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ERSTER VORTRAG

ERSTER VORTRAG

DAS FELD DER EVOLUTION

[11]

Wahrscheinlich hat es in der Geschichte des Denkens noch nie eine Periode gegeben, die der gegenwärtigen völlig ähnlich gewesen wäre. Die Denker überall sind sich zweier Dinge bewusst: erstens, dass der Bereich des Geheimnisvollen noch nie vorher so klar definiert worden ist und zweitens, dass dieses Gebiet leichter betreten werden kann, als es bisher der Fall war. Es mag sich daraus vielleicht auch schliessen, dass wenn die Forscher aller Richtungen entschlossen und unbeirrbar weiterarbeiten, einige ihrer geheimnisse preisgegeben werden. Die Probleme, die sich uns beim Studium der bekannten Fakten des Lebens und der Existenz bieten, sind einer klaren Definition viel zugänglicher geworden, und obwohl wir die Antworten auf unsere Fragen bis jetzt noch nicht kennen, obwohl wir auch die Lösungen für unsere Probleme noch nicht gefunden haben und kein Allheilmittel greifbar ist, das die Krankheiten der Welt heilen könnte, so sind allein schon die Tatsachen, dass wir diese Probleme definieren können, dass wir die Richtung angeben können, in der das Geheimnis liegt und das Licht, das Wissenschaft, Religion und Philosophie über ausgedehnte Gebiete verbreitet haben, die früher als undurchdringlich galten, eine Garantie für zukünftigen Erfolg. Wir wissen so viel mehr als dies vor 500 Jahren, ausser in den wenigen Zirkeln weiser Männer und Mystiker, der Fall war, wir haben so viele Naturgesetze entdeckt, selbst wenn wir sie bis jetzt noch nicht anwenden können, und das Wissen «Von den Dingen, wie sie sind» (ich wähle dieses Wort bewusst) hat immense Fortschritte gemacht.

Dennoch, [12] das geheimnisvolle Land muss erst erschlossen werden und unsere Probleme sind zahlreich. Das fängt mit dem Problem unseres eigenen Lebens, was immer das sein mag, an; da ist das Problem dessen, was im weitesten Sinne als das «Nicht-Selbst» bezeichnet wird und unseren physischen Körper ebenso betrifft wie unsere Umgebung, unsere Lebensumstände und Lebensbedingungen. Falls wir mehr introspektiv geartet sind, bilden unsere individuellen Emotionen, Gedanken, Wünsche und Instinkte, durch die wir gewöhnt sind unser Handeln zu regeln, das Problem. Vielfältig sind auch die Probleme der Gruppen; warum sollte es Leiden, Hunger und Schmerz geben müssen? Warum sollte die Menschheit als Ganzes gesehen in so furchtbarer Armut, Krankheit und Beschwernis leben müssen? Welcher Zweck liegt all dem zugrunde, was wir rings um uns sehen und was wird einmal das Resultat der Weltereignisse als Ganzes sein? Was ist die Bestimmung der Menschenrasse, was ist ihr Ursprung und was erklärt ihre gegenwärtige Lage? Gibt es mehr als nur dies eine Leben und kann das einzig Interessante darin zu finden sein, was sichtbar und materiell ist? Immer wieder gehen uns solche Fragen durch den Kopf, genauso, wie sie die Denker bis zurück in die fernsten Zeiten bewegt haben. [13] Versuche, diese Fragen zu beantworten hat es genug gegeben, und wenn wir sie studieren, entdecken wir, dass die Antworten in drei Hauptgruppen zerfallen und drei prinzipielle Lösungen sich zur Betrachtung anbieten, nämlich:

