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KAPITEL IV -Teil 1

KAPITEL IV

Walter Evans hatte mich verlassen, als ich fünfunddreissig Jahre alt war. Ich habe oft beobachtet, dass dieses Alter häufig ein Wendepunkt im Leben vieler Menschen bedeutet. Wenn jemand überhaupt seine Lebensaufgabe finden oder in irgendeinem Leben ein bestimmtes Mass an Gewissheit und Nützlichkeit erreichen soll, dann wird es um diese Zeit herum dazu kommen. Numerologen werden wohl als Grund dafür angeben, dass 7 X 5 = 35 ist; dabei deutet sieben auf einen vollständig abgeschlossenen Zyklus und das Eingangstor zu neuer Erfahrung, während fünf die Zahl des Denkprinzips und jener intelligenten Kreatur ist, die wir Mensch nennen. Ob das stimmt, weiss ich nicht. Ich bin sicher, dass an der Numerologie etwas dran ist, denn man sagt, dass Gott durch Zahlen und Formen wirkt; aber von den gewöhnlichen numerologischen Schlussfolgerungen habe ich nie viel gehalten.

Tatsache bleibt immerhin, dass ich im Jahr 1915 in einen ganz neuen Lebenszyklus eintrat, dass ich erstmalig merkte, dass ich ein Denkvermögen besass und es auch anwandte, wobei ich seine Biegsamkeit und Kraft entdeckte und es als «Scheinwerfer» in meine eigenen Angelegenheiten und Ideen, in die Welt meiner weiteren Umgebung und in ein Forschungsgebiet hineinleuchten liess, das man geistig nennen könnte, - in die Welt, die der alte Hindulehrer Patanjali die «Regenwolke erkennbarer Dinge» nennt.

Während der schwierigen Zeit, die ich als Fabrikarbeiterin durchmachte, kam ich mit der Theosophie in Berührung. Trotz ihrer schönen und umfassenden Bedeutung mache ich mir aus dieser Bezeichnung nichts, denn die öffentliche Meinung verbindet damit so viel, was sie ihrem Wesen nach nicht ist. Ich hoffe im weiteren Verlauf - soweit mir das möglich ist - zu zeigen, was die Theosophie in Wirklichkeit ist. Mir eröffnete sich damit eine neue geistige Lebensepoche.

In Pacific Grove lebten damals zwei englische Frauen, die der gleichen britischen Gesellschaftsschicht entstammten wie ich. Ich war ihnen nie vorgestellt worden, hatte aber das Verlangen, sie kennenzulernen, hauptsächlich weil ich einsam war. Ich hätte gern mit jemandem aus der alten Heimat gesprochen, und ich war ihnen auf den Strassen der kleinen Stadt verschiedentlich begegnet. Eines Tages hörte ich gerüchtweise, sie würden zur Besprechung irgendeines merkwürdig klingenden Themas eine Versammlung in ihrem Haus abhalten und es gelang einer gemeinsamen Freundin, mir dazu eine Einladung zu verschaffen. Was mich zum Hingehen veranlasste, war also ein rein persönliches Motiv. Ich ging hin, nicht um etwas Neues oder Interessantes zu hören oder um Hilfe zu erhalten, sondern weil ich einfach mit diesen beiden Frauen bekannt werden wollte.

Den Vortrag fand ich sehr langweilig und den Redner sehr dürftig. Ich kann mir überhaupt keinen schlechteren Redner vorstellen. Er begann ohne alle Umschweife mit der Behauptung, dass «vor neunzehn Millionen Jahren die Herren der Flamme von der Venus kamen und im Menschen den Keim des Denkvermögens einpflanzten». Abgesehen von den anwesenden Theosophen glaube ich nicht, dass irgend jemand im Zimmer wusste, wovon er sprach. Nichts von dem, was er sagte, hatte irgendwelchen Sinn für mich. Ein Grund dafür war der, dass ich zu jener Zeit das Anfangsdatum des evolutionären Zyklus der Bibel entnahm, und der Bibel zufolge fand die Erschaffung der Welt im Jahr 4004 v. Chr. statt. Ich war mit meinen Haushalts- und Mutterpflichten viel zu beschäftigt gewesen, als dass ich zum Lesen aller landläufigen Bücher über Evolution Zeit gefunden hätte. Ich bin nicht sicher, ob ich überhaupt an Evolution glaubte und entsinne mich, dass ich Darwin und Herbert Spencer mit einem Gefühl der Schuld und der Abtrünnigkeit von Gott las. Der Gedanke, die Welt könne neunzehn Millionen Jahre alt sein, kam mir geradezu wie eine Gotteslästerung vor.

Der Vortragende wanderte in der gesamten Gedankenwelt herum. Er sagte seinen Zuhörern, dass ein jeder von ihnen einen Kausalkörper habe, und dass dieser Kausalkörper anscheinend von einem Agnishvatta bewohnt sei. Das schien mir ein kompletter Blödsinn zu sein und ich bezweifle, ob ein derartiger Vortrag überhaupt jemandem nützt. Ich fasste damals den Entschluss, dass wenn ich jemals Vorträge halten würde, ich mir alle Mühe geben wollte, genau das Gegenteil von dem zu sein, was dieser theosophische Redner war. Eines hatte ich aber gewonnen - die Freundschaft dieser beiden Frauen. Sie nahmen sich sofort meiner an und gaben mir Bücher zu lesen; ich ging in ihrem Haus ein und aus, unterhielt mich mit ihnen und stellte viele Fragen.

Meine Tage wurden von da ab sehr lang. Ich stand um vier Uhr morgens auf, um das Haus sauber zu machen und das Mittagbrot für die Kinder vorzubereiten; nachdem ich sie gewaschen und angezogen hatte, gab ich ihnen um sechs ihr Frühstück. Um halb sieben brachte ich sie dann gewöhnlich zu meiner Nachbarin, und dann ging's zur Fabrik, wo ich diese elenden Sardinen verpackte. Mein zweites Frühstück habe ich bei schönem Wetter meistens an einem kleinen Badestrand gegessen, und gegen vier oder halb fünf war ich dann wieder zu Hause. Zur Winterszeit spielte ich zu Hause mit den Kindern oder las ihnen etwas vor. Im Sommer nahm ich sie gewöhnlich mit an den Strand. Um sieben Uhr waren wir dann wieder zu Hause zum Abendbrot, und dann wurden sie alle drei ins Bett gesteckt. Nachdem ich die Wäsche eingeweicht oder den Brotteig angemacht hatte, kroch ich dann selbst ins Bett und las meistens bis Mitternacht.

Ich habe immer zu den Leuten gezählt, die ihrem Temperament nach sehr wenig Schlaf brauchen. Als ich noch ein ganz kleines Mädchen war, sagte mir ein Arzt, der mich sehr gut kannte, ich brauchte nicht mehr als vier Stunden Nachtschlaf, und er hatte durchaus recht. Bis zum heutigen Tag stehe ich gewöhnlich um 4 Uhr 30 auf, nehme mein Frühstück ein und dann schreibe und arbeite ich bis 7. Das ist von jeher mein Lebensrhythmus gewesen und das erklärt vielleicht, warum ich soviel leisten konnte.

Ein anderer Grund, der mir half, anstrengende Arbeit zu leisten, war die streng geregelte Disziplin meiner Mädchenzeit. Ich konnte einfach nicht dem Müssiggang verfallen. Man erlaubte mir nie, müssig zu sein und deshalb bin ich's auch nie. Da ist noch ein dritter Grund, der sich vielleicht für viele andere als nützlich erweisen könnte. Es gab so vieles, was ich wissen wollte, und ich musste für so vieles Zeit finden, ohne dabei meine Kinder zu vernachlässigen. Ich vernachlässigte die Kinder auch nie, aber dazu brauchte ich einen Plan, ein methodisches Vorgehen und allerhand Selbstdisziplin. Ich lernte bügeln, mit einem Buch vor mir, und bis zum heutigen Tag kann ich lesen und dabei bügeln, ohne die Kleider anzusengen. Ich lernte beim Lesen Kartoffeln schälen, ohne mich in die Finger zu schneiden, und ich kann Erbsen aushülsen und Bohnen entfäden, während ich ein Buch vor mir habe. Ich lese stets, wenn ich nähe oder flicke. Das lernte ich, weil ich es mir einfach vornahm, und viele Frauen könnten das ebenso machen, wenn sie wissensdurstig genug sind. Das Schlimme ist eben nur, dass viele von uns das gar nicht anstreben oder versuchen. Ich lese auch äusserst schnell und erfasse ganze Absätze oder sogar Seiten ebenso schnell, wie andere einen einzigen Satz lesen. Ich weiss nicht mehr, wie man diese visuelle Fähigkeit technisch nennt. Viele könnten es ebenso und noch besser tun, wenn sie bloss den Versuch machten.

