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DRITTER VORTRAG

DRITTER VORTRAG

DIE EVOLUTION DER FORM ODER GRUPPENEVOLUTION

Heute möchte [53] ich die Grundidee der Einheit des Bewusstseins oder der Intelligenz behandeln, wie sie im letzten Vortrag vergangene Woche entwickelt wurde und das Konzept weiter ausführen. Wie es heisst, geschieht alle Evolution aus dem Homogenen, und durch das Heterogene wieder zurück zum Homogenen, und es wurde folgender Hinweis dazu gegeben:

«Evolution ist eine sich ständig beschleunigende Vorwärtsbewegung aller Teilchen im Universum, welche diese gleichzeitig auf einem von Zerstörung begleiteten Weg, doch ununterbrochen und pausenlos, vom materiellen Atom bis zum universalen Bewusstsein führt in welchem Allmacht und Allwissen verwirklicht werden: mit einem Wort, zur vollkommenen Verwirklichung des Absoluten Gottes.»

Dies vollzieht sich, ausgehend von jenen winzigen Mannigfaltigkeiten, die wir Moleküle und Atome nennen, bis hin zu ihrer Häufung im Aggregat, wenn sie zu Formen gefügt sind, und setzt sich fort durch Einfügen dieser Formen in grössere Formen, bis wir ein Sonnensystem in seiner Gesamtheit vor uns haben. Alles geschieht nach strenger Gesetzmässigkeit, denn das gleiche fundamentale Prinzip beherrscht die Evolution des Atoms wie die eines Sonnensystems. Der Makrokosmos wiederholt sich im Menschen, dem Mikrokosmos, und der Mikrokosmos reflektiert sich in allen geringeren Atomen.

Diese Vorbemerkungen, ebenso [54] wie der vorherige Vortrag, betreffen in erster Linie die materielle Manifestation eines Sonnensystems, während ich in unseren zukünftigen Gesprächen hauptsächlich das betonen möchte, was die psychische Evolution oder die stufenweise Demonstration und evolutive Entfaltung der subjektiven Intelligenz oder des Bewusstseins, den Hintergrund der objektiven Erscheinung, angeht.

Wir wollen auch diesen Vortrag wieder in vier Abschnitte aufgliedern: Zuerst betrachten wir das Thema des evolutiven Prozesses, der in diesem Fall die Evolution der Form oder der Gruppe ist; dann den Prozess der Gruppenentwicklung; als nächstes die während des evolutionären Zyklus aufeinanderfolgenden Stufen und werden schliesslich versuchen, ins Praktische zu gehen und aus unseren Schlussfolgerungen eine Lektion abzuleiten, die im täglichen Leben anwendbar ist.

Zunächst ist es notwendig, der Frage nachzugehen, was eine Form wirklich ist. Im Lexikon können wir folgende Definition finden: «Eine Form ist die äussere Gestalt oder Konfiguration eines Körpers.» In dieser Definition liegt die Betonung auf ihrem Äusserlich sein, ihrer Berührbarkeit und exoterischen Manifestation. Dieser Gedanke kommt uns auch beim Studium des Wortes «Manifestation» entgegen: Es stammt [55] aus zwei lateinischen Wörtern, die soviel heissen, wie «handhaben, mit der Hand berühren» (manus, die Hand; fendere, berühren), wodurch der dreifache Gedanke suggeriert wird, dass das Manifestierte das ist, was gespürt, kontaktiert und als berührbar erkannt werden kann. Und doch wird in diesen beiden Interpretationen der wichtigste Teil übersehen und wir müssen nach einer richtigeren Definition Ausschau halten. Für mein Gefühl vermittelt Plutarch die Idee der Manifestation des Subjektiven durch das Mittel der objektiven Form viel einleuchtender als das Lexikon, wenn er sagt:

«Eine Idee ist ein unkörperliches Wesen, das an sich keine Substanz besitzt, das aber gestaltloser Materie Gestalt und Form verleiht und zur Ursache von Manifestation wird.»

Hier haben Sie eine hochinteressante Aussage von wahrhaft okkulter Bedeutung. Sorgfältiges Studium und Betrachtung dieses Satzes wird sich lohnen, denn er stellt ein Konzept dar, das sich nicht nur auf jene kleinen Manifestationen, die Atome des Chemikers und Physikers bezieht, sondern diejenige aller Formen enthält welche das Atom zum eigenen Aufbau benutzt haben, einschliesslich der eines menschlichen Wesens und der Gottheit eines Sonnensystems, jenes allumfassenden Denkens und vibrierenden Energiezentrums, wie auch jener grossen, umfassenden Bewusstheit, Die wir Gott oder Kraft oder den Logos nennen - das Seiende, Welches sich selbst durch das Mittel des Sonnensystems zum Ausdruck bringt.