Erstens der Realismus. Eine andere Bezeichnung für diese Denkweise ist Materialismus. Er lehrt, dass «das, was unserem Bewusstsein von der Aussenwelt durch die Sinne dargeboten wird, wahr ist», dass die Dinge sind, wie sie zu sein scheinen; dass Materie und Kraft, wie wir sie kennen, die einzige Wirklichkeit sind und dass es dem Menschen nicht möglich ist, hinter das Berührbare zu schauen. Er sollte sich mit den Tatsachen begnügen, wie sie sind oder wie die Wissenschaft sie ihm erklärt. Das ist zweifellos eine durchaus legitime Methode zur Lösung der Fragen, nur finden einige von uns, dass sie nicht weit genug geht. Sie lehnt es ab, sich mit irgendetwas zu befassen, was jenseits dessen liegt, was bewiesen und anschaulich gemacht werden kann und hört genau an dem Punkt auf, wo der Frager sagt: «Also, das ist so aber warum?» Sie lässt vieles ausserhalb ihrer Berechnung, was beim Durchschnitt der Menschen schon als bekannt und wahr gilt, auch wenn man sich nicht erklären kann, warum man weiss, dass es wahr ist. Überall anerkennen die Menschen die Tatsachengenauigkeit der realistischen Denkrichtungen und der materialistischen Wissenschaft, spüren aber gleichzeitig aus sich heraus, dass irgendeine lebendige Kraft vorhanden sein muss, die dieser bewiesenen Manifestation zugrundeliegt, irgendein planvoller Zusammenhang, der mit Materiebegriffen allein nicht erklärbar ist.

Zweitens gibt [14] es den Standpunkt, der vielleicht am bezeichnendsten Supranaturalismus genannt werden kann. Dem Menschen wird bewusst, dass die Dinge, nach allem was man weiss, vielleicht doch nicht ganz das sind, was sie zu sein scheinen und noch viel Unerklärbares übrigbleibt. Er erwacht zu der Erkenntnis, dass er selbst nicht lediglich eine Anhäufung physischer Atome, ein materielles Irgendwas und ein berührbarer Körper ist, sondern dass es latent in ihm ein Bewusstsein, eine Kraft gibt, die ihn mit allen anderen Mitgliedern der menschlichen Familie verbindet und gleichzeitig mit einer Macht ausserhalb seiner selbst, die er notgedrungen erklären muss. Das ist es, was zum Beispiel zur Bildung der christlichen und jüdischen Anschauung geführt hat, die einen Gott ausserhalb des Sonnensystems ansiedelt, Der es zwar geschaffen hat, Selbst aber ausserhalb blieb. Diese Glaubenssysteme lehren, dass die Welt durch eine Macht oder Wesenheit entstanden ist, welche die Welt zurecht regiert, unser kleines Menschenleben in der hohlen Hand hält und alle Dinge «liebevoll in Ordnung hält», entsprechend einer verborgenen Absicht, von der wir mit unserem endlichen Verstand keinen Schimmer haben, und die wir noch viel weniger begreifen können. Das ist der religiöse und «supranatürliche» Standpunkt. Er basiert auf dem wachsenden Selbst-Bewusstsein des Individuums und auf einem Erkennen seiner eigenen Göttlichkeit. Ebenso, wie der Standpunkt der realistischen Denkweise, stellt er lediglich eine Teilwahrheit dar und muss vervollständigt werden.

Die [15] dritte Denkrichtung können wir die Idealistische nennen. Sie postuliert einen Evolutionsprozess innerhalb jeglicher Manifestation und identifiziert «Leben» mit dem kosmischen Prozess. Sie bildet den exakten Gegensatz zum Materialismus und stellt die «übernatürliche» Gottheit des religiösen Postulats in die Position einer grossen Wesenheit oder eines Lebens, Das durch oder vermittels des Universums evolviert, ebenso, wie der Mensch durch das Mittel eines physischen Körpers evolvierendes Bewusstsein ist.