Ich kam sozusagen zu einer Vereinbarung mit meinem Gewissen in bezug auf meine Mutter- und Haushaltspflichten. Ich hatte eine mir bekannte Frau beobachtet, die fünf Kinder hatte. Anscheinend hatte sie vom Himmel den Ruf erhalten, in die Welt zu gehen und das Wort zu verkünden, und sie ging auch und lehrte - auf Kosten der Kinder, die sie unter der Obhut ihrer ältesten Tochter, die eben erst fünfzehn war, zu Hause liess. Das Kind tat, was es konnte, aber für vier andere Kinder zu sorgen ist eben keine Kleinigkeit. Wir mussten alle mit einspringen und helfen, sie abzufüttern und zu baden und, wenn nötig, zu bestrafen. Das war mir eine Lehre und ein entsetzlich abschreckendes Beispiel. Ich beschloss also, meinen Kindern und meinem Haushalt meine ganze Zeit zu widmen, bis sie wenigstens halb erwachsen sein würden. Als sie soweit waren und sich selbst nützlich machen konnten, mussten sie mir die Arbeit wenigstens zur Hälfte abnehmen.

Etwa im Jahr 1930, als sie praktisch alle erwachsen waren, sagte ich ihnen, ich stünde ihnen als Beraterin und Mutter zur Verfügung, aber nachdem ich ihnen nahezu volle zwanzig Jahre gewidmet hätte, müssten von jetzt an meine öffentlichen Pflichten den Vorrang bekommen. Ich bat sie, daran zu denken, dass ich immer da sein würde und ich denke, sie haben das auch getan oder werden es tun, auch wenn ich nicht mehr da bin.

So las ich, studierte und dachte nach. Mein Denkvermögen erwachte, als ich mich mit den dargebotenen Ideen abmühte und meine eigenen Anschauungen mit den neuen Begriffen in Einklang zu bringen suchte. Dann lernte ich zwei sehr alte Damen kennen, die nebeneinander in zwei kleinen Landhäuschen lebten. Sie waren einander unentbehrlich und stritten sich ständig. Beide waren persönliche Schülerinnen von H. P. Blavatsky und hatten mit ihr zusammen studiert und ihre Ausbildung erfahren.

Ich war gerade mit ihrem grossen Buch «Die Geheimlehre» bekannt geworden. Es interessierte mich lebhaft, aber es verwirrte mich vollkommen. Ich konnte einfach nicht daraus klug werden. Es ist ein schwieriges Buch für Anfänger, denn es ist schlecht zusammengestellt und hat keinen einheitlichen Zusammenhang. H. P. B. fängt mit einem Thema an, gerät in ein anderes hinein, bespricht ein drittes in allen Einzelheiten, und wenn man danach sucht, findet man schliesslich, dass sie sechzig oder siebzig Seiten später auf ihr ursprüngliches Thema zurückkommt.

Claude Falls Wright, H. P. Blavatskys Sekretär, hat mir selbst erzählt, dass H. P. B. beim Abfassen ihres monumentalen Werkes (denn das ist es zweifellos) eine Seite nach der anderen schrieb, ohne diese zu numerieren, und dass sie dann die fertigen Seiten einfach neben sich auf den Boden warf. Wenn sie mit ihrer Tagesarbeit fertig war, pflegte dann Mr. Wright und ihre anderen Gehilfen die Blätter aufzusammeln und dabei zu versuchen, diese irgendwie in eine Reihenfolge zu bringen; er sagt, es sei ein Wunder, dass das Buch überhaupt so klar herauskam. Die Veröffentlichung dieses Buches war indessen ein Weltereignis, und die darin enthaltene Lehre hat das menschliche Denken von Grund auf umgewandelt, so wenig man das auch klar erkennen mag.

Die Stunden, die ich dem Studium dieses Buches gewidmet habe, betrachte ich als einige der wertvollsten meines Lebens, und die erhaltene Wissensgrundlage hat mich zu meinen besten Leistungen auf okkultem Gebiet befähigt. Ich sass nachts im Bett und las die «Geheimlehre», und vernachlässigte allmählich meine bisherige Gewohnheit, die Bibel zu lesen. Ich liebte das Buch, und dabei war es mir doch in mancher Beziehung im Herzen zuwider. Ich hielt es für schlecht abgefasst, ungenau und unzusammenhängend, und kam doch nicht mehr davon los.

Dann nahmen sich diese beiden alten Damen meiner an. Tagein tagaus erteilten sie mir wochenlang Unterricht. Um ihnen näher zu sein, bezog ich in ihrer Nachbarschaft ein kleines Haus. Die Kinder konnten dort ohne Gefahr im Garten spielen und auf die Bäume klettern, ohne dass ich mich um sie zu sorgen brauchte. Während sie spielten, sass ich dann gewöhnlich auf der Veranda im Haus einer der beiden Damen, unterhielt mich mit ihnen und hörte ihnen zu. Viele von H. P. B.'s persönlichen Schülern haben mir geholfen und sich persönlich bemüht, mir klarzumachen, welchen Einfluss die Veröffentlichung der «Geheimlehre» auf das menschliche Denken ausgeübt hat. Ich habe oft über die orthodoxen Theosophen lachen müssen, die meine Darstellung theosophischer Wahrheit missbilligten. Wenige, wenn überhaupt jemand von denen, die auf diese Weise gegen mich auftraten, haben je den Vorzug gehabt, wochen- und monatelang von persönlichen Schülern der H. P. B. unterrichtet zu werden, und ich glaube bestimmt, dass ich dank diesen alten Schülern eine klarere Vorstellung von der eigentlichen Bedeutung der «Geheimlehre» habe als sie. Warum auch nicht? Ich erhielt guten Unterricht, und bin dafür dankbar.

Ich war der Theosophischen Loge in Pacific Grove beigetreten und begann Unterricht zu erteilen und Vorlesungen zu halten. Ich erinnere mich noch an das erste Buch, das ich auszulegen begann. Es war jenes grosse Buch von Annie Besant «Eine Betrachtung über Bewusstsein» (A Study in Consciousness). Ich wusste nichts von Bewusstsein und konnte den Begriff unmöglich definieren, aber ich blieb der Klasse immer sechs Seiten voraus und brachte es auf diese Weise fertig, mich irgendwie durchzuschlagen. Sie fanden nie heraus, wie wenig ich wusste. Was immer die Klasse gelernt haben mag, das weiss ich jedenfalls, dass ich selbst sehr viel dabei lernte.

Was war es nun eigentlich, was ich lernte und was mein fragendes Denken und mein beunruhigtes Herz zu befriedigen begann? Ich fand mich auf dem Höhepunkt uferlosen Unbefriedigtseins mir selbst überlassen. Ich war damals nur von zwei Dingen absolut überzeugt, nämlich von der Tatsache Christi und von gewissen inneren Kontakten, die ich unmöglich leugnen konnte, ohne mir dabei selbst untreu zu werden, obwohl ich sie nicht erklären konnte. Jetzt ging mir zu meinem Erstaunen allmählich ein Licht auf. Ich entdeckte drei (für mich) neue Grundideen, die mit der Zeit in mein allgemeines, geistiges Lebensprogramm hineinpassten und mir einen Schlüssel zum Weltgeschehen gaben. Dabei darf man nicht vergessen, dass damals gerade die erste Phase des Weltkrieges (1914-1918) im Gang war, während ich diese Zeilen gegen Ende der zweiten Phase (1939-1945) schreibe.

In erster Linie entdeckte ich, dass es einen grossen, göttlichen Plan gibt. Ich stellte fest, dass unser Universum kein «zufälliges Zusammentreffen von Atomen», sondern vielmehr die Ausführung eines grossen Projektes oder Entwurfes ist, die Gottes Herrlichkeit zum letzten Ziel hat. Ich stellte fest, dass eine Rasse nach der anderen auf unserem Planeten erschienen und wieder verschwunden war, und dass jede Kultur und Zivilisation die Menschheit auf dem Pfad ihrer Rückkehr zu Gott immer wieder einen Schritt weitergebracht hatte. Zweitens entdeckte ich das Vorhandensein derjenigen, die für die Durchführung dieses Planes verantwortlich sind und welche die Menschheit Schritt für Schritt von einem Entwicklungsstadium zum andern durch die Jahrhunderte hindurch geführt haben. Ich machte die (ob meines geringen Wissens) erstaunliche Entdeckung, dass die Lehre über diesen Pfad oder Plan überall dieselbe war, ganz gleich, ob sie im Osten oder im Westen, ob sie vor oder nach Christi Geburt im menschlichen Bewusstsein aufgetaucht war. Ich fand heraus, dass das Haupt dieser Hierarchie geistiger Führer Christus ist, und als mir das klar wurde, da fühlte ich, dass er mir in noch engerer und vertrauterer Form wiedergegeben worden war. Ich fand heraus, dass er der «Meister aller Meister und der Lehrer der Engel sowohl als auch der Menschen» war. Ich kam darauf, dass die Meister der Weisheit seine Schüler und Jünger sind, so, wie ich und andere Gleichgesinnte Schüler irgendeines Meisters sind. Wenn ich in meinen orthodoxen Tagen von Christus und seiner Kirche gesprochen hatte, so wusste ich jetzt, dass ich eigentlich Christus und die planetarische Hierarchie meinte. Ich fand, dass die esoterische Darstellung der Wahrheit in keiner Weise Christus verkleinerte. Er war in der Tat Gottes Sohn, der Erstgeborene in einer grossen Familie von Brüdern, wie uns der hl. Paulus versichert hatte, und der Bürge für unsere eigene Göttlichkeit.