In der christlichen Bibel [56] wird der gleiche Gedanke von Paulus in einem Brief an die Kirche in Ephesos ausgesprochen. Im 2. Kapitel der Epistel an die Epheser sagt er: «Wir sind sein Kunstwerk.» Wörtlich ist die Übersetzung aus dem Griechischen «Wir sind sein "poema" oder Idee», und der Gedanke des Apostels ist dabei, dass durch das Mittel jedes Menschenlebens, oder in dem Aggregat der Leben, die ein Sonnensystem ausmachen, Gott durch die Form, wie immer diese beschaffen sein mag, eine Idee, ein spezifisches Konzept oder detailliertes Kunstwerk zum Vorschein bringt. Ein Mensch ist ein verkörperter Gedanke und dieses Konzept ist ja auch in der Definition des Plutarch latent enthalten. Wir bekommen darin zunächst die Vorstellung einer selbstbewussten Entität, müssen dann den Gedanken oder Zweck erkennen, den diese Entität auszudrücken sucht und schliesslich haben wir den Körper oder die Form als folgerichtiges Ergebnis.

Der Terminus «Logos» übersetzt als «das Wort», wird im Neuen Testament meist gebraucht, wenn von der Gottheit die Rede ist. Die hervorstechendste Stelle ist das erste Kapitel des Johannes-Evangeliums, das so beginnt: «Am Anfang war das Wort und das [57] Wort war bei Gott und das Wort war Gott.» Wir wollen einen Augenblick versuchen, dem Sinn des Ausdrucks Logos nachzugehen. Die wörtliche Übersetzung, «das Wort», ist definiert worden als «einem verborgenen Gedanken objektiven Ausdruck zu geben». Nimmt man ein beliebiges Substantiv oder ähnliches Wort und studiert dessen objektive Sinndeutung, so wird man finden, dass dem Denkbereich immer ein bestimmter Gedanke übermittelt wird, der den Zweck, das Vorhaben oder vielleicht ein abstraktes Konzept beinhaltet. Werden die gleichen methodischen Überlegungen einschliesslich der Idee der Gottheit oder des Logos weitergeführt, kann viel Licht über diese abstruse Frage der Manifestation Gottes, der zentralen Intelligenz, gewonnen werden und zwar mithilfe der materiellen Form, ob wir Ihn durch die winzige Form eines chemischen Atoms manifestiert sehen oder durch Seinen gigantischen physischen Körper, dem wir den Namen Sonnensystem gegeben haben.

Wir fanden in unserem Vortrag letzte Woche heraus, dass es etwas gibt, das allen Atomen zugesprochen werden kann und dem immer mehr Wissenschaftler dieses eine, unterscheidende Charakteristikum zuerkennen. Es wurde deutlich gemacht, dass die Atome Anzeichen von einer Seele aufweisen und eine rudimentäre Form von Intelligenz besitzen. Die Atome demonstrieren die Fähigkeit zur Unterscheidung, haben selektive Kraft und die Fähigkeit anzuziehen und abzustossen. Es mag kurios erscheinen, das Wort Intelligenz zum Beispiel in Verbindung mit einem Atom der Chemie zu gebrauchen; trotzdem verkörpert die Wurzelbedeutung dieses Wortes genau diesen Gedanken, denn es stammt aus den beiden lateinischen Worten «inter», zwischen [58] und «legere», wählen. Intelligenz ist also die Fähigkeit zu denken oder zu wählen, auszusondern und zu unterscheiden. Sie ist in Wirklichkeit dieses Abstrakte, Unerklärliche, dieses Etwas, das dem grossen Gesetz der Anziehung und Abstossung, einem der Grundgesetze aller Erscheinung, zugrundeliegt. Diese fundamentale Intelligenzfähigkeit ist ein Charakteristikum aller atomaren Materie, wie sie auch den Aufbau von Formen oder die Anhäufung von Atomen beherrscht.

Wir haben uns schon früher mit dem Atom per se (als solchem) beschäftigt, aber noch nicht damit, wie es zur Formbildung kommt oder zu jener Totalität von Formen, die wir ein Naturreich nennen. Wir haben über die essentielle Natur des Atoms und seine ursprünglich vorhandene charakteristische Eigenschaft der Intelligenz etwas nachgedacht und haben vor allem das betont, woraus all die verschiedenen Formen, so, wie wir sie kennen, erbaut sind - also alle Formen im Mineralreich, im Pflanzenreich, im Tierreich und im Menschenreich. In der Gesamtsumme aller Formen haben wir also die Totalität der «Natur», wie sie allgemein verstanden wird.

