie haben alle früheren Religionen uns vorbereitet. Sie unterscheidet sich nur darin, dass sie nicht länger durch Dogmen und Doktrinen unterschieden wird, sondern sie wird wesentlich eine Haltung des Denkens sein, eine Orientierung zum Leben, zum Menschen und zu Gott. Sie wird auch ein lebendiges Dienen sein. Selbstsucht und selbstbezogene Interessen werden endlich ausgeschieden sein, denn das Reich Gottes ist das Leben des verbundenen Ganzen, empfunden und gewünscht von allen seinen Bürgern, erarbeitet und zum Ausdruck gebracht von allen, die den WEG gehen. Einweihung ist nichts weiter als der Vorgang, der in uns die Kräfte und Fähigkeiten dieses neuen und höheren Reichs entwickelt, welche Kräfte einen Menschen in eine erweiterte Welt freilassen und darauf gerichtet sind, ihn für das organische Ganze an Stelle des Teils feinfühlig zu machen. Individualismus und Getrenntsein werden verschwinden, wenn dieses Reich ins Sein tritt. Das kollektive Bewusstsein ist sein bedeutendster Ausdruck und seine Haupteigenschaft. Es ist der nächste, bestimmt und klar angezeigte Schritt auf dem evolutionären PFAD, und es gibt kein Ausweichen davor. Wir können uns nicht selbst daran hindern, schliesslich des grösseren Ganzen bewusst zu werden oder tätig teilzunehmen an seinem vereinten Leben. Es ist jedoch möglich, das Kommen des Reichs zu beschleunigen. Das heutige Bedürfnis der Welt und die allgemeine Hinwendung der Menschen zu Ideen scheint anzuzeigen, dass die Zeit gekommen ist für jene besondere Anstrengung, die das [273] Erscheinen des Reichs und die Offenbarung dessen herbeiführen wird, das unmittelbare Erfüllung erwartet. Dies ist die Herausforderung, der sich die christliche Kirche heute gegenübersieht. Es besteht ein Verlangen nach Vision, Weisheit und jener grossen Toleranz, die das Göttliche allerorten sehen und den Christus in jedem menschlichen Wesen erkennen wird.

Sobald wir die Bedeutung des Reichs Gottes erfassen, beginnen wir zu verstehen, was unter der Kirche Christi gemeint ist, und die Bedeutung jener «Wolke von Zeugen» (Hebräer XII/1) zu erkennen, von der wir beständig umgeben sind. Das Reich Gottes ist nicht irgendeine besondere Kirche mit ihren eigenen seltsamen Doktrinen, ihren besonderen Formulierungen der Wahrheit, ihrer speziellen Methode der Lenkung auf Erden und der Annäherung an Gott.

Die wahre Kirche ist das Reich Gottes auf Erden, sie hat mit klerikaler Herrschaft nichts zu tun. Sie setzt sich zusammen aus allen jenen, welche ohne Rücksicht auf Rasse oder Glaubensbekenntnis vom inneren Licht leben. Sie haben die Tatsache des mystischen Christus in ihrem Herzen entdeckt und bereiten sich vor, den Weg der Einweihung zu gehen. Das Reich besteht nicht aus orthodox-theologisch denkenden Menschen. Seine Bürgerschaft ist umfassender als dieses und schliesst jedes menschliche Wesen ein, das in weiteren Begriffen denkt als der individuell, der orthodox, der national und der rassisch eingestellte Mensch. Die Mitglieder des kommenden Reichs werden in Begriffen der Menschheit als ein Ganzes denken; so lange sie separativ oder nationalistisch oder religiös-bigott sind oder auch wirtschaftlich-selbstsüchtig, haben sie keinen Platz in diesem Reich. Das Wort geistig wird eine viel weitere Bedeutung erlangen als jene, die es im vergangenen Zeitalter hatte, das nun glücklicherweise dem Ende zugeht. Alle Lebensformen werden vom Gesichtspunkt geistiger Erscheinungen aus betrachtet werden, und wir werden nicht länger eine Tätigkeit als geistig ansehen, eine andere nicht. Die Frage des Beweggrundes, des Zwecks und der Gruppen-Nützlichkeit wird die geistige Natur einer Tätigkeit bestimmen. Für das Ganze zu arbeiten, mit der Hilfe für die Gruppe beschäftigt zu sein, von dem Einen Leben zu wissen, das durch alle Formen pulst, und in dem Bewusstsein zu schaffen, dass alle Menschen Brüder sind, dies sind die ersten Eigenschaften, die ein Bürger des Reichs aufweisen [274] muss. Die menschliche Familie ist individuell selbstbewusst, und dieser Zustand des trennenden Bewusstseins ist notwendig und nützlich gewesen. Die Zeit ist jedoch gekommen, da wir grösserer Kontakte, weiterer Zusammenhänge und einer allgemeineren Einschliesslichkeit gewahr werden.