In diesen drei Standpunkten, dem eindeutig materialistischen, dem rein supranatürlichen und dem idealistischen, haben wir die Hauptdenkrichtungen, mit denen man den kosmischen Prozess zu erklären versuchte. Alle drei sind Teilwahrheiten und keine ist ohne die anderen vollständig, denn folgt man nur einer, führt jede auf Nebengeleise und in Dunkelheit und lässt das zentrale Geheimnis noch ungelöst. Werden sie zu einer Synthese gebracht, verschmolzen und vereint, verkörpern sie möglicherweise (ich lege dies nur nahe) gerade so viel von der evolutionären Wahrheit, als der menschliche Verstand auf der gegenwärtigen Evolutionsstufe erfassen kann.

Wir behandeln hier [16] grosse Probleme, mischen uns vielleicht gelegentlich in hohe und erhabene Dinge ein und überschreiten Grenzen, welche die anerkannte Domäne des Metaphysikers sind; und ausserdem unternehmen wir den Versuch, in ein paar kurzen Gesprächen zusammenzufassen, was alle Bibliotheken der Welt enthalten. Mit anderen Worten, wir versuchen das Unmögliche. Wir können also nichts weiter tun, als zuerst den einen und dann einen weiteren Aspekt der Wahrheit kurz und oberflächlich zu betrachten. Was uns dabei möglicherweise gelingen wird, kann lediglich ein Umriss der Grundrichtlinien der Evolution sein, eine Studie ihrer Bezogenheit aufeinander und auf uns selbst als bewusste Wesen; und schliesslich zu versuchen, das Wenige was wir wissen können zu verschmelzen und zu einer Synthese zu führen, bis eine generelle Idee von diesem ganzen Prozess klarer wird. Im Zusammenhang mit jeder Darstellung der Wahrheit dürfen wir nicht vergessen, dass jede von einem bestimmten Standpunkt ausgeht oder gemacht ist. Bevor wir nicht unsere mentalen Prozesse weiterentwickelt haben und ehe wir nicht fähig sind, sowohl in abstrakten als auch in konkreten Begriffen zu denken, wird es weder möglich sein, die Frage «Was ist Wahrheit?» vollständig zu beantworten, noch irgendeinen Aspekt dieser Wahrheit ganz vorurteilsfrei und unvoreingenommen zum Ausdruck zu bringen. Einige haben einen weiteren Horizont als andere und einige können die den verschiedenen Aspekten zugrundeliegende Einheit erkennen. Dagegen sind andere geneigt, ihre Ansicht und Interpretation für die [17] einzige zu halten. Ich hoffe, dass es mir in diesen Gesprächen gelingt, Ihren Blickwinkel um ein weniges zu erweitern. Denn ich hoffe, dass wir zur Erkenntnis gelangen, dass ein Mensch, der nur am wissenschaftlichen Aspekt interessiert ist und sich auf das Studium derjenigen Manifestationen beschränkt, die rein materiell sind, ebenso mit dem Studium des Göttlichen beschäftigt ist wie sein religiöser Bruder, den nur die spirituelle Seite interessiere; und dass der Philosoph ja letzten Endes den sehr notwendigen Aspekt der Intelligenz hervorhebt, die den Materieaspekt mit dem spirituellen verbindet, so dass beide in ein zusammenhängendes Ganzes übergehen. Es könnte sogar sein, dass wir durch Zusammenfügen dieser drei Linien, Wissenschaft, Religion und Philosophie, zu einer brauchbaren Kenntnis der Wahrheit gelangen, wie sie ist, wenn wir gleichzeitig nicht vergessen, dass die «Wahrheit in uns selbst liegt». Niemals umfasst die Wahrheit, die ein einzelner zum Ausdruck bringt, sämtliche Ausdrucksmöglichkeiten dieser Wahrheit; und der einzige Zweck unseres Denkvermögens ist der, uns zu befähigen, konstruktiv für uns selbst in mentaler Materie zu gestalten und mit ihr zu wirken.