Lassen Sie uns jetzt diesen Gedanken von den individuellen Formen, die beim Aufbau jedes dieser vier Naturreiche mitwirken, weiter ausdehnen und sie als Erbauer jener noch grösseren Form, des Naturreichs selbst, sehen und so dieses Reich der Natur als bewusste Einheit erkennen, die ein homogenes Ganzes bildet. Auf diese Weise kann jedes Naturreich als eine Form angesehen werden, durch die sich ein Bewusstsein irgend einer Stufe oder eines Grades manifestieren kann. So bringt etwa das Aggregat der animalischen Formen jene grössere Form hervor, die wir als das Tierreich selbst bezeichnen und dieses hat wiederum seinen Platz innerhalb eines noch grösseren Körpers. Vielleicht sucht sich durch dieses Reich ein bewusstes Leben zum Ausdruck zu bringen, und durch die Summe der Naturreiche könnte ein noch grösseres subjektives Leben nach Manifestation streben.

In all [59] diesen Naturreichen - dem mineralischen, pflanzlichen, animalischen und menschlichen - sind, vorausgesetzt, dass die Grundlage unserer Gedankengänge richtig ist, wiederum drei Faktoren gegenwärtig: erstens, dass das ursprüngliche Atom selbst ein Lebewesen ist; zweitens, dass alle Formen aus einer Vielheit von Leben aufgebaut sind und dadurch ein kohärentes Ganzes verfügbar wird, durch das eine subjektive Wesenheit eine Absicht erwirkt; und drittens, dass das zentrale Leben innerhalb der Form ihr richtunggebender Impuls, die Quelle ihrer Energie, der Ursprung ihrer Aktivität und das ist, was die Form als Einheit zusammenhält.

Dieser Gedanke kann durchaus zum Beispiel im Zusammenhang mit dem Menschen durchdacht werden. Zum Zweck unseres Vortrags kann der Mensch als diese zentrale Energie, das Leben oder die Intelligenz definiert werden, welche sich durch eine materielle Manifestation oder Form auswirkt, die ihrerseits aus Myriaden [60] geringerer Leben aufgebaut ist. In diesem Zusammenhang ist ein merkwürdiges Phänomen während des Sterbevorgangs häufig beobachtet worden. Vor einigen Jahren wurde mir von einer der tüchtigsten Operationsschwestern in Indien folgendes erzählt. Sie war lange Zeit Atheistin gewesen, doch waren ihr Zweifel an ihrem Unglauben gekommen, nachdem sie mehrmals Zeugin dieses Phänomens geworden war. Sie berichtete, sie habe im Augenblick des Todes in mehreren Fällen aus dem Kopf des Sterbenden einen Lichtblitz hervorkommen sehen; und, in einem besonderen Fall (dem eines Mädchens von offenbar sehr fortgeschrittener spiritueller Entwicklung und grosser Reinheit, ja Heiligkeit im Leben) sei es gewesen, als sei der ganze Raum einen Augenblick elektrisch erleuchtet. Es wurden ferner unlängst führende Mitglieder eines Ärztegremiums einer grösseren Stadt im Mittelwesten von einem interessierten Forscher brieflich darum gebeten, ob sie gewillt wären, darüber Auskunft zu geben, ob sie im Augenblick des Todes ein spezifisches Phänomen wahrgenommen hätten. Einige antworteten, sie hätten gesehen, wie ein bläuliches Licht vom Schädeldach ausgegangen sei und ein oder zwei fügten noch hinzu, sie hätten auch noch eine Art von Schnappgeräusch in der Kopfregion gehört. Für das Letztere finden wir eine Erhärtung im «Prediger Salomonis», wo die Loslösung der «Silberschnur» oder das Zerbrechen des magnetischen Verbindungsgliedes erwähnt wird, das die innewohnende Wesenheit oder den Denker mit seinem Ausdrucksträger verbindet. In beider Art Fällen kann ein sichtbarer Beweis für das Zurückziehen des zentralen Lebenslichtes gesehen werden, die darauf erfolgende Desintegration der Form und der Zerstreuung der Myriaden geringerer Leben.