Die dritte Lehre, die ich entdeckte, und die mir lange Zeit schwer zu schaffen machte, war der Doppelglaube an das Gesetz der Wiedergeburt und das Gesetz von Ursache und Wirkung, was die Theosophen, die sich oft und gern gelehrt ausdrücken, Karma und Reinkarnation nennen. Persönlich glaube ich, dass diese an sich höchst notwendige Lehre einen weit schnelleren Fortschritt gemacht hätte, wenn sich die Theosophen nicht so von den Sanskritbegriffen hätten berauschen und verblenden lassen. Wenn sie von der Lehre der Wiedergeburt anstatt von der Reinkarnation gesprochen und das Gesetz von Ursache und Wirkung anstelle des Gesetzes von Karma dargestellt hätten, dann hätte die Wahrheit vielleicht eine allgemeinere Anerkennung gefunden. Das sage ich nicht im kritischen Sinn, denn ich selbst fiel dieser Verblendung zum Opfer. Wenn ich jetzt so an meine ersten Unterrichtskurse und Vorlesungen zurückdenke, dann muss ich über die hochtrabende Art lachen, mit der ich die technischen Einzelheiten und Bedeutungen der Ewigen Weisheit in gewichtigen Sanskritausdrücken erläuterte. Je älter ich werde, um so einfacher scheine ich zu werden, und vielleicht bin ich auch ein wenig weiser geworden.

Mit der Entdeckung, dass es ein Gesetz der Wiedergeburt gibt, erschienen mir viele meiner persönlichen und individuellen Probleme lösbar. Viele, die das Studium der Ewigen Weisheit aufnehmen, finden es am Anfang schwer, das Gesetz der Wiedergeburt als Tatsache anzuerkennen. Es scheint so umwälzend zu sein und erweckt so leicht ein Gefühl der Ermüdung und geistigen Abspannung. Ein Leben allein scheint schon hart genug, gar nicht zu denken an viele andere Leben, vergangene und künftige. Wenn man jedoch andere, von dieser Theorie abweichende Möglichkeiten überprüft, dann erscheint sie am Ende doch als die beste und überzeugendste von allen. Es gibt überhaupt nur zwei andere Theorien, die wirklich ernste Beachtung verdienen. Eine davon ist die mechanistische Weltanschauung, die den Menschen lediglich als materiell, seelenlos und vergänglich betrachtet, und nach der er sich bei seinem Tod wieder in den Staub auflöst, aus dem er hervorgegangen war. Denken ist nach dieser Theorie bloss eine Absonderung und Betätigung des Gehirns, genauso, wie andere Organe ihre ganz bestimmten Absonderungen in wahrnehmbarer Form hervorbringen; das menschliche Dasein entbehrt demnach jeder Zweckbestimmung und jeder Begründung. Diese Ansicht konnte ich nicht annehmen, und sie ist auch nirgends weit verbreitet.

Dann gibt es die Theorie der «einmaligen Schöpfung» der orthodoxen Christen, und diese hatte auch ich angenommen, ohne mir über ihre Wahrscheinlichkeit irgendwelche Gedanken zu machen. Sie setzt einen unerforschlichen Gott voraus, der menschliche Seelen in einem einzigen Leben inkarnieren lässt, dessen kurze Spanne dann entsprechend ihrem Handeln und Denken ihre ewige Zukunft entscheiden soll. Diese Theorie lässt den Menschen ohne jede Vergangenheit, sie räumt ihm nur eine wichtige Gegenwart und eine endlose Zukunft ein - eine Zukunft, die von den Entscheidungen eines einzigen Lebens abhängt. Was Gott dazu bestimmt, dem einzelnen Menschen seine besondere Stellung, Erziehung und Ausrüstung anzuweisen, bleibt unbekannt. Was er nach diesem «einmaligen Schöpfungs»-Plan tut, entbehrt jeder Begründung. Ich hatte mir über die offensichtliche Ungerechtigkeit Gottes schon soviel Gedanken gemacht. Warum sollte gerade ich unter solch günstigen Umständen geboren worden sein, mit Geld, gutem Aussehen, mancherlei günstigen Gelegenheiten und den vielen, interessanten Erfahrungen, die mir das Leben gebracht hatte? Warum sollte es Leute geben, wie den ärmlichen, kleinen Soldaten, vor dem mich Miss Sandes gerettet hatte, der ohne jede geistige Ausrüstung geboren war und offensichtlich jeder Erziehung ermangelte, der weder Geld noch die Befähigung besass, in diesem Leben irgendwelchen Erfolg zu erzielen? Erst jetzt wusste ich, warum ich ihn Gott überlassen konnte; jetzt verstand ich, dass sowohl er als auch ich auf verschiedenen Standorten, von einem Leben zum anderen, die Evolutionsleiter emporklimmen würden, bis sich eines Tages für beide von uns in gleicher Weise das Wort bewahrheiten würde: «Gleich wie er ist, so sind auch wir in dieser Welt».(1. Joh. 4, 17)

«Was der Mensch sät, das wird er auch ernten» (Gal. 6, 7) erschien mir ein vernünftiges Wort zu sein und ich entdeckte mit Freude, dass ich den Apostel Paulus und sogar Christus als Zeugen für diese Lehren anführen durfte. Klares Licht kam in die alte Theologie. Ich entdeckte, dass der einzige Übelstand in der menschlichen Auslegung der Wahrheit lag, und es wurde mir klar, wie albern es ist, dass wir dies oder jenes hinnehmen sollen, bloss weil irgendein gelehrter Kanzelredner oder Theologe es als Gottes Meinung hinstellt. Er könnte ja recht haben, und in diesem Fall könnte man das auch intuitiv nachempfinden; aber die Intuition tritt erst dann in Kraft, wenn das Denkvermögen entwickelt ist, und daran hat es eben vielfach gehapert. Die grosse Masse der Menschen denkt nicht, und der orthodoxe Theologe findet daher stets Anhänger, ganz gleich, was er sagen mag. Trotz bester Absichten nutzt er die Gedankenlosen aus. Es wurde mir auch klar, dass wirklich kein Grund dafür besteht, eine bestimmte sechshundert Jahre alte (und wahrscheinlich der damaligen Zeit angepasste) Bibelauslegung eines Priesters oder Lehrers auch heute, in einer ganz anderen Zeit und mit einer ganz anderen Zivilisation und grundverschiedenen Problemen, als annehmbar zu betrachten. Wenn Gottes Wahrheit wirklich wahr ist, dann wird sie erweiterungsfähig und inklusiv, nicht aber reaktionär und exklusiv sein. Wenn Gott wirklich Gott ist, dann wird seine Göttlichkeit sich der göttlichen Entfaltung der Gottessöhne anpassen, und ein heutiger Gottessohn dürfte immerhin ein ganz anderer Repräsentant des Göttlichen sein, als einer seiner Vorfahren vor fünftausend Jahren.

Man sieht also, wie mein gesamter, geistiger Horizont sich erweiterte. Der Himmel lichtete sich, und ich war nicht länger ein vereinzelter, verlassener und sich mühender Jünger, der nichts Genaues weiss und auch kein klares Ziel vor Augen hat. Es wurde mir allmählich klar, dass ich einer grossen Brudergemeinschaft angehörte. Es leuchtete mir ein, dass es mir freistand, am grossen Plan mitzuwirken, meine Mitarbeiter aus früheren Leben ausfindigzumachen, eine möglichst fruchtbringende Saat zu säen und meinen Platz im Werk Christi einzunehmen. Ich wollte mich bemühen, etwas näher an jene geistige Hierarchie heranzukommen, von deren Bestehen ich in meinem Unterbewusstsein stets überzeugt gewesen war und die anscheinend Helfer brauchte.