Heute möchte ich nur den Plan umreissen, der den Unterbau für unsere künftigen Gespräche bilden und die wichtigsten Grundlinien der Evolution berühren soll. Am augenscheinlichsten ist natürlich die Linie, die mit der Evolution der Substanz zu tun hat, mit dem Studium des Atoms und dem Wesen der atomaren Materie. Nächste Woche werden wir darauf zu sprechen kommen. Die Wissenschaft hat uns viel über die Evolution des Atoms zu sagen und [18] hat seit dem Standpunkt von vor fünfzig Jahren eine grosse Wegstrecke bewältigt. Damals wurde das Atom als eine unteilbare Substanzeinheit angesehen; jetzt wird es als Energiezentrum und elektrische Kraft erkannt. Die Evolution der Substanz führt uns ganz natürlich zur Evolution der Formen oder der Anhäufung von Atomen und dadurch eröffnet sich die interessante Betrachtung von solchen Formen, die sich von rein materiellen unterscheiden - von Formen, die in reinerer Substanz existieren, wie etwa Gedankenformen, den rassischen Formen und den Formen von Organisationen. Bei diesem zweifachen Studium wird jeweils die Betonung auf einem der Aspekte der Gottheit liegen - falls Sie dafür den Begriff «Gottheit» nehmen wollen, oder, wenn Ihnen ein weniger konfessioneller Ausdruck lieber ist, eine der Manifestationen der Natur.

Das führt uns zu Überlegungen über die Evolution der Intelligenz oder des Faktors Denkvermögen, der sich als methodische Absicht in allem auswirkt, was wir ringsum sehen. Das wird uns eine Welt offenbaren, die nicht blind ihren Weg verfolgt, sondern hinter der sich eine Art Planung, ein bestimmtes einheitliches Schema oder organisiertes Konzept verbirgt, das sich mit Hilfe materieller Formen auswirkt. Einer der Gründe, warum sich die Dinge so schwer verständlich machen, ist auch in der Tatsache zu suchen, dass wir uns mitten in einer Übergangsperiode befinden und der Plan bisher noch nicht vollkommen ist; wir sind dem Mechanismus zu nahe, weil wir selbst ein integraler Teil des Ganzen sind. Wir sehen [19] davon ein kleines Teilchen hier und ein anderes Teilchen dort, aber die ganze Grossartigkeit der Idee ist uns noch nicht sichtbar geworden. Wohl haben wir einmal eine Vision, einen hohen Moment der Offenbarung, aber wenn wir mit den Realitäten jeder Seite in Berührung kommen, erscheint uns fraglich, ob sich das Ideal verwirklichen lässt, denn die intelligente Beziehung zwischen der Form und dem, was sie benützt, scheint von einer Angleichung noch weit entfernt.

Die Erkenntnis des Faktors Intelligenz bringt uns unvermeidlich zur Kontemplation über die Evolution des Bewusstseins in seinen vielen Formen, angefangen von den Bewusstseinstypen, die wir als untermenschlich ansehen, über die menschlichen, bis hin zu dem, was logisch als übermenschliches Bewusstsein (auch wenn das nicht demonstrierbar sein mag) postuliert werden kann. So wird die als nächstes auftauchende Frage lauten: Was ist hinter all dem verborgen? Gibt es hinter der objektiven Form und der sie belebenden Intelligenz eine Evolution, die der «Ich»- Fähigkeit, dem Ego im Menschen entspricht? Gibt es in der Natur und dem was wir rings um uns sehen etwas wie die Auswirkung der Absicht einer individualisierten, ihrer selbst bewussten Wesenheit? Wenn es solch ein Wesen, eine solche fundamentale Existenz gibt, dann müssten wir etwas von Dessen intelligenter Aktivität sehen und beobachten können, wie sich seine Pläne erfolgreich entwickeln. Selbst wenn wir nicht beweisen können, dass Gott ist und dass die Gottheit existiert, ist es immerhin möglich zu sagen, dass die Hypothese von Seiner Existenz ein vernünftiger, rationaler Vorschlag und eine mögliche Erklärung der vielen uns umgebenden Geheimnisse ist. Dazu muss aber erst einmal demonstriert werden, dass eine intelligente Absicht vermittels Formen aller Art, durch Rassen und Völker wirkt und durch alles, was wir in der modernen Zivilisation sich manifestieren sehen; die Schritte, die von dieser «Absicht» unternommen worden sind und die allmähliche Entwicklung des Plans müssen wir aufzeigen, und erst dann lässt sich möglicherweise erkennen, was uns in den künftigen Stadien bevorsteht.