Es erscheint [61] daher manchen von uns als logisch fundierte Hypothese, dass, genau wie das Atom der Chemie eine winzige Sphäre oder Form mit positivem Kern ist, der um sich die negativen Elektronen in ständigem Umlauf hält, alle Formen in allen Naturreichen von ähnlicher Struktur sind und sich nur durch Grade des Bewusstseins oder der Intelligenz unterscheiden. Wir können deshalb die Naturreiche selbst als physischen Ausdruck irgendeines grossen subjektiven Wesens betrachten und bei logischem Weiterverfolgen zur Erkenntnis kommen, dass jede Einheit in der menschlichen Familie ein Atom im Körper jener grösseren Wesenheit ist, die in einigen Schriften als der «Himmlische Mensch» bezeichnet wurde. So gelangen wir schliesslich zu dem Konzept, dass auch das Sonnensystem nur die Summe aller Naturreiche und aller Formen ist und der Körper eines Wesens, Das Sich durch ihn zum Ausdruck bringt und das System dazu benutzt, um eine bestimmte Absicht und zentrale Idee zur Auswirkung zu bringen. In allen Erweiterungen unserer entscheidenden Hypothese lässt sich die gleiche Triplizität erkennen, ein zentrales informierendes Leben oder Wesen, das sich durch eine Form oder eine Vielzahl von Formen manifestiert und unterscheidungsfähige Intelligenz demonstriert.

Es ist nicht möglich, die Methode zu behandeln, durch welche die Formen gestaltet werden oder uns mit dem Thema des evolutionären Prozesses, mit dessen Hilfe Atome zu Formen zusammengefügt werden, noch weiter zu beschäftigen oder die Methode, wie die Formen selbst sich in jener grösseren Einheit sammeln, die wir ein Naturreich nennen, eingehender zu betrachten. Dies kann lediglich in drei Begriffe zusammengefasst werden:

Involution, oder die Verstrickung des subjektiven Lebens in die Materie, nämlich die Methode, durch welche die innewohnende Einheit ihren Ausdrucksträger an sich zieht; Evolution, das Benutzen der Form durch das subjektive Leben, dessen allmähliche Vervollkommnung und die endgültige Befreiung des eingeschlossenen Lebens; und das Gesetz von Anziehung und Abstossung, wodurch Materie und Geist koordiniert werden, das zentrale Leben Erfahrung sammelt, sein Bewusstsein erweitert und durch die Verwendung dieser spezifischen Form zu Selbst-Bewusstsein und Selbst-Beherrschung gelangt. Alles kommt unter diesem fundamentalen [62] Gesetz zustande. In jeglicher Form haben wir ein zentrales Leben oder eine Idee, die sich manifestiert, sich immer mehr in die Substanz verliert und sich je nach ihren Bedürfnissen in eine Form und Gestalt kleidet, dabei die Form als Ausdrucksmittel benützt und dann - nach einem angemessenen Zeitraum - sich selbst von der umgebenden Form befreit, um eine ihren Bedürfnissen angemessenere anzunehmen. So schreitet durch alle Formstufen hindurch der Geist oder das Leben weiter voran, bis der Pfad der Rückkehr durchschritten und der Ursprungspunkt erreicht ist. Das ist der Sinn der Evolution und hierin liegt das Geheimnis der kosmischen Inkarnation. Am Ende löst sich der Geist von der Form, erlangt Befreiung und hat dazu psychische Qualität und stufenweise Erweiterungen des Bewusstseins entwickelt. Diese [63] bestimmten Stadien können wir uns einmal kurz ansehen und oberflächlich betrachten. Da ist zuerst der Vorgang der Involution. Das ist die Periode, in der die Begrenzung des Lebens innerhalb der Form oder Hülle vor sich geht. Es ist ein langer, langsamer Prozess, der Millionen und Abermillionen von Jahren dauert. An diesem riesigen Zyklus ist jede Kategorie Leben beteiligt. Er betrifft das Leben des sich durch ein Sonnensystem manifestierenden Sonnenlogos. Er ist ein Teil des Lebenszyklus des planetarischen Geistes, der sich durch eine Sphäre wie unseren Planeten Erde manifestiert; er schliesst das Leben ein, das wir das menschliche nennen und fegt das winzige Leben, das durch ein Atom der Chemie funktioniert, in seine Energiebahn. Es ist der gewaltige Prozess des Werdens und das, was Existenz und das Dasein selbst möglich macht. Diese Periode der Begrenzung eines allmählich immer stärkeren Eingekerkertseins und immer tieferen Hinabsteigens in die Materie wird von einer Periode der Adaption oder Anpassung abgelöst, in der Leben und Form in engste Wechselbeziehung zueinander treten, gefolgt von einer Phase, in der diese innere Beziehung vollkommen wird. Die Form ist dann den Bedürfnissen des Lebens angepasst und kann benützt werden. Während dann das innere Leben wächst und sich ausdehnt, läuft parallel dazu die Kristallisation der Form, weil sie als Ausdrucksmittel nicht mehr genügt. Nach dieser Kristallisation folgt die Periode der Auflösung. Begrenzung, Anpassung, Benützung, Kristallisation und Auflösung - das sind die Stufen, die das Leben einer Entität oder verkörperten Idee höherer oder geringerer Ordnung ausmachen. die sich durch Materie auszudrücken sucht.