Das waren die Dinge, die sich in den Jahren 1916 und 1917 stufenweise in meinem Bewusstsein entfalteten. Sie zeigten sich nicht als klarumrissene und formulierte Ideen, sondern als Wahrheiten, die ich langsam erkannte, denen ich mich nach und nach anpasste und für die ich praktische Verwendung finden musste. Ich beobachtete mein eigenes Leben. Ich dachte in diesem Zusammenhang über meine drei Mädchen nach und fand das höchst aufschlussreich. Ich fand, dass das Karma, das mich mit meiner jüngsten Tochter Ellison verbindet, hauptsächlich physischer Art ist. Ich hatte sie Jahr um Jahr durch gewissenhafte Pflege am Leben erhalten. Acht Jahre lang liess ich sie auf ärztliche Verordnung hin bei mir im Bett schlafen, damit sie meine Vitalität in sich aufnehmen konnte. Dadurch, dass ich sie tagein tagaus sorgfältig überwachte und, ihr keinerlei körperliche Anstrengung wie Bergaufgehen oder Treppensteigen gestattete, überwand sie ihre Herzbeschwerden, und heute ist sie die Kräftigste in der ganzen Familie. Ellison zeigt in keiner Weise, dass sie mich heute noch braucht. Sie ist glücklich verheiratet, lebt in Indien und hat zwei Kinder. Ich bin sicher, dass sie auf mich stolz ist, aber unsere Beziehung liegt in der Vergangenheit. Mit meiner ältesten Tochter bin ich aufs engste verbunden, und das ist wahrscheinlich der Grund, warum wir so schrecklich viel Krach miteinander haben. Wir stehen uns innerlich sehr nahe, und obwohl ich sie augenblicklich nur selten zu Gesicht bekomme, bin ich ihrer und ist sie meiner gewiss. Meine zweite Tochter, Mildred, steht mir karmisch sehr nahe. Wir hängen merkwürdig aneinander, und doch weiss ich, dass sie sich innerlich frei fühlt. Obwohl sie zweimal verheiratet war, sind wir unter den eigenartigsten Umständen stets beieinander geblieben, und ich war ihr für ihre Liebe und vor allem für ihre Freundschaft dankbar. Es wäre so gut, wenn Mütter und Töchter, Väter und Söhne auf freundschaftliche Beziehungen mehr Wert legten, als das meistens der Fall ist. Wenn ich in unsere vergangenen Beziehungen gemäss dem Gesetz der Wiedergeburt hineinschauen könnte, so würde ich ganz bestimmt eine genaue Erklärung für das heutige, wirklich angenehme Verhältnis zwischen meinen drei Mädchen und mir finden. Daraus sollte man allerdings nicht schliessen, dass wir etwa jederzeit miteinander auskommen. Es hat stürmische Szenen und Missverständnisse gegeben. Sie haben mich nicht immer verstanden, ich habe oft schwer um sie gebangt und manches ändern wollen, oft gehofft sie würden anders handeln usw. usw..

Gegen Ende des Jahres 1917 ging Walter Evans mit dem C. V. J. M. nach Frankreich; mein Freund, der Bischof, richtete es so ein dass ich eine monatliche Unterstützung von einhundert Dollar von Evans Gehalt bekommen sollte. Dieser Betrag wurde mir vom C. V. J. M. direkt zugesandt, solange er für den Verein tätig war. Diese Unterstützung, zusammen mit meinem eigenen, kleinen Einkommen (das wieder regelmässiger durchzusickern begann) erlaubte es mir, meine Arbeit als Sardinenpackerin aufzugeben und andere Pläne zu machen. Meine Betätigung in der Theosophischen Loge von Pacific Grove hatte einen gewissen Erfolg, und ich wurde als Schülerin einigermassen bekannt.

In Anbetracht meiner ziemlich geregelten, finanziellen Lage machte man mir den Vorschlag, nach Hollywood zu ziehen, wo die Theosophische Gesellschaft in Krotona ihren Hauptsitz hatte. Dazu entschloss ich mich denn auch, und gegen Ende 1917 zogen wir dorthin. Ich fand ein kleines Haus in der Nähe des Hauptbüros der T. G. und richtete mich dort mit meinen drei Kindern am Beechwood Drive häuslich ein.

Hollywood war zu jener Zeit noch verhältnismässig unverdorben. Die Filmindustrie war natürlich das Hauptunternehmen, aber die Stadt war damals noch recht einfach. Alle Hauptstrassen waren mit Pfefferbäumen eingesäumt, und es gab noch nicht die Atemlosigkeit, die wilde Hast, die leicht vergängliche Pracht und den Flitterglanz des heutigen, modernen Hollywood. Es war damals noch ein freundlicher und angenehmer Ort. Ich möchte an dieser Stelle ausdrücklich erwähnen, dass die innere Gesundheit, Freundlichkeit, Grosszügigkeit und das menschliche Einfühlungsvermögen der führenden Filmgrössen auf mich einen bleibenden Eindruck machten. Ich wurde mit vielen Filmleuten bekannt, und es waren prächtige und durchaus natürliche Menschen. Selbstverständlich gab es da auch schlechte Elemente, aber in welcher Gesellschaftsschicht gibt es die nicht? In allen Gruppen, Gemeinschaften und Organisationen gibt es üble Charaktere; überall gibt es hervorragend gute Menschen und mittelmässige, bedeutungslose Personen, die noch nicht genügend entwickelt sind, um sehr gut oder sehr schlecht zu sein.

Als ich vor ein paar Jahren die Fifth Avenue herunterfuhr, wandte sich der Taxifahrer nach mir um und sagte: «Sagen sie, Madame, haben sie je einen netten Juden gekannt?» Ich sagte, das hätte ich bestimmt, und einige meiner vertrautesten Freunde seien Juden. Dann fragte er, ob ich je einen üblen Juden kennengelernt hätte, und ich antwortete, dass ich gar manchem von der üblen Art begegnet sei. Dann fragte er weiter, ob ich einen netten Nichtjuden kenne, und ich antwortete natürlich: «Sicher, dazu rechne ich mich selbst». Dann fragte er mich nach üblen Nichtjuden und ich gab ihm die gleiche Antwort. «Also gut, Madame, was bleibt dann übrig? Nichts als menschliche Wesen». Das ist dann auch überall meine Erfahrung gewesen. Welcher Rasse oder Nation wir auch angehören mögen, im Grund sind wir alle gleich. Wir haben dieselben Fehler und Gebrechen, dieselben Antriebe und Bestrebungen, dieselben Ziele und Wünsche, und ich glaube, wir sollten diese Tatsache viel klarer und praktischer im Bewusstsein behalten.

Wir müssen uns auch von dem Eindruck freimachen, den die Geschichte und ihr verknöchernder Nationalismus bei uns hinterlassen hat. Die geschichtliche Vergangenheit einer jeden Nation ist ein trauriges Kapitel, aber sie bestimmt unser Denken. Grosse nationale Gedankenformen beherrschen das Verhalten jeder Nation, und davon müssen wir uns freimachen. Das lässt sich leicht erkennen, wenn wir einige der führenden Nationen und ihre Charaktermerkmale betrachten. Nehmen wir zum Beispiel die Vereinigten Staaten. Die Pilgerväter haben diesem Land ihren Stempel aufgedrückt, aber ich selbst neige zur Ansicht einer Freundin, die einmal die Bemerkung machte, dass die wirklichen Gründer Amerikas die tapferen Pilgermütter gewesen seien, denn sie brachten es fertig, mit den Pilgervätern auszukommen, denn die Vereinigten Staaten haben eine weibliche Zivilisation. Die Pilgerväter müssen sehr engstirnige, hartgesottene und eingebildete Menschen gewesen sein, mit denen man nur schwer auskommen konnte, denn sie hatten immer recht.

Die vorsichtige Zurückhaltung und das Überlegenheitsgefühl ist etwas, wovon sich die Briten freimachen müssen; und die Franzosen müssen sich ihre Überzeugung abgewöhnen, dass die Grösse und der Ruhm, die Frankreich im Mittelalter zur führenden Nation gemacht hatten, zum Wohl des heutigen Europas unbedingt wiederhergestellt werden sollten. Jede Nation hat ihre hervorstechenden Fehler, und die anderen Völker bemerken eher diese Fehler als die Vorzüge. Die lebendige Kraft Amerikas wird im Ärger über seine bombastische Grosssprecherei vergessen. Der dem Briten angeborene Gerechtigkeitssinn wird leicht übersehen, wenn er es ablehnt, sich selbst zu erklären. Der Glanz des französischen Intellekts findet keine Fürsprecher bei denen, die sehr wohl Frankreichs vollkommenen Mangel an internationalem Bewusstsein bemerken. Und die Vereinigten Staaten - mit ihrem jugendlichen Übermut, ihrer vielversprechenden Selbstsicherheit und ihrer typisch jungenhaften Überzeugung, zur Lösung aller eigenen und aller Weltprobleme fähig zu sein - stehen heute vor der Aufgabe, ihr nationales Erbgut im Sinn einer Zukunft zu entfalten, die uns erstaunliche Wunder, einzigartige Dienstleistungen und Schönheit ohnegleichen verspricht.