Lassen Sie [20] uns einen Augenblick überlegen, was mit den Worten «evolutiver Prozess» gemeint ist. Wir gebrauchen dauernd diese Worte und im allgemeinen weiss man, dass «Evolution» ein Entfalten von innen nach aussen bedeutet, also das, was sich aus einem inneren Zentrum entwickelt. Aber es ist wichtig, die Idee klarer zu definieren, um eine deutlichere Vorstellung zu bekommen. Eine der treffendsten Definitionen, die mir untergekommen sind, besagt, dass «Evolution die Entfaltung einer stetig zunehmenden Reaktionsfähigkeit ist». Hier haben wir eine sehr einleuchtende Begriffsbestimmung bei der Betrachtung der Manifestation des Materieaspektes. Sie beinhaltet das Konzept der Schwingung und der Reaktion auf Schwingung, und selbst wenn wir mit der Zeit den Begriff «Materie» aufgeben und stattdessen vielleicht «Kraftzentrum» sagen wollen, bleibt das Konzept doch gültig und die Reaktion des Zentrums auf Stimulierung wird sogar noch genauer [21] erkennbar. Bei Betrachtung des menschlichen Bewusstseins ist genau diese Definition sogar wirklich wertvoll. Sie enthält die Idee einer allmählich zunehmenden Verwirklichung, nämlich der sich entwickelnden Antwort des subjektiven Lebens auf seine Umwelt; und sie kann uns schliesslich weiter und bis hinauf zum Ideal einer geeinten Existenz führen, welche die Synthese aller Evolutionswege ist, und zum Begreifen eines zentralen Lebens oder einer Kraft, die alle evolvierenden Einheiten verbindet und zusammenhält, ob es Materieeinheiten wie das Atom des Physikers und Chemikers, oder Bewusstseinseinheiten wie menschliche Wesen sind. Das ist Evolution, nämlich der Vorgang, der das Leben in allen Einheiten zur Entfaltung bringt, der Drang zur Entwicklung, der schliesslich zur Verschmelzung aller Einheiten und Gruppen führt, bis wir die Gesamtsumme der Manifestation haben, die Natur oder Gott genannt werden kann und die das Aggregat aller Bewusstseinszustände ist. Das ist der «Gott», auf Den sich der Christ bezieht, wenn er sagt, «in ihm leben wir, bewegen wir uns und sind wir»; das ist die Kraft oder Energie, die der Wissenschaftler anerkennt; und es ist das universale Denken oder die Überseele des Philosophen. Das ist auch der intelligente Wille, der lenkt, formuliert, bindet, erbaut und entwickelt und alles letztlich zur Vollkommenheit bringt. Das ist die der Materie selbst innewohnende Vollkommenheit und die Tendenz, die im Atom, im Menschen und in allem was ist, latent vorhanden [22] ist. Diese Interpretation sieht den Evolutionsprozess nicht als das Wirken einer ausserhalb befindlichen Gottheit, die ihre Energie und Weisheit auf eine erwartungsvolle Welt ausgiesst, sondern vielmehr als etwas, das selbst in dieser Welt latent vorhanden ist, denn es liegt verborgen im Kern des Atoms, im Herzen des Menschen selbst, im Planeten und im Sonnensystem. Es ist jenes Etwas, das alles seinem Ziel entgegentreibt und die Kraft, die allmählich aus dem Chaos Ordnung schafft; letzte Vollkommenheit aus der zeitweiligen Unvollkommenheit; Gutes aus scheinbar Bösem; und aus dem Dunkel und Unheil das, was wir eines Tages als schön, wahr und recht erkennen werden. Es ist alles das, was wir in unseren höchsten und besten Augenblicken visionär erschaut und erkannt haben.