Lassen Sie [64] uns diesen Gedanken auf ein menschliches Wesen übertragen. Dort kann der Prozess der Begrenzung im Annehmen einer physischen Form gesehen werden und in den jungen, rebellischen Tagen, wenn er von Wünschen, Streben, Sehnsüchten und Idealen erfüllt ist, die er anscheinend weder ausdrücken noch befriedigen kann. Es folgt die Periode der Anpassung an die Umstände. Der Mensch beginnt sich damit einzurichten, was er hat und er versucht, sich so gut wie möglich durch das Mittel jener Myriaden geringerer Leben und Intelligenzen auszudrücken, welche seinen physischen, emotionalen und mentalen Körper ausmachen. Er erfüllt diese dreifältige Form mit Energie, zwingt sie, seine Wünsche und Absichten auszuführen und damit seinen Lebensplan zum Guten oder Schlechten durchzusetzen. Als nächstes folgt die Stufe, in der er die Form benützt, so gut er kann, und er erreicht das, was wir Reife nennen. Schliesslich, in den späteren Lebensstadien haben wir die Kristallisation der Form, und der Mensch merkt, dass sie nicht mehr genügt. Dann folgt die glückliche Befreiung, die wir den Tod nennen, jener grosse Augenblick, in dem der «Geist im Kerker» den ihn einschliessenden Mauern seiner körperlichen Form entschlüpft. Unsere Vorstellungen über den Tod sind mangelhaft und falsch gewesen; wir haben ihn als das grosse, letzte Schrecknis angesehen, während er in Wirklichkeit das grosse Entrinnen ist, der Eintritt in ein volleres Mass der Aktivität, und die Freisetzung des Lebens aus dem kristallisierten Ausdrucksträger und einer unzureichenden Form.

Ähnliche Gedanken [65] lassen sich auf alle Formen anwenden und nicht nur auf solche, die mit dem Körper eines menschlichen Wesens zusammenhängen; sie können auch auf Regierungsformen, Religionsformen und auf wissenschaftliche und philosophische Gedankenformen angewandt werden. In besonders interessanter Weise lässt sich beobachten, wie sie sich in dem Zyklus auswirken in dem wir leben. Alles ist in ständigem Fluss; die alte Ordnung wandelt sich und es hat eine Zeit des Übergangs begonnen - auf jedem Gebiet des menschlichen Denkens lösen sich die alten Formen auf, aber nur damit das Leben, das sie einmal ins Dasein rief, daraus entrinnen kann, um sich selbst das aufzubauen, was befriedigender und angemessener sein wird. Nehmen wir zum Beispiel die alten religiösen Formen des christlichen Glaubens. Hier möchte ich Sie aber warnen, mich nicht misszuverstehen. Ich will nicht versuchen, zu beweisen, dass der Geist des Christentums unangemessen und seine wohlbegründeten und erprobten Wahrheiten irrig seien. Ich will nur darauf hinweisen, dass die Form, durch die sich dieser Geist auszudrücken bestrebt ist, irgendwie ihre Aufgabe er (66) füllt hat und sich als Begrenzung erweist. Die gleichen alten Wahrheiten und dieselben Grundideen brauchen, um wirksam zu sein, einen angemesseneren Ausdrucksträger. Christliche Denker müssen in dieser Zeit sehr sorgfältig zwischen den lebendigen Wahrheiten des Christentums und der kristallisierten Form der Theologie unterscheiden. Der lebendige Impuls wurde durch Christus gegeben. Er verkündete diese grossen, ewigen Wahrheiten und sandte sie hinaus, damit sie Form annähmen und einer leidenden Welt Hilfe brächten. Sie wurden durch die Form begrenzt, und dann folgte ein langer Zeitraum, in dem diese Form (die religiösen Dogmen und Doktrinen) wuchs und allmählich Gestalt annahm. Jahrhunderte lang schienen Form und Leben einander angepasst zu sein und die christlichen Ideale konnten sich durch das Mittel dieser Form zum Ausdruck bringen. Nun hat die Periode der Kristallisation eingesetzt und das sich erweiternde christliche Bewusstsein empfindet die Begrenzung durch die Theologen als unangemessen und hemmend. Das dichte Gewebe der Dogmen und Doktrinen, das die Kirchenväter und Theologen der Jahrhunderte knüpften, muss sich unweigerlich auflösen, aber nur, damit das innere Leben entrinnen und sich selber ein besseres und befriedigenderes Ausdrucksmittel aufbauen und mit diesem der Mission gerecht werden kann, zu der es ausgesandt wurde.