Wie kann diese Voraussetzung für das Reich Gottes auf Erden geschaffen werden? Durch das allmähliche und ständige Vermehren der Anzahl derer, die Bürger dieses Reichs sind, indem sie auf Erden ihr Leben leben und die Eigenschaften und das Bewusstsein zeigen, die für solche Bürger charakteristisch sind; durch Männer und Frauen allerorten, die das erweiterte Bewusstsein entwickeln und immer einschliessender werden. «Jede Überlegung», sagt Dr. Hocking, «die unfehlbar die Mauern des Selbstes niederreissen kann, eröffnet auf einmal ein unendliches Welt-Arbeitsfeld. Setze eine zweite zu meiner Einen (One), und ich habe alle Zahlen gegeben». (Die Bedeutung Gottes in der menschlichen Erfahrung, engl., von W. E. Hocking, S. 315) ergibt uns den Schlüssel zu dem Vorgang, der in diesem Werk wesentlicher Einheit durchgeführt werden muss, indem er sagt, dass «... der wahre Mystiker der ist, der auf der Wirklichkeit beider Welten beharrt und der es der Zeit und der Bemühung überlässt, ihre Einheit zu verstehen» (a. a. O., S. 399). Das Reich Gottes ist vom praktischen alltäglichen Leben auf der Ebene des täglichen Geschehens nicht getrennt. Der Bürger des Reichs ist weltbewusst und gottbewusst. Seine Kontaktlinien sind nach beiden Richtungen klar ausgerichtet, er ist nicht an sich selbst interessiert, sondern an Gott und an seinen Mitmenschen, und seine Pflicht gegenüber Gott wirkt sich aus durch die Liebe, die er empfindet und seiner Umgebung erweist. Er kennt keine Schranken und erkennt keine Trennungen an. Er lebt als Seele in jedem Aspekt seiner Natur, durch sein Denken und seine Gefühle und auch auf der physischen Ebene des Lebens. Er wirkt durch Liebe und in Liebe und wegen der Liebe Gottes.

Ein genaues Studium der Evangeliumsgeschichte und geistige Aufmerksamkeit für die Worte Christi werden offenbar machen, dass die drei herausragenden Kennzeichen seines Werks und die drei Hauptlinien seiner Tätigkeit auch die unsrigen werden sollen. Diese drei sind, wie wir gesehen haben, zuerst das Erlangen von Vollkommenheit und ihre Darstellung durch die fünf grossen [275] Ereignisse, die wir die Krisen im Leben Christi nennen, die fünf Haupt-Einweihungen des Orients und der esoterischen Schulen; zweitens die Gründung des Reichs, eine Verantwortlichkeit, die auf jedem von uns ruht, denn, obwohl Christus die Tür ins Reich gewiss öffnete, ruht die übrige Arbeit doch auf unseren Schultern; drittens das Erlangen von Unsterblichkeit, gegründet auf der Entwicklung dessen in uns selbst, das dem Wirklichen angehört, das wahren Wert besitzt und das verdient, die Prüfung der Unsterblichkeit zu bestehen. Dieser letzte Gedanke rechtfertigt unsere Aufmerksamkeit. Indem wir an seinen Folgerungen festhalten, finden wir, dass es traurig und zutiefst wahr ist, dass «... der Mensch, wie er heutzutage existiert, zum Überleben nicht fähig ist. Er muss sich ändern oder zugrunde gehen. Der Mensch, wie er ist, ist nicht das letzte Wort der Schöpfung. Wenn er es nicht tut, wenn er es nicht vermag, sich selbst und seine Einrichtungen an die neue Welt anzupassen, so wird er seinen Platz einer sensitiveren und weniger groben Gattung abtreten müssen. Wenn der Mensch das Werk, das von ihm verlangt wird, nicht tun kann, so wird ein anderes Geschöpf erscheinen, das dies kann». (Das höchste geistige Ideal, engl., von S. Radhakrishnan, in: The Hibbert Journal, Oktober 1936, S. 33)