Die gleiche Kritik und die gleiche Anerkennung vorhandener Tugenden liesse sich auf jede einzelne andere Nation und in gleichem Mass auf einzelne Menschen anwenden. Wir alle haben auffallende Fehler, die so laut in die Welt hineinschreien, dass unsere ebenso hervorragenden guten Eigenschaften in Vergessenheit geraten. Was mich bei dieser Beschreibung meines Lebens am Anfang besonders beunruhigte, war die Befürchtung, dass ich mich dabei - wenn auch unbewusst und ohne Absicht - vielleicht zu gut herausstreichen könnte. Ich habe meine guten Seiten; ich lasse mich nicht von meinem Vorhaben abbringen; ich liebe wirklich meine Mitmenschen; ich bin durchaus nicht stolz. Es wird mir nachgesagt, dass ich stolz sei, aber ich denke, das liegt in der Hauptsache an meiner Körperhaltung. Ich gehe sehr gerade und halte meinen Kopf hoch, aber das würde jeder andere ebenso machen, wenn er als Kind im Klassenzimmer dazu gezwungen worden wäre, beim Unterricht drei Bücher auf dem Kopf zu balancieren und einen kleinen Stechpalmenzweig unter dem Kinn zu haben. Ich glaube nicht, dass ich eine selbstsüchtige Person bin, ich mache mir wegen meiner Gesundheit nicht viel Gedanken und ich darf wohl ehrlich sagen, dass ich mich nicht gern selbst bemitleide. Ich bin von Haus aus konservativ und war früher einmal sehr kritisch eingestellt, aber das bin ich eigentlich nicht mehr, denn ich kann instinktiv verstehen, warum sich der einzelne so geben muss, wie er eben ist; und die Fehler, die er haben mag, ändern keineswegs meine Haltung ihm gegenüber. Ich trage nichts nach, vielleicht hauptsächlich deshalb, weil ich keine Zeit habe, mich damit abzugeben und weil ich keine eiternde Giftbeule in meinem Denken haben will. Ich weiss bestimmt, dass ich reizbar bin und dass es nicht leicht ist, mit mir zu leben, weil ich mich selbst und jeden anderen, der mit mir zu tun hat, fortwährend antreibe; aber mein grösster Fehler, der mir mein ganzes Leben lang am meisten zu schaffen machte, ist Furcht.

Ich erwähne das in vollster Absicht, denn ich habe festgestellt, dass meine Freunde und Schüler immer sehr erleichtert und befriedigt sind, wenn sie herausfinden, dass ich mein Leben lang unter Furcht zu leiden hatte. Ich habe Angst gehabt, ich könnte versagen, Angst vor meinen Fehlern, Angst davor, was andere über mich denken könnten, Angst vor der Dunkelheit und Angst vor den Leuten, die mich anhimmeln. Ich habe es stets als Nachteil empfunden, wenn man auf den Sockel gestellt wird, und die Leute zu einem aufschauen. Ich stimme mit dem chinesischen Sprichwort überein: «Wer auf einem Sockel steht, kann nirgends mehr hin, ausser hinunter». Ich bin von der Haltung eines durchschnittlichen Gruppenleiters oder okkulten Lehrers und vieler Priester und Geistlichen sehr unangenehm berührt. Sie stellen sich so hin, als wären sie wirklich die Gesalbten des Herrn, als unterschieden sie sich von anderen Leuten, anstatt bloss Menschen zu sein, die ganz einfach ihren Mitmenschen zu helfen versuchen. Aufgrund meiner Herkunft und Erziehung hatte ich früher grosse Angst vor der Meinung der Leute. Jetzt mache ich mir nichts mehr daraus, weil ich festgestellt habe, dass man bei einem bestimmten Teil des Publikums in jedem Fall unrecht behält. Die meisten meiner Befürchtungen beziehen sich auf andere Menschen, - meinen Mann und meine Kinder - aber ich habe eine persönliche Furcht, der ich nie nachgebe, die mich aber stets umfängt, d.h. ich fürchte mich nachts vor der Dunkelheit, wenn ich allein im Haus oder in der Wohnung bin. Ich wusste nichts von dieser Furcht, bis ich im Soldatenheim Quetta tätig war. Ich habe meine drei Mädchen so erzogen, dass sie keine Angst vor der Dunkelheit haben; aber ich hatte damals ein Erlebnis, das bleibenden Eindruck hinterliess, und obwohl ich mich dadurch in meinem Handeln nicht habe beeinflussen lassen, habe ich seitdem immer dagegen ankämpfen müssen.

Meine Mitarbeiterin war schwer an Typhus erkrankt. Ich hatte sie durch die Krise hindurch gepflegt, und dann war sie in ein Krankenhaus gebracht worden, so dass ich in dem riesigen Soldatenheim allein blieb; und da ich sehr jung und sehr auf Anstand bedacht war, erlaubte ich es den beiden englischen Geschäftsführern (ehemaligen Soldaten) nicht, mit mir im gleichen Gebäude zu schlafen, da ich dachte, das würde zu Gerede und Klatsch führen. Jeden Abend, nachdem die Soldaten weg waren, geleitete mich also einer von den beiden auf mein Zimmer, etwa um halb zwölf, warf einen Blick in mein Badezimmer und meine Schränke, sah unter mein Bett und verschloss schliesslich alle Türen zu meinem Schlafzimmer. Ich hörte dann noch, wie er durch die übrigen Räume ging. Mein Zimmer hatte vier Türen, je eine zur Veranda, zu meinem Wohnzimmer, zum Schlafzimmer meiner Mitarbeiterin und zu meinem Badezimmer. Ich war nicht im geringsten beunruhigt, und die Durchsuchung meiner Wohnung war mehr eine Vorsichtsmassnahme des betreffenden Mannes. Mein Bett stand mitten im Zimmer, und die Pfosten steckten in tiefen Untersätzen wegen der Insekten. Damals schliefen wir in Indien stets mit einer brennenden Lampe im Zimmer.

Eines Morgens erwachte ich gegen zwei Uhr durch ein Geräusch im Wohnzimmer und sah gerade, wie jemand die Türklinke niederzudrücken versuchte. Glücklicherweise war die Tür abgeschlossen. Ich wusste, dass es keiner von den Geschäftsführern sein konnte, und ich konnte auch den Nachtwächter weder hören noch sehen, und so kam mir die Vermutung, dass es ein Eingeborener aus den Bergen oder ein Dieb sein müsste, der in den Geldschrank in meinem Wohnzimmer einzubrechen suchte, in dem jeden Abend Hunderte von Rupien verwahrt waren. Es war um die Jahreszeit, in der Angehörige der Gebirgsstämme ins Lager kommen durften. Alle Wachtposten waren verdoppelt, und alle Vorsichts-Massnahmen getroffen worden, denn es war damals in den Grenzgebieten allerhand los. Wenn es den Räubern gelingen würde, in mein Zimmer einzudringen, so wusste ich, dass ich erledigt war, denn sie betrachteten es als eine grosse Ehre. eine weisse Frau umzubringen. Es hätte für mich einen Messerstich ins Herz bedeutet. Fünfundvierzig Minuten lang sass ich in meinem Bett und sah zu, wie sie die sehr starken Türen niederzubrechen suchten. Sie wagten es nicht, auf die Veranda zu gehen, weil man sie dort hätte sehen können, und durch mein Badezimmer oder das andere Schlafzimmer zu mir zu kommen, erforderte in jeden Fall das Eindrücken zweier Türen, und der dadurch verursachte Lärm wäre zu gefährlich gewesen. Ich entdeckte dann, dass Furcht einen Höhepunkt erreichen kann, auf dem man so verzweifelt ist, dass man jedes Risiko auf sich nimmt. Ich ging quer durch mein Zimmer und öffnete die Tür, fand aber nur die beiden Geschäftsführer, die sich Gedanken darüber machten, ob ich tot oder lebendig sei und sich fragten, ob sie an die Tür klopfen und mich aufwecken sollten. Sie hatten in Zelten im Garten übernachtet und die beiden Eingeborenen festgenommen, aber dummerweise nicht daran gedacht, laut an meine Tür zu klopfen und mir zuzurufen, in welchem Fall ich keine Angst mehr gehabt hätte. Nach diesem Zwischenfall schlief mein Hausdiener, der alte Bugaloo, eine Zeitlang draussen auf der Veranda, wo ich ihn leicht rufen konnte.