Evolution wurde auch schon als «zyklische Entwicklung» definiert und diese Definition bringt mich auf einen Gedanken, von dem ich dringend wünsche, wir könnten ihn voll erfassen. Die Natur wiederholt sich ohne Unterlass, so lange, bis ein definitives Ende irgend einer Art erreicht ist, bestimmte konkrete Ergebnisse hervorgebracht und bestimmte Reaktionen auf Schwingungen zustandegekommen sind. Durch Erkenntnis dieser zustandegekommenen Ergebnisse ist die intelligente Absicht der innewohnenden Existenz demonstrierbar. Die hierbei anzuwendende Methode ist Unterscheidung oder intelligente Auswahl. In den Textbüchern der verschiedenen Denkschulen werden häufig Worte gebraucht, welche die gleiche generelle Idee vermitteln sollen, wie zum Beispiel «natürliche Selektion» oder «Anziehung und Abstossung». Wenn möglich möchte ich solche Fachausdrücke vermeiden, denn sie bedeuten in der einen Denkrichtung etwas ganz anderes als in einer anderen. Wenn wir ein Wort finden können, welches das gleiche sagen will, aber nicht auf eine spezielle Denkrichtung festgelegt ist, können wir unser Problem [23] in neuem Licht erkennen. Im Sonnensystem sind Anziehung und Abstossung nichts weiter als die Unterscheidungsfähigkeit des Atoms oder des Menschen, die sich in den Planeten und der Sonne demonstriert. Diese Fähigkeit findet sich in Atomen aller Art und wir können sie «Anpassung» nennen, wenn wir wollen oder die Kraft, zu wachsen und durch Zurückweisen bestimmter Faktoren und Annehmen anderer, die jeweilige Lebenseinheit ihrer Umgebung anzupassen. Im Menschen äussert sich die Unterscheidungsfähigkeit als freier Wille oder als die Fähigkeit, eine Wahl zu treffen; im geistigen Menschen ist sie als die Tendenz zu Opferbereitschaft erkennbar, denn dann wählt er eine bestimmte Handlungsweise im Hinblick auf das Wohl der Gruppe, der er angehört und lehnt ab, was rein selbstsüchtiger Natur ist.

Und schliesslich könnten wir Evolution auch als «geordnete Veränderung» und konstante Mutation definieren. Sie äussert sich als unaufhörliche Aktivität der Lebenseinheit, des Atoms, in der Wechselwirkung zwischen Gruppen und dem endlosen Einwirken von einer Kraft oder Energieart auf eine andere.

Wir sehen also, dass Evolution, ob die der Materie, der Intelligenz, des Bewusstseins oder des Geistes, in einer sich ständig steigernden Fähigkeit besteht, auf Schwingung zu reagieren; dass sie durch unaufhörlichen Wandel fortschreitet und zwar durch Anwendung eines selektiven Verfahrens, das wir Unterscheidungsfähigkeit nennen und durch die Methode zyklischer Entwicklung oder Wiederholung.

Die Stadien, [24] die den evolutiven Vorgang kennzeichnen, können grob in drei Stufen übersichtlich gemacht werden, die den Stadien im menschlichen Leben entsprechen: Kindheit, Jugend und Reife. Beim Menschen lassen sich diese Stadien im Individuum oder in der Rasse verfolgen, und je weiter die Zivilisationen fortschreiten und je mehr Zivilisationen wir hinter uns bringen, desto eher wird es möglich werden, diese dreifache Idee in der Menschenfamilie als Ganzes zu erkennen und so die göttliche Absicht durch das Studium seines Abbilds, seines Spiegelbildes, des MENSCHEN, zu ermitteln. Wir können diese drei Stadien auch in wissenschaftlicheren Begriffen ausdrücken und mit den drei beschriebenen Denkrichtungen in Verbindung bringen, und studieren sie dann als

a. die Stufe der Atomenergie,

b. die Stufe der Gruppenkohärenz,

c. die Stufe der geeinten oder zur Synthese gebrachten Existenz.