Der evolutionäre Plan ist immer derart gewesen. Das göttliche Leben hat immer für sich Werkzeug nach Werkzeug geschaffen, um sich zu offenbaren, und einem Reich ist das andere gefolgt. Dieselbe grosse Ausdehnung steht heute unmittelbar bevor. Der Mensch, das selbstbewusste Wesen, vermag sich wesentlich zu unterscheiden von den Lebensformen in den anderen Reichen, weil er auf der Woge des göttlichen Lebens in vollem Bewusstsein vorwärtsschreiten kann. Er kann teilhaben an der «Freude des Herrn», wenn die erweiterten Bereiche des Bewusstseins sein eigen werden. Er kann jene Seligkeit kennenlernen, die der herausragende Zustand der Gottnatur ist. Da braucht es kein menschliches Versagen zu geben, noch einen endgültigen Bruch im Fortgang der Offenbarung. Da ist das im Menschen, das ihn befähigt, die Kluft zu überbrücken zwischen dem Reich, in dem er sich befindet, und dem neuen Reich, das am Horizont auftaucht. Menschliche Wesen, die Bürger beider Reiche sind des menschlichen und des geistigen , befinden sich heute wie immer unter uns. Sie bewegen sich frei in jeder Welt, und Christus selbst gab uns die vollkommene Darstellung jener Bürgerschaft und sagte uns, dass wir «sogar [276] grössere Dinge» tun könnten, als er getan hat. Dies ist die herrliche Zukunft, auf die der Mensch heute ausgerichtet ist und auf die alle Weltereignisse ihn vorbereiten.

Die Vorbereitung auf dieses Reich ist die Aufgabe der Jüngerschaft, und sie stellt die schwierige Disziplin des fünffachen Pfades der Einweihung dar. Die Arbeit des Jüngers ist die Gründung des Reichs, und das primäre Kennzeichen seiner Bürger ist Unsterblichkeit. Sie sind Mitglieder einer TODLOSEN RASSE, und der letzte Feind, den sie überwinden, ist der Tod. Sie wirken bewusst im Körper oder ausserhalb und nehmen keine Rücksicht darauf. Sie haben das immerwährende Leben, weil in ihnen das ist, was nicht sterben kann, weil es von göttlicher Art ist. Unsterblich zu sein, weil einem die Sünden vergeben sind, scheint kein angemessener Grund für ein intelligentes Denken. Das ewige Leben zu haben, weil Christus vor zweitausend Jahren gestorben ist, erweist sich als nicht zufriedenstellend für den seiner eigenen Verantwortlichkeit und Identität bewussten Menschen. Ewig zu leben, weil man religiös ist oder gewisse Glaubensformen angenommen hat, ist ein Grund, der von einem seiner inneren Kraft und Natur bewussten Menschen zurückgewiesen wird. Seinen Glauben an das Fortleben auf Tradition oder sogar auf einen angeborenen Sinn für ein Weiterbestehen zu gründen, scheint ihnen nicht ausreichend. Wir wissen vieles über die Kraft und Zähigkeit der Selbst-Erhaltung und über das schöpferische Drängen nach Selbst-Verewigung. Vielleicht werden diese zwei einfach in einem idealistischen Sinn fortgesetzt, wenn der Mensch der Endgültigkeit gegenübersteht.