Zwei oder drei Monate später ging ich in die Heimat zurück und verbrachte einige Wochen in einem alten schottischen Haus, in dem ich als Kind jedes Jahr zu Besuch gewesen war. Eine grosse Gesellschaft von ungefähr achtzehn Leuten wohnten zu der Zeit als Hausgäste dort, und der netteste Mann unter ihnen wanderte eines Abends aus Versehen in mein Zimmer, das neben seinem lag. Er hatte im unteren Stock lange gelesen, und beim Heraufkommen hatte der Wind seine Kerze ausgeblasen und gleichzeitig meine Tür aufgestossen. Er hatte seine Tür leicht zu finden gehofft, indem er mit der Hand an der Wand entlang tastete, da seine Tür neben meiner lag. Als er eine Tür offen fand, dachte er natürlich, es sei sein Ankleidezimmer. Inzwischen hatte mich der Wind aufgeweckt, ich war aus dem Bett gesprungen, um das Fenster zu schliessen und dabei prallte ich gegen ihn. Das ereignete sich so kurz nach meinem Erlebnis vor ein paar Monaten, dass es mir nicht gerade half, sondern den Grund zu einem Furchtzustand legte, den ich seitdem nie mehr überwinden konnte.

Ich wurde noch zwei andere Male in meinem Leben in schlimme Angst versetzt, als ich allein zu Hause war, und ich kann nicht behaupten, Mut zu haben; aber ich lasse mich dadurch in meinem Handeln nicht beeinflussen und bleibe allein, wenn es sein muss. Ich habe furchtbare Angst, dass meinen Mädchen etwas zustossen könnte, und da meine Einbildungskraft gern übertreibt, so weiss ich, dass ich einen grossen Teil meines Lebens in Sorge um Dinge verbrachte, die sich nie ereigneten.

Furcht ist eine grundlegende Charakterveranlagung der Menschheit. Jeder hat Angst und jeder hat etwas, was er mit Vorliebe befürchtet. Wenn mir jemand sagt, dass er niemals Angst hat, dann weiss ich, dass er lügt. Furcht ist nichts Beschämendes, und je höher entwickelt ein Mensch ist und je feinfühliger er wird, um so häufiger wird er auf beängstigende Gefühle reagieren. Abgesehen von den eigenen Lieblingsbefürchtungen schalten sich feinempfindliche Menschen auch sehr leicht auf Angstzustände, Gemütsdepressionen und Schreckenserlebnisse ihrer Mitmenschen ein. Sie machen sich also Ängste zu eigen, die ihnen gar nicht gehören, die sie aber von den ihnen selbst innewohnenden Befürchtungen nicht zu unterscheiden wissen. Das ist gerade heutzutage in erschreckendem Mass der Fall. Furcht und Schrecken beherrschen die Welt, und die Menschen lassen sich leicht von Furcht überwältigen. Krieg erregt Furcht. Deutschland hat den Terror taktisch verwertet und sein Möglichstes getan, um den Schrecken der Welt zu steigern. Wir werden lange brauchen, bis wir die Furcht ausmerzen, aber wir machen einen Anfang damit, wenn wir über Sicherheit sprechen und darauf hinarbeiten.

Es gibt Denkschulen, die lehren, dass ängstliche Gedanken, denen man sich hingibt, das Befürchtete in konkrete Erscheinung bringen. Ich persönlich glaube kein Wort davon, denn ich habe mein Leben lang allerlei gefürchtet, was sich nie ereignete; und da ich eine ziemlich starke Denkkraft besitze, hätte bestimmt einiges davon in Erscheinung treten müssen, wenn das möglich gewesen wäre. Man könnte hier fragen, wie man am besten gegen Furcht ankämpfen sollte. Nun, ich kann bloss berichten, was mir selbst in dieser Hinsicht gelungen ist. Ich versuche überhaupt nicht, gegen Furcht anzugehen. Ich stelle mich auf den positiven Standpunkt, dass ich, wenn nötig, mich mit meinen Befürchtungen abfinden muss, und dann beachte ich sie einfach nicht weiter. Ich bekämpfe sie nicht; ich mache mir keine Vorwürfe darüber; ich nehme sie einfach als gegeben hin und gehe dann zur Tagesordnung über. Meiner Meinung nach sollte man lernen, bestehende Tatsachen mit grösserer Geduld hinzunehmen und nicht soviel Zeit darauf vergeuden, sich mit den eigenen Problemen herumzuschlagen. Anderer Leute Probleme sind viel einträglicher im Sinn einer Gelegenheit, behilflich zu sein. Wenn man sich darauf konzentriert, anderen zu dienen, dann lernt man eher, sich selbst zu vergessen.

Ich weiss auch gar nicht, warum ich keine Furcht haben sollte. Die ganze Welt ist voller Furcht, und warum sollte gerade ich von diesem Los der Allgemeinheit verschont bleiben. Das trifft auch auf viele andere Dinge zu. Die Dogmatiker, die den Leuten erzählen, dass sie, weil sie göttlich sind, keinerlei Trübsal, Krankheit oder Armut zu erdulden brauchten, führen das Publikum nur irre. Sie meinen es in den meisten Fällen natürlich ganz ehrlich, aber sie legen den Nachdruck auf die falsche Stelle. Sie verleiten die Leute zu dem Gedanken, dass materieller Wohlstand von grösster Bedeutung ist, dass sie darauf Anspruch haben und ihn auch erlangen werden, wenn sie einfach ihre Göttlichkeit bejahen - eine Göttlichkeit, die zwar vorhanden ist, zu deren praktischer Ausdrucksgebung es ihnen aber noch an eigener Entwicklung mangelt. Warum sollte ich verschont bleiben, wenn die ganze Welt leidet? Wer bin ich, dass ich reich sein sollte, da doch weder Armut noch Reichtum von wirklicher Bedeutung sind? Wer bin ich, dass ich mich vollkommener Gesundheit erfreuen sollte, wenn das derzeitige Schicksal der Menschheit etwas anderes im Sinn zu haben scheint? Wenn ich einmal im Verlauf der Evolution die mir innewohnende Göttlichkeit voll zum Ausdruck bringen kann, dann glaube ich bestimmt, dass ich auch eine vollkommene Gesundheit haben werde. Es wird mir nichts ausmachen, ob ich reich oder arm bin, und es wird mir auch gleich sein, ob ich bei anderen Persönlichkeiten beliebt bin oder nicht.

Ich erwähne das, weil diese Irrlehren im allgemeinen Bewusstsein stark um sich greifen und am Ende nur zu Enttäuschung führen. Es wird einmal eine Zeit kommen, in der wir von allen Gebrechen des Fleisches befreit sein werden, aber wenn es dazu kommt, werden wir uns vorher neue Wertmassstäbe zu eigen gemacht haben und unsere göttlichen Kräfte nicht länger dazu benutzen, um damit materielle Güter für uns selbst zu gewinnen. Alle guten Dinge werden denen zuteil, die vorbildlich leben, die freundlich und zugleich rücksichtsvoll sind. Harmlosigkeit (im geistig-positiven Sinn; Harmlosigkeit bedeutet hier die Geisteshaltung und das Bemühen, niemandem Unrecht oder Leid zuzufügen, niemanden zu verletzen oder zu benachteiligen) ist aber der Schlüssel, und ich überlasse es dem einzelnen Leser, herauszufinden, wie schwierig es ist, in Wort und Tat und Gedanken harmlos zu sein.

Das Leben in Hollywood gestaltete sich jetzt etwas leichter für mich. Die Kinder waren alt genug, um zur Schule bzw. in den Kindergarten zu gehen. Ich hatte viele Freunde. Das Gelände von Krotona, dem Theosophischen Hauptbüro, war wunderhübsch angelegt. Krotona war eine Gemeinschaft von etwa fünfhundert Leuten, von denen einige auf dem Gelände selbst, und andere in Hollywood oder Los Angeles wohnten. Es gab Hörsäle, Klassenräume, einen Andachtsraum für die Mitglieder der Esoterischen Sektion und eine sogenannte Cafeteria, d.h. ein Kasino mit Selbstbedienung. Alles war wunderbar organisiert, und als ich zum ersten Mal dorthin kam, erschien mir der Platz wie ein Paradies auf Erden. Es schienen mir alle tief geistige Menschen zu sein. Ich dachte, die Leiter und Lehrer wären zumindest Eingeweihte hohen Grades. Ich beteiligte mich an Versammlungen und am Klassenunterricht und lernte mancherlei, wofür ich sehr dankbar bin.