Lassen Sie mich versuchen, zu erklären, was ich meine. Die Stufe der Atomenergie betrifft grösstenteils die materielle Seite des Lebens und entspricht der Kindheitsperiode eines Menschen oder einer Rasse. Es ist die Periode der Realitätsbezogenheit, der lebhaften Aktivität, vor allem der Entwicklung durch Handeln, oder der reinen Selbstbezogenheit und des Eigeninteresses. Sie bringt die materialistische Anschauung hervor und führt unweigerlich [25] zu Egozentrik. Denn sie beinhaltet die Erkenntnis des Atoms als ein in sich Abgeschlossenes und erkennt ebenso die menschliche Einheit als ein separates, von allen anderen Einheiten abgetrenntes Leben ohne Beziehung zu den anderen Lebenseinheiten. Ein solches Stadium ist bei den wenig entwickelten Rassen der Welt, aber auch bei kleinen Kindern und Unterentwickelten zu beobachten. Sie sind normal auf sich selbst konzentriert, ihre Energien kreisen um das eigene Leben, und sie beschäftigen sich nur mit objektiven und berührbaren Dingen; ihr Charakteristikum ist eine notwendige Selbstsucht, die sie schützt. Es ist dies ein für die Entwicklung und Fortdauer der Rasse sehr wichtiges Stadium.

Aus dieser selbstbezogenen, atomischen Periode entwickelt sich die nächste, die der Gruppenkohärenz. In ihr bilden sich die Formen und Arten, bis endlich etwas kohärentes und in sich individualisiertes Ganzes entstanden ist, das jedoch aus vielen niedrigeren Individualitäten und Formen zusammengesetzt ist. Beim menschlichen Wesen entspricht das dem erwachenden Verständnis für Verantwortlichkeit und dem Erkennen des eigenen Platzes in der Gruppe. Es bedingt die Fähigkeit, seinerseits zu erkennen, dass es ein grösseres Leben gibt als das eigene, ob dieses Leben «Gott» genannt oder einfach als das Leben der Gruppe, zu der ein Mensch als Einheit gehört, aufgefasst wird, nämlich jene grosse Identität, von der jeder von uns ein Teil ist. Das entspricht der Denkrichtung die wir die «supranatürliche» genannt haben und die im Lauf der Zeit von einer zutreffenderen, breiteren Konzeption abgelöst werden muss. Wie wir bereits gesehen haben, entwickelte sich das erste (Atom) Stadium durch das Mittel der Selbstsucht oder das selbstzentrierte Leben des Atoms (ob des Substanzatoms oder des menschlichen Atoms). Das [26] zweite Stadium kommt zur Vollendung durch das Opfer der einzelnen Einheit für das Wohl der Vielen und des Atoms für die Gruppe von Atomen, in der es seinen Platz hat. Über dieses Stadium wissen wir bis jetzt praktisch noch wenig und es ist das, was wir uns oft visionär vorstellen und erhoffen.