In den Schulen der verschiedenen Denkrichtungen kann man überall das gleiche beobachten. Jede drückt mithilfe einer speziellen Form oder einer Reihe von Formen irgend eine Idee aus, und es ist sehr notwendig, dabei zu bedenken, dass das dreifache Leben, das sich hinter allen Formen verbirgt, trotzdem nur das eine Leben ist, obwohl die Ausdrucksträger unterschiedlich sind und sich im Lauf der Zeit immer als unzureichend erweisen.

Worin liegt [67] dann aber der Zweck hinter diesem endlosen Prozess des Formbildens und Zusammenfügens der geringeren Formen? Was ist der Grund für all das und was wird sich schliesslich als das Ziel herausstellen? Mit Sicherheit ist es die Entwicklung von Qualität, die Ausweitung des Bewusstseins, die Entwicklung einer Erkenntnisfähigkeit, das Hervorbringen der Kräfte der Psyche oder der Seele, die Evolution von Intelligenz. Sicher ist es die allmähliche Demonstration der Grundidee oder der Absicht, die Jene grosse Wesenheit, die wir den Logos oder Gott nennen, durch das Sonnensystem zur Auswirkung bringt. Es ist die Demonstration Seiner psychischen Qualität, denn Gott ist intelligente Liebe; und die Demonstration Seiner festgesetzten Absicht, denn Gott ist intelligenter, liebender Wille.

Auch für alle unterschiedlichen Stufen und Typen von Atomen gibt es ein Ziel und einen Zweck. So hat das Atom der Chemie ein Ziel; für das menschliche Atom gibt es einen Punkt der Vollendung, den Menschen; das planetarische Atom wird auch eines Tages seinen eigentlichen Zweck offenbaren und die grosse, dem Sonnensystem zugrundeliegende Idee wird einmal enthüllt werden. Könnten wir uns da einbilden, in ein paar flüchtigen Betrachtungen ein vernünftiges Konzept dafür zu finden, was diese Absicht sein mag? Allenfalls können wir eine gewisse allgemeine Vorstellung bekommen, wenn wir uns dem Gegenstand mit genügender Ehrfurcht und sensitiver Anschauungsweise nähern und uns dabei klar bewusst sind, dass nur die Unwissenden dogmatisieren und nur die Unweisen in Einzelheiten gehen, wenn über so ungeheure Themen gesprochen wird.

Wir haben [68] gesehen, dass beispielsweise das Atom der Chemie die Qualität Intelligenz demonstriert, denn es zeigt Symptome unterscheidungsfähigen Denkens und rudimentäre selektive Befähigung. Damit demonstriert dieses winzige Leben innerhalb der atomaren Form psychische Qualität. Sodann wird das Atom in unterschiedlichen Zeiten und Stadien in all die verschiedenen Formen eingebaut und jedesmal gewinnt es etwas dazu, gemäss der Kraft und dem Leben derjenigen Entität, welche diese Form beseelt, und bewahrt dabei seine Homogenität. Nehmen wir einmal das Atom, das zum Aufbau einer Form im Mineralreich gehört: es zeigt nicht nur unterscheidungsfähiges Denken, sondern auch Elastizität. Dann erscheinen im Pflanzenreich diese beiden Eigenschaften wieder, doch kommt eine dritte hinzu, die wir als Empfindung rudimentärer Art einstufen könnten. Die ursprüngliche Intelligenz des Atoms hat während des Übergangs von Form zu Form und von Naturreich zu Naturreich etwas dazugewonnen. Seine Reaktionsfähigkeit auf Kontakt und überhaupt seine Wahrnehmung haben sich erhöht.