Nach kurzer Zeit bot man mir die Verwaltung des Kasinos an, und in meinem gesegneten Unverstand übernahm ich diese Verantwortung mit Freuden. Die Verpflegung war natürlich rein vegetarisch, und ich selbst war Vegetarier geworden, seitdem ich mit der theosophischen Lehre in Berührung gekommen war. Meine Kinder wussten nicht, wie Fisch oder Fleisch schmeckt, und ich selbst litt unter dem üblichen Überlegenheitskomplex, der für viele Vegetarier so bezeichnend ist.

Ich bin überzeugt, dass es für alle Jünger eine Lebensphase gibt, in der sie Vegetarier sein müssen. In gleicher Weise muss einmal ein Leben kommen, in dem ein Mann oder eine Frau sich der Ehe enthalten sollte. Das ist notwendig, um zu beweisen, dass sie ihre physische Natur zu beherrschen gelernt haben. Wenn sie einmal diese Selbstbeherrschung erlernt haben und sich nicht mehr von den Gelüsten des Fleisches beeinflussen lassen, dann können sie heiraten oder unverheiratet bleiben, Fleisch essen oder auch nicht, je nachdem, wie es ihnen beliebt und wie es ihr Karma bestimmt oder die äusseren Umstände angezeigt erscheinen lassen. Ist der Beweis einmal geliefert, dann ändert sich eben die Lage. Die körperlichen Disziplinen sind eine Phase der Schulung, und wenn die Lektion gelernt wurde, dann sind sie nicht mehr notwendig.

Die Behauptung, man müsse vegetarisch leben, weil das Verzehren von Tieren grausam sei, lässt sich vielleicht doch nicht so gut begründen, wie rein gefühlsmässige und sentimentale Leute denken mögen. Ich habe mir darüber viel Gedanken gemacht, weil ich Tiere liebe. Hierzu möchte ich zwei Hinweise geben, die mir selbst geholfen haben. Es gibt ein Gesetz des Opfers, dem der gesamte Evolutionsvorgang unterliegt. Das Pflanzenreich zieht seine Nahrung aus dem Mineralreich, denn es wurzelt darin. Das Tierreich entnimmt seine Nahrung zum grössten Teil der Pflanzenwelt und erhält sich auf Kosten dieses Naturreiches. Einige höherentwickelte Tierarten sind Fleischfresser und leben gemäss dem Evolutiosgesetz von anderen Tieren, aber sie werden dazu nicht durch menschliches Denken ermuntert, wie manche Fanatiker behaupten. Demzufolge liesse sich also vom Menschen erwarten, dass er seine Nahrung dem Tierreich entnimmt, und da er ausserdem der Makrokosmos für alle drei niederen Naturreiche ist, so sollte er normalerweise seine Lebenskraft aus allen dreien schöpfen; und das tut er ja auch. In den alten Schriften des Orients wird darauf hingewiesen, dass das Menschenreich «die Speise der Götter» ist, und mit dieser Feststellung vervollständigt sich die «grosse Opferkette». Mein zweiter Standpunkt bezieht sich auf das Gesetz von Ursache und Wirkung oder das Gesetz vom Karma, wie die Theosophen es nennen. In grauer Vorzeit fiel der Urmensch dem Tierreich ziemlich wehrlos zum Opfer. Die wilden Tiere jener Zeit machten sich die Menschen zur Beute. In allen Naturreichen wirkt das Gesetz der Vergeltung. Möglicherweise liegt in diesem Gesetz einer der Gründe, weshalb die Menschheit zum Fleischessen neigt. So habe ich es mir wenigstens in meinem eigenen Bewusstsein im Lauf der Zeit ganz allmählich zurechtgelegt.

Ich leitete das Kasino, und wurde mit der Zeit eine gute, vegetarische Köchin. Meine erste Arbeit in Krotona war das Ausleeren der Abfalleimer, so dass ich mich also von ganz unten herauf einarbeitete, und ich beobachtete die Leute - die mir meistens ganz unbekannt waren - mit grossem Interesse. Sehr viele von ihnen hatte ich äusserst gern; einige waren mir gründlich zuwider. Ich kam zu zwei Schlussfolgerungen: Erstens, dass sie trotz allen Geredes über eine ausgeglichene Diät nicht gerade besonders gesund waren und zweitens, dass sie sich um so kritischer und überlegener benahmen, je fanatischer sie an vegetarische Kost glaubten. Es gab da Vegetarier in Krotona, die weder Käse noch Milch noch Eier essen wollten, weil das tierische Produkte waren; und dabei hielten sie sich für sehr gut und waren der Ansicht, auf dem Weg zu geistiger Erleuchtung weit voraus zu sein. Aber niemandes guter Ruf war vor ihnen sicher. Darüber habe ich oft nachgedacht und bin zur klaren Schlussfolgerung gekommen, dass es besser ist, Beefsteak zu essen und über andere freundlich zu sprechen, als streng vegetarisch zu leben und mit einem Gefühl der Überlegenheit auf diese Welt herabzusehen. Wiederum weiss ich natürlich, dass Verallgemeinerungen nie ganz zutreffen. Ich habe viele gute, liebenswürdige, angenehme und freundliche Vegetarier kennengelernt.

In diesem Jahr 1918 kam ich zum ersten Mal darauf, wer mich damals in Schottland aufgesucht hatte, als ich ein fünfzehnjähriges Mädchen war. Ich war in die Esoterische Sektion (E. S.) der Theosophischen Gesellschaft aufgenommen worden und nahm an ihren Sitzungen teil. Als ich zum ersten Mal den Andachtsraum betrat, sah ich die üblichen Bilder von Christus und den Meistern der Weisheit, wie die Theosophen sie nennen. Zu meiner Überraschung fand ich darunter das Bild meines Besuchers, der mir direkt ins Auge fiel. Es lag bestimmt kein Irrtum vor. Das war der Mann, der ins Wohnzimmer meiner Tante gekommen war, und es war nicht der Meister Jesus. In meiner Unerfahrenheit wandte ich mich sogleich an ein älteres Mitglied und erkundigte mich nach dem Namen des Meisters. Man sagte mir, es sei der Meister K. H., und dann beging ich einen grundsätzlichen Fehler, für den ich seitdem büssen musste. Ich dachte, die Anwesenden würden sich mit mir freuen, und ohne die geringste Absicht, irgendwie zu prahlen, sagte ich in aller Unschuld, «Oh, dann muss er mein Meister sein, denn ich habe mit ihm gesprochen und seitdem unter seiner Führung gestanden». Der Befragte sah mich nur an und sagte in ziemlich vernichtendem Ton: «Soll ich etwa daraus entnehmen, dass sie sich für eine Jüngerin halten?» Zum ersten Mal in meinem Leben war ich auf die Konkurrenztechnik der Theosophischen Gesellschaft gestossen. Immerhin war das für mich eine heilsame Lehre, und ich habe daraus Nutzen gezogen. Dass man seinen Mund halten lernt, ist ein wesentliches Erfordernis für die Gruppenarbeit und eine der ersten Lektionen, die jeder lernen muss, der mit der Hierarchie in Verbindung steht.

Inzwischen wuchsen meine Kinder auf, wurden verständiger und machten mir immer mehr Freude. Walter Evans schrieb mir nur hin und wieder ganz kurze Briefe, und es stand nichts darin, was auf eine Sinnesänderung schliessen liess. Ich beschäftigte mich daher erneut mit dem Gedanken an eine Ehescheidung. Als der Krieg seinem Ende nahte, konsultierte ich einen Rechtsanwalt und erfuhr von ihm, dass ich damit keinerlei Schwierigkeit haben würde.

Im Januar 1919 lernte ich Foster Bailey kennen, und als später meine Ehe geschieden worden war, verlobten wir uns; ich hatte die Ehescheidungsklage schon eingereicht, bevor ich ihn kennenlernte. Ich hatte schreckliche Angst vor der Gerichtsverhandlung, aber nichts konnte einfacher sein; dafür sorgte schon das vorhandene Beweismaterial und der gute Ruf meiner Zeugen. Eine alte, langjährige Freundin, Frau John Weatherhead, begleitete mich zum Gericht. Ich wurde vereidigt; der Richter stellte mir eine oder zwei Fragen über Wohnort und Alter der Kinder und dann sagte er bloss: «Ich habe die Aussagen ihrer Zeugen gelesen, Frau Evans, ich genehmige ihre Scheidung und die Obhut über ihre Kinder. Guten Morgen - der nächste Fall». So endete dieser Zyklus. Ich war frei und wusste, dass ich zum Besten der Kinder gehandelt hatte. Kalifornien ist einer der Staaten, in denen Ehescheidungen am schwersten zu erhalten sind, und die Schnelligkeit der Verhandlung bewies, dass meine Klage gerechtfertigt und mein Beweismaterial einwandfrei war. Walter Evans erhob keinen Einspruch.