Der Menschheit wohnt jedoch das Empfinden inne, irgendwohin zu gehören, es gibt eine göttliche Unzufriedenheit, die sicher ihren Grund in irgendeiner natürlichen Erbschaft hat, die unseren Ursprung gewährleistet. Dieses Hinausreichen in ein grösseres, volleres Leben ist ebenso eine menschliche Eigenschaft wie die normale Neigung eines Menschen zu Familienleben und gesellschaftlichen Verbindungen. Es ist daher ebenso einer Erfüllung fähig wie jene Neigung, und dafür liefern die Zeitalter Beweise. Persönliche Erlösung ist nach alledem von geringer Bedeutung, ausser sie ordnet sich ein in ein allgemeineres und universales Erlöstwerden. Die Bibel verheisst, dass der, «welcher den Willen Gottes tut, der bleibt [277] in Ewigkeit» (I. Joh. II/17), und in diesen Worten haben wir den Schlüssel. Es bestand die Neigung, zu denken, dass durch die Erschaffung des Menschen der Wille Gottes, etwas auszudrücken, völlig zufriedengestellt sei. Für diesen Glauben gibt es gewiss keinen wirklichen Grund. Wenn Gott nicht fähig wäre, etwas weit Vollkommeneres hervorzubringen als die Menschheit, und wenn das Leben, das durch die Naturwelt sich ergiesst, nicht auf etwas Grösseres, Besseres und Schöneres hinwirkte als alles, was jetzt hervorgebracht wurde, dann wäre Gott nicht göttlich in dem Sinn, in dem dieser Begriff gewöhnlich angewendet wird. Wir erwarten von Gott weit mehr als das Grösse, über alles hinausgehend, was uns jetzt gezeigt wurde. Wir glauben, dass dies möglich ist. Wir vertrauen fest auf diese Göttlichkeit und sind sicher, dass sie uns nicht täuscht. Doch die Offenbarung der letzten Vollkommenheit, wie immer sie auch sein möge (und wir sollten Gott nicht begrenzen durch irgendeine unserer vorgefassten Ideen), wird im Menschen die Entfaltung von Kräften erfordern und einen Mechanismus, die ihn befähigen werden, sie zu erkennen, teilzuhaben an ihren Wundern und ihrem grösseren Kontaktbereich. Wir selbst müssen uns wandeln, um das Göttliche zum Ausdruck zu bringen, wie Christus es zum Ausdruck brachte, ehe Gott zu der Offenbarung der Schönheit des verborgenen Reichs weitergehen kann. Gott braucht die Mitarbeit des Menschen. Er ruft nach Menschen, um seinen Willen zu tun. Wir haben das als einen Weg zu unserem eigenen individuellen Wohl angesehen, und das war vielleicht eine falsche Einstellung. Wir müssen uns erheben und den inneren Plan voranbringen, indem wir uns selbst zur Vollkommenheit hin ausstatten, damit Gott «auf die Arbeit seiner Seele schauen und zufrieden damit sein» möge (Jesaja LIII/11). Wir sind wahrscheinlich Gottes entscheidendes Experiment. Der Keim göttlichen Lebens ist in uns, aber wir selbst haben etwas dazu zu tun, und die Zeit ist gekommen, da die Menschheit als Ganzes sich bemühen muss, das göttliche Leben in der menschlichen Form zu nähren.

Deshalb ist unsere unmittelbare Aufgabe, im Interesse des Reichs, dessen Bürger unsterblich sind, das zu entfalten, was göttlich ist in uns. Seine Eigenschaften können erkannt werden durch den Sinn für Werte, durch das Kennzeichen des Lichts und durch die Art seiner Liebe und des Liebens. Heute ist der volle Ausdruck [278] des «verborgenen Menschen des Herzens» notwendig. Die Offenbarung des SELBSTES innerhalb des niederen Selbstes ist die Forderung. Dieses Selbst, genährt, gepflegt, dann geschult und entwickelt, ist der unsterbliche Aspekt im Menschen, und für dieses Selbst sind wir verantwortlich. Dem kann man nicht ausweichen, noch gibt es ein Ausweichen vor der Tatsache, dass wir ein Teil des Ganzen sind. Nur, wenn Christus von der gesamten Menschenrasse erkannt und von der ganzen Menschheit zum Ausdruck gebracht wird, werden wir erreichen, wofür wir geschaffen sind: die Erfüllung des göttlichen Willens, wie Christus ihn erfüllte. Wir müssen den Minderwertigkeitskomplex überwinden, der sich fragend erhebt, wenn solche Worte wie der obige Satz vorkommen: «Wie Christus ihn erfüllte». Ein oben angeführtes Buch stellt fest, dass der Gedanke eines persönlichen Christus verschwinden und ersetzt werden müsse durch Christus als das Leben und die Hoffnung in uns allen. Das einzig Wichtige ist nur, die wahre innere Bedeutung von Unsterblichkeit zu verstehen. Jene, in denen der Sinn für geringere Werte den Werten der Seele untergeordnet ist, deren Bewusstsein das der Ewigkeit ist, sind ewig in ihrem Lebensverlauf. Daran sollten wir denken.

Sind wir interessiert an dem lebendigen Ganzen? Ist das Wohlergehen der Menschenrasse von wirklicher Bedeutung für uns? Sind wir willens, alles zu opfern zum Wohl des Ganzen? Diese Fragen sind von Wichtigkeit für den einzelnen Aspiranten; er muss sie beantworten, wenn er klar verstehen will, was er zu tun versucht. Dieser Vorgang der Unterwerfung unter das Ganze ist von Dr. Schweitzer zusammengefasst worden, der uns ein wundervolles Bild vom Reich Gottes entwirft. Er sagt:

«Zivilisation besteht, ganz einfach ausgedrückt, in unserer Hingabe an die Bestrebungen zur Vervollkommnung der Menschheit und zum Fortschritt jeder Art in den menschlichen Verhältnissen und in der objektiven Welt. Diese mentale Haltung schliesst jedoch zwei Dinge ein: erstens müssen wir vorbereitet sein, der Welt und dem Leben in unserem Handeln bejahend gegenüberzustehen, und zweitens müssen wir ethisch werden.