Wenn [69] wir später die Evolution des Bewusstseins studieren, können wir mehr im Detail hierauf eingehen; heute will ich nur zeigen, dass im Pflanzenreich aus Atomen erbaute Formen nicht nur unterscheidungsfähige Intelligenz und Elastizität besitzen, sondern auch Empfindungsfähigkeit, also etwas, das im Pflanzenreich der Emotion oder dem Gefühl entspricht - der Emotion, die ja nichts weiter ist als rudimentäre Liebe. Dann folgt das Tierreich, in dem die animalischen Formen nicht nur alle eben genannten Eigenschaften besitzen, sondern in dem noch der Instinkt hinzukommt oder das, was eines Tages als Mentalität aufblühen wird. Das führt uns schliesslich zum menschlichen Wesen, dem alle diese Qualitäten in weit stärkerem Mass eigen sind, denn das vierte Naturreich ist nichts anderes als der Makrokosmos für die drei niederen Reiche. Der Mensch bringt intelligente Aktivität zum Ausdruck, er ist zu Emotion oder Liebe fähig und hat dem noch einen weiteren Faktor hinzugefügt, den des intelligenten Willens. Er ist die Gottheit seines eigenen kleinen Systems; er ist nicht nur bewusst, sondern ist sich sogar seiner selbst bewusst. Er baut seinen eigenen Manifestationskörper, genau wie es der Logos tut, nur in winzigem Massstab; er beherrscht sein kleines System durch das grosse Gesetz der Anziehung und Abstossung, wie es auch der Logos tut, erfüllt es mit Energie und synthetisiert seine dreifache Natur zu einer kohärenten Einheit. Er ist die Drei in Einem und der Eine in den Dreien, ebenso, wie der Logos.

Für jedes Atom gibt es im Sonnensystem eine Zukunft. Vor dem letzten Atom liegt ein gewaltiges Ziel und während die Äonen vorbeiziehen, wird das Leben, das dieses Atom beseelt, durch alle verschiedenen Naturreiche hindurchgegangen sein, bis es sein Ziel im Reich des Menschen findet.

Der Gedanke [70] könnte nun noch etwas erweitert werden, indem wir ihn auf jene grosse Wesenheit ausdehnen, Die das informierende Leben des Planeten ist und alle unterschiedlichen Reiche der Natur in Ihrem Bewusstsein hält. Könnte es nicht sein, dass diese Intelligenz, da sie doch die Totalität aller Gruppen und Naturreiche informiert, das Ziel für den Menschen, für das menschliche Atom wäre? Und dass vielleicht, während die Zeit fortschreitet, das Ausmass der gegenwärtigen Erkenntnis dieser Wesenheit auch zur unseren würde und für diese, wie für alle jene grossen Leben, Welche die Planeten des Sonnensystems beseelen, die Erreichung jener ungeheuren Bewusstseinsreichweite bevorsteht, die das gewaltige Wesen charakterisiert, Welches das informierende Leben des Sonnenlogos ist. Könnte es nicht zutreffen, dass es zwischen den verschiedenen Bewusstseinsgraden, die sich zum Beispiel vom Atom des Chemikers und Physikers bis hinauf zum Logos des Sonnensystems erstrecken, gar keine Lücken gibt und keine abrupten Übergänge, sondern dass immer nur eine allmähliche Ausdehnung und gradweise Evolution von einer Form intelligenter Manifestation zur nächsten stattfindet, und immer das Leben innerhalb der Form dabei an Qualität zunimmt, und zwar vermittels der Erfahrung.

Wenn wir diese Idee in unser Bewusstsein aufgenommen haben und uns klar geworden ist, dass allem eine Absicht und richtungweisende Führung zugrundeliegt, wenn wir erkennen, dass auch nicht das Geringste geschieht, das nicht dem bewussten Willen irgendeiner Entität entspringt, und schliesslich alles Geschehen einem bestimmten Ziel und Zweck dient, dann haben wir den Schlüssel zu uns selbst und zu allem gefunden, was rings um uns in der Welt vor sich geht. Wenn wir zum Beispiel erkennen, dass wir Aufbau und Pflege unserer physischen Körper selbst in der Hand haben, dass wir die Kontrolle über unsere Gefühlsnatur und die Verantwortung für die Entwicklung unserer Mentalität selbst tragen, [71] wenn wir weiter erkennen, dass wir selbst die energiespendenden Faktoren innerhalb unserer Körper sind und dass diese sich auflösen und zerfallen, wenn wir uns daraus zurückziehen, dann haben wir hier vielleicht den Schlüssel zu dem, was das unseren Planeten beseelende Leben tun mag, wenn es durch Formen jeglicher Art (Kontinente, Zivilisationen, Religionen und Organisationen) auf dieser Erde wirkt; was auf dem Mond vorgegangen sein kann, der nun eine in Auflösung begriffene Form ist, oder was im Sonnensystem geschehen wird, wenn sich der Logos aus dem zurückzieht, was für ihn nur eine temporäre Manifestation ist.