Während des Jahres 1919 betätigten Foster Bailey und ich uns mehr und mehr am theosophischen Werk, und dabei arbeiteten wir sehr eng mit Dr. Woodruff Shepherd zusammen. Ich wohnte damals mit den drei Kindern am Beechwood Drive und Foster Bailey in einem Zelt in Krotona. Er war nach dem Waffenstillstand demobilisiert worden, hatte aber noch monatelang Genesungsurlaub, da er mit einem Flugzeug abgestürzt war; er hatte Beobachter ausgebildet. Er war mir nach einer Vorlesung, die ich in Krotona gehalten hatte, von Dorothy Weatherhead vorgestellt worden, die mich nicht nur mit ihm bekanntmachte, sondern mich auch in die okkulte Wahrheit und in Krotona einführte. Foster erinnert sich an dieses Bekanntwerden mit den Worten: «Alles was ich sah, war ein Schopf Haare und eine knochige Frauensperson!» Ich habe von jeher dichtes Haar gehabt. Es ist ein Familienerbe, und meine drei Mädchen haben ebenfalls sehr schönes, dichtes Haar. Ich werde nie eine Bemerkung meiner ältesten Tochter Dorothy vergessen (die für ihre doppelsinnigen Bemerkungen bekannt ist). Es war in England, ich hatte gerade mein Haar gewaschen und sass im Garten in Ospringe Place, Faversham, um es zu trocknen. Dorothy sah zum Fenster heraus und rief mir zu: «Oh Mutter, wenn du den Leuten immer nur den Rücken zukehren würdest, so dass sie nur dein schönes Haar sehen könnten, würden sie nie erraten, wie alt du bist!

Gegen Ende 1919 machte man Mr. Bailey zum Nationalen Sekretär der Theosophischen Gesellschaft. Dr. Shepherd wurde Propagandadirektor, und ich Schriftleiterin des theosophischen Magazins «Der Bote» (The Messenger) und Vorsitzende des Ausschusses, der die Verwaltung von Krotona leitete. Auf diese Weise lagen also alle Phasen der Bewegung und alle wichtigen Entscheidungen und prinzipiellen Verwaltungsfragen in unserer Hand. Der Generalsekretär, Mr. A. P. Warrington, war mit uns eng befreundet, und auch alle rangälteren Mitarbeiter waren gute Freunde; es herrschte scheinbar grösste Harmonie und ein Geist wirklicher Zusammenarbeit. Mit der Zeit entdeckten wir jedoch, wie oberflächlich diese Harmonie war. Unsere Zuneigung und persönliche Pflichttreue galt uneingeschränkt unseren Freunden und Mitdirektoren, aber unser Gerechtigkeitsgefühl und unser Glaube an gewisse Grundprinzipien wurden andauernd verletzt. Das lag in Wirklichkeit daran, dass die Leitung der Theosophischen Gesellschaft in den Vereinigten Staaten und in noch höherem Mass die des internationalen Zentrums in Adyar damals reaktionär und altmodisch war, während man doch erwarten durfte, dass neue Einstellungen zum Leben und zur Wahrheit, freie Meinungsäusserung und Unpersönlichkeit die Merkmale sein würden, die das Führungsprogramm und die Methoden bestimmen sollten. Das war aber nicht der Fall.

Die Gesellschaft war zum Zweck der Einführung einer Welt-Bruderschaft gegründet worden, entartete aber mit der Zeit in eine Sekte, die mehr an der Gründung und Unterhaltung von Logen und an der Erhöhung der Mitgliederzahl interessiert war, als an der Massenverbreitung der Wahrheiten der Ewigen Weisheit. Ihr Prinzip, niemanden in die E. S. zu geistiger Unterweisung zuzulassen, der nicht mindestens zwei Jahre lang Mitglied der T. G. gewesen war, beweist das. Warum sollte eine geistige Unterweisung jemandem erst dann zuteil werden, wenn er zwei Jahre lang seine Treue zu einer Organisation bewiesen hat? Warum soll man von den Leuten verlangen, dass sie ihre Verbindung zu anderen Gruppen und Organisationen lösen und sich dem sogenannten «Äusseren Leiter» der E. S. zu Treue verpflichten, wenn doch die einzigen Treueverpflichtungen, die verlangt werden sollten, der Dienst am Mitmenschen sowie die Treue der Geistigen Hierarchie und vor allem der eigenen Seele gegenüber sind? Keine Persönlichkeit hat das Recht, geistige Verpflichtungen von anderen Persönlichkeiten zu verlangen. Die einzige Verpflichtung, die ein Mensch eingehen sollte, ist vor allem die Treuepflicht gegenüber seiner eigenen inneren Göttlichkeit, der Seele, und später gegenüber dem Meister, unter dessen Führung er seinen Mitmenschen wirksamere Dienste leisten kann.

Ich erinnere mich noch, wie Miss Poutz, die ehemalige Sekretärin der E. S., bei einer der ersten Versammlungen, die ich mitmachte, die erstaunliche Behauptung aufstellte, dass niemand ein Jünger der Meister sein könne, der nicht von Frau Besant in diesem Sinn verständigt worden sei. Diese Bemerkung zerstörte eine Verblendung in mir, obwohl ich damals zu niemandem darüber sprach, ausser zu Foster Bailey. Ich wusste, dass ich eine Jüngerin des Meisters K. H. war und immer gewesen war, solange ich zurückdenken konnte. Anscheinend hatte Frau Besant mich übersehen. Ich konnte nicht verstehen, wieso die Meister, die doch ein angeblich allumfassendes Bewusstsein besassen, sich nur in den Reihen der T. G. nach Jüngern umsehen sollten. Ich wusste, dass das nicht so sein konnte und dass sie in ihrem Bewusstsein nicht derartig beschränkt sein konnten. Später lernte ich viele Leute kennen, die Jünger der Meister waren und die niemals mit der T. G. in Verbindung gestanden oder überhaupt von ihr gehört hatten. Als ich gerade dachte, ich hätte ein Zentrum geistigen Lichts und Verstehens gefunden, musste ich feststellen, dass ich lediglich in eine andere Sekte hineingeraten war.

Wir stellten damals fest, dass die E. S. die T. G. vollkommen beherrschte. Mitglieder wurden nur dann als vollwertig betrachtet, wenn sie die Autorität der E. S. anerkannten, wenn sie mit allen Verkündungen des Äusseren Leiters einig gingen und treu allen denen folgten, welche die leitenden Köpfe der E. S. in den verschiedenen Ländern sanktionierten. Einige ihrer Verkündungen schienen mir lächerlich zu sein. Viele der Leute, die anerkannt und gutgeheissen wurden, waren in höchstem Grad mittelmässig. Eine Anzahl von denen, zu welchen man als Eingeweihte aufblickte, waren nicht besonders intelligent oder liebevoll, und Liebe und Intelligenz in vollem Mass sind doch gerade das Merkmal des Eingeweihten. Unter den fortgeschrittenen Mitgliedern gab es Konkurrenz, einer wollte mehr sein als der andere; daher ergaben sich ständige Streitigkeiten zwischen Persönlichkeiten - Streitigkeiten, die sich nicht nur auf mündliche Auseinandersetzungen beschränkten, sondern auch in Magazinartikeln zum Ausdruck kamen. Ich werde nie mein Entsetzen vergessen, als mir eines Tages jemand in Los Angeles sagte, «wenn sie wissen wollen, was Bruderschaft ist, dann brauchen sie bloss nach Krotona zu gehen und dort zu leben». Er wusste nicht, dass ich dort, wohnte.

Die Gesamtlage war so ernst und die Spaltung in der Esoterischen Sektion, die doch für Bruderschaft, Unpersönlichkeit, Selbstlosigkeit und hingebungsvollen Dienst an der Menschheit eintreten sollte, so gross, dass Foster an Frau Besant kabelte, die E. S. würde sich ernsten Angriffen aussetzen, wenn sie nicht aufhörte, die T. G. zu beherrschen. Frau Besant sandte ungefähr um diese Zeit B. P. Wadia zu uns herüber, um zu untersuchen und festzustellen, was eigentlich los sei, und es kam zu offiziellen Sitzungen, bei denen Wadia zu vermitteln suchte. Foster, Dr. Shepherd und ich sowie viele andere, vertraten den demokratischen Standpunkt, während Mr. Warrington, Miss Poutz und ihre Freunde sich für Autorität und die Herrschaft der E. S. einsetzten. Ich war nie zuvor in einen derartigen Kampf innerhalb einer Organisation verwickelt gewesen und hatte bestimmt keine Freude daran. Ich hatte einige Menschen auf der Gegenseite persönlich sehr lieb und litt daher ausserordentlich. Die Meinungsverschiedenheiten verbreiteten sich mit der Zeit über die gesamte Sektion, und es schieden immer mehr Mitglieder aus.