Nur, wenn wir fähig sind, der Welt und dem Leben eine wirkliche Bedeutung beizumessen, werden wir imstande sein, selbst so zu handeln, dass Ergebnisse von wirklichem Wert entstehen. Solange wir [279] unser Dasein in der Welt als bedeutungslos ansehen, besteht kein Anhaltspunkt, irgendetwas von unseren Wünschen in der Welt zu verwirklichen. Wir werden nur insofern Arbeiter für jenen universalen geistigen und materiellen Fortschritt, den wir Zivilisation nennen, als wir bestätigen, dass die Welt und das Leben eine gewisse Bedeutung besitzen, oder was dasselbe ist nur insofern, als wir optimistisch denken.

Zivilisation wird hervorgebracht, wenn die Menschen inspiriert werden von einer starken und klaren Entschlossenheit, Fortschritt zu erzielen, und wenn sie sich, als ein Ergebnis dieser Entschlossenheit, dem Dienst am Leben und an der Welt widmen. Nur in der Ethik finden wir die vorwärtstreibende Kraft für solches Handeln, sie überschreitet die Grenzen unseres eigenen Daseins.

Nichts von wirklichem Werte in der Welt ist jemals entstanden, ohne von Begeisterung und Selbstaufopferung begleitet zu sein». (Verfall und Wiederaufstieg der Zivilisation, von Albert Schweitzer, S. VIII, Vorwort)

Kein Mensch, der nicht das Bewusstsein wahrer Werte erlangt hat, ist jetzt bereit für die Unsterblichkeit, das Vorrecht der Gottessöhne. Das Aufbauen jenes inneren Organismus, des geistigen Körpers, geschieht durch Läuterung, Vervollkommnung, Meditation und Einweihung, vor allem aber durch Dienen. Es gibt keinen anderen Weg. Die wahren Werte, denen der Eingeweihte sein Leben weiht, sind die des Geistes, des Reichs Gottes, jene, die das Ganze betreffen und keine Betonung auf das Einzelwesen legen. Sie sind gekennzeichnet durch Umfassendsein, Dienen und bewusste Eingliederung in das Ganze. Man kann sie mit dem einen Wort DIENST zusammenfassen. Sie sind gekennzeichnet durch Einbeziehung und Nicht-Abgesondertsein. Hierin liegt für die Kirche, wie sie gewöhnlich verstanden wird, der hauptsächliche Anruf. Ist sie geistig genug eingestellt, die Theologie fallen zu lassen und wahrhaft menschlich zu werden? Ist sie interessiert genug, den Horizont zu erweitern und alle als wahre Christen anzuerkennen, die im Geist Christi leben, ob sie nun Hindu, Mohammedaner oder Buddhist sind oder einen anderen Namen tragen als jenen der orthodoxen Christen?

Aus all dem, was wir betrachtet haben, taucht ein anderer grundlegender Gedanke auf. Mehr oder weniger sind wir heute im Begriff, aus dem Zeitalter der Autorität in das Zeitalter der Erfahrung überzugehen, und dieser Übergang zeigt möglicherweise [280] an, dass die Menschheit sich rasch zur Einweihung vorbereitet. Wir revoltieren gegen Doktrinen, haben sehr wenig Verwendung für sie, und der Grund ist, so sagt Dr. Dewey, dass ... «Anhänglichkeit an irgendwelche Doktrinen und Dogmen, die auf eine besondere Autorität gegründet sind, Misstrauen bedeutet gegen die Kraft der Erfahrung, um mit eigener, vorwärtsschreitender Bewegung die notwendigen Grundbegriffe von Glauben und Handeln zu beschaffen. Glaube in neuerem Sinn bedeutet, dass Erfahrung selbst die einzige endgültige Autorität ist». (Zitiert in: Wirklichkeit und Illusion, engl., von Richard Rothschild, S. 320) Es leuchtet ein, dass dies nicht Gleichförmigkeit bedeutet, sondern eine Erkenntnis unserer wesentlichen Einheit.