Das dritte Stadium liegt noch in weiter Ferne und mag vielleicht als wesenloses Hirngespinst gelten. Aber für einige von uns ist es eine Vision, die gegenwärtig zwar noch unerreichbar, aber dennoch logisch möglich ist, wenn unsere Prämissen korrekt sind und unsere Begründung richtig definiert ist. Es ist das Stadium der «geeinten Existenz». In dieser Vereinigung wird es nicht nur die getrennten Bewusstseinseinheiten geben, nicht nur die differenzierten Atome innerhalb der Form, nicht nur die aus einer Vielfalt von Identitäten zusammengesetzte Gruppe, sondern wir werden das Aggregat aller Formen, aller Gruppen und Bewusstseinszustände verschmolzen, vereint und in einem vollkommenen Ganzen zur Synthese gebracht erleben. Dieses Ganze mag man das Sonnensystem nennen, oder die Natur, oder man nennt es Gott. Namen tun nichts zur Sache. Dieses Stadium entspricht dem Erwachsensein im Menschen, es findet seine Analogie zur Periode der Reife und zu der Stufe, in der ein Mensch sich ein definitives Ziel und einen Lebenszweck geschaffen haben sollte, mit einem festumrissenen Plan vor Augen, den er mit Hilfe seiner Intelligenz zu verwirklichen [27] sucht. Wenn es mir gelingt, möchte ich zeigen, dass im Sonnensystem, im Planeten, in der menschlichen Familie und im Atom etwas derartiges vor sich geht. Ich bin sicher, wir werden beweisen können, dass es eine Intelligenz gibt, die allem zugrundeliegt; und dass aus Sondersein Einheit kommen wird, die durch Verbindung und Verschmelzung zu Gruppen hervorgerufen wird; und dass schliesslich aus den vielen Gruppen das eine vollkommene, voll bewusste Ganze hervorkommen wird, das aus Myriaden getrennter Identitäten zusammengesetzt ist, beseelt von einer Absicht und einem Willen. Wenn das so ist, was ist dann der nächste praktische Schritt für diejenigen, die zu dieser Erkenntnis gekommen sind? Wie können wir dieses Ideal praktisch auf unser Leben anwenden und unsere unmittelbare Pflicht mit Gewissheit erkennen, damit wir an diesem Plan teilnehmen und ihn bewusst fördern können? In diesem kosmischen Prozess hat jeder von uns zweifellos seinen winzigen Anteil und darum sollte jeder tätig verbrachte Tag uns die uns zugedachte Rolle mit intelligentem Verständnis spielen sehen.

Unser erstes Ziel ist ganz eindeutig die Verwirklichung unserer selbst durch die Praxis der Unterscheidungsfähigkeit. Wir müssen lernen, klar und selbständig zu denken, unsere eigenen Gedanken zu formulieren und unsere eigenen mentalen Vorgänge zu handhaben; wir müssen lernen, zu wissen was wir denken und warum wir es denken, wir müssen das Gesetz des Opfers studieren, um den Sinn des Gruppenbewusstseins herauszufinden. Wir müssen uns nicht nur durch das primäre Kindheitsstadium des Egoismus hindurchfinden (das gewiss schon hinter uns liegen sollte) und nicht nur lernen, das Wirkliche vom Unwirklichen zu unterscheiden, sondern wir müssen danach trachten, zu etwas noch weit Besseren weiterzustreben. Unser [28] unmittelbares Ziel müsste es sein, die Gruppe zu finden, zu der wir gehören. Wir gehören nicht zu allen Gruppen und können auch nicht bewusst unseren Standort in dem einen grossen Körper finden. Aber wir können eine Gruppe finden, in der wir wirklich unseren Platz haben, eine Gemeinschaft von Menschen, mit denen wir gemeinsam denken und zusammenarbeiten, Brüder oder Schwestern, denen wir auf vielerlei Weise beistehen oder helfen können. Das bezieht sich eigentlich auf die bewusste Kontaktaufnahme mit dem Ideal der Brüderlichkeit - bis wir uns zu dem Stadium entwickelt haben werden, in dem dann unsere Erkenntnis universal ist. Das bedeutet, den ganz bestimmten Kreis von Brüdern zu finden, die wir lieben und denen wir durch das Gesetz des Opfers und durch Umwandlung von Selbstsucht in liebenden Dienst helfen können. So gelangen wir zur Kooperation mit der generellen Absicht und zur Teilnahme am Lebenszweck der Gruppe.