Lassen Sie uns jetzt diese Gedanken praktisch auswerten. Wir leben zurzeit in einer Periode, in der alle Gedankenformen zu zerbrechen scheinen, wo das religiöse Leben der Völker nicht mehr das ist, was es war und jede Art Dogma und Doktrin der Kritik ausgesetzt ist. Ebenso fallen viele alte Formen des wissenschaftlichen Denkens auseinander und die Grundmauern der alten Philosophien scheinen ins Wanken geraten. Unser Schicksal hat uns in eine der schwierigsten Perioden der Weltgeschichte gestellt, in eine Epoche des Zusammenbruchs von Nationen, der Zertrümmerung alter Beziehungen und Bindungen und der offensichtlich bevorstehenden Auflösung [72] der Zivilisation. Wir müssen uns jetzt durch die Erkenntnis ermutigen, dass das alles nur deshalb geschieht, weil das Leben innerhalb dieser Formen so stark wird, dass es sie als Kerker und Begrenzung empfindet; und wir müssen uns ins Gedächtnis rufen, dass diese Übergangsperiode die Zeit der grössten Verheissung ist, welche die Welt je gesehen hat. Darum gibt es keinen Anlass für Pessimismus und Verzagtheit, sondern nur für weitreichendsten Optimismus. Viele sind heute verstört und beunruhigt, weil die Fundamente zu wanken scheinen und die sorgfältig gehüteten, zärtlich geliebten Gebäude des religiösen Denkens und Glaubens und der philosophischen Erkenntnisse einzustürzen drohen. Aber unsere Ängste kommen nur daher, weil wir zu sehr von der Form eingenommen sind und zu sehr mit unserem «Kerker» beschäftigt waren; und wenn der Zerfall jetzt einsetzt, dann nur, damit das Leben sich selbst neue Formen errichten und sich dadurch entwickeln kann. Das Werk des Zerstörers ist ebenso das Werk Gottes wie das des Erbauers; und der grosse Zerstörergott muss die Formen zuerst zerschmettern und niederreissen, damit das Werk des Erbauers möglich wird und der Geist sich angemessener zum Ausdruck bringen kann.

Vielen [73] von Ihnen mögen diese Ideen neuartig, phantastisch und unhaltbar erscheinen. Doch selbst wenn sie nur Hypothesen sind, werden sie sich als interessant genug erweisen und uns einen möglichen Schlüssel zum Mysterium in die Hand geben. Wir sehen, wie Zivilisationen sich auflösen, wie die religiösen Gebäude brüchig werden, wir sehen, wie Philosophien erfolgreich angegriffen und die Fundamente der materialistischen Wissenschaft erschüttert werden. Doch, genau gesehen, was sind Zivilisationen? Was sind die Religionen? Was sind die grossen Rassen? Einfach Formen, vermittels derer das grosse, dreifältige zentrale Leben, Das unseren Planeten beseelt, sich auszudrücken sucht. Ebenso, wie wir uns durch das Mittel einer physischen, emotionalen und mentalen Natur ausdrücken, drückt Er Sich durch die Totalität der Naturreiche aus und durch die Völker, Rassen, Religionen, Wissenschaften und Philosophien, die zurzeit bestehen. Während Sein Leben durch jede Region Seines Seins pulsiert, folgen wir als Zellen und Atome innerhalb dieser grösseren Manifestation jedem Übergang und werden von einer Stufe zur nächsten mitgerissen. Während die Zeit fortschreitet und unser Bewusstsein sich ausdehnt, werden wir immer mehr in ein Wissen um Seinen Plan, wie Er ihn zur Auswirkung bringt, hineinwachsen und schliesslich werden wir imstande sein, gemäss Seiner wesentlichen Absicht mit Ihm zusammenzuarbeiten.

Um [74] den zentralen Gedanken dieses Vortrags zusammenzufassen: Wir wollen versuchen uns darüber klar zu werden, dass es so etwas wie anorganische Materie gar nicht gibt, sondern dass jedes Atom ein Lebewesen ist. Wir wollen erkennen, dass alle Formen lebende Formen sind und dass jede nur der Ausdrucksträger irgendeiner innewohnenden Wesenheit ist. Wir wollen versuchen zu verstehen. dass dies gleicherweise auf die Aggregate aller Formen zutrifft. Damit haben wir den Schlüssel zu uns selbst und vielleicht den Schlüssel zum Mysterium des Sonnensystems.