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KAPITEL V - Teil 2

In diesem Zusammenhang erinnere ich mich sehr gut, wie ich einmal in einer kleinen Kirche in der Nähe unseres Büros in Tunbridge Wells am Abendmahl teilnehmen wollte. Ich ging zum Rektor und bat ihn um die Erlaubnis, denn England ist sehr klein, und meine Verwandten sind dort sehr bekannt. Der Rektor sagte, er müsse diese Erlaubnis erst beim Bischof einholen, und nachdem sie verweigert worden war, kam der Rektor wieder zu mir und erklärte, ich dürfe nicht zum Abendmahl gehen. Ich sah mir ihn eine Weile an und sagte dann: «Ich könnte aus Amerika hierher gekommen sein als eine leichtlebige Frau, die gerne Cocktails trinkt und Karten spielt und ein halbes Dutzend Liebhaber hat, und sie hätten mich doch zum Abendmahl zugelassen, bloss weil ich keine geschiedene Frau wäre. Vor zwanzig Jahren wurde ich mit voller Billigung des Bischofs und des Klerus seiner Diözese geschieden, weil ihnen die Tatsachen bekannt waren, aber ich darf nicht am Abendmahl teilnehmen - obwohl ich Christus zu dienen gesucht habe und das seit meinem fünfzehnten Lebensjahr». Irgend etwas stimmt da grundsätzlich nicht mit der Anglikanischen Kirche. Irgend etwas stimmt aber auch mit der hiesigen Episkopalkirche nicht, denn ein Bischof dieser Kirche erklärte mir einmal: «Sagen sie mir bloss nie, dass jemand geschieden ist, denn was ich nicht weiss, tut niemandem weh; aber wenn ich davon weiss, dann muss ich das Abendmahl verweigern». Dazu ist wohl jeder Kommentar überflüssig.

Wir befinden uns auf dem Weg zu einer Lösung des Sexualproblems. Wie sie sich gestalten wird, weiss ich nicht, aber ich vertraue auf die innere Gesundheit der Menschen und die Entfaltung göttlicher Absicht. Vielleicht liegt die Lösung in einer richtigen Schulerziehung und in der richtigen Einstellung der Eltern zu den in der Welt heranwachsenden Jungen und Mädchen. Die gegenwärtige Einstellung beruht auf Furcht, Unwissenheit und Zurückhaltung. Die Zeit muss kommen, in der Erzieher und Eltern die Tatsachen des Lebens und die richtigen Beziehungen zwischen den Geschlechtern offen mit der Jugend besprechen werden, und diese Zeit scheint bald zu kommen. Die jungen Leute sind innerlich gesund, aber ihre Unwissenheit bringt sie oft in Schwierigkeiten. Wenn sie die Tatsachen wüssten, - die brutalen, ungeschminkten Tatsachen - dann würden sie sich auch zu benehmen wissen. All dieses alberne Gerede von kleinen Blumen und Samenhülsen und Kindern, die der Storch bringt, und was es an sonstigen ähnlichen Annäherungsversuchen an das Sexualproblem gibt, ist eine Beleidigung der menschlichen Intelligenz; und unsere Jugend ist hochintelligent.

Ich persönlich würde es gern sehen, wenn man jeden Jungen und jedes Mädchen im Pubertätsalter zu einem verständnisvollen Arzt brächte, um von ihm die nackten Tatsachen zu erfahren. Ich möchte, dass man der jüngeren Generation Achtung für ihre Rolle als Eltern kommender Generationen einflösst, und ausserdem möchte ich, dass die heutigen Väter und Mütter im grossen ganzen ihren Kindern mehr Freiheit zur Bereinigung ihrer eigenen Probleme lassen sollten. Nach meiner Erfahrung kann man ihnen vertrauen, wenn sie Bescheid wissen. Das Durchschnittskind ist von Natur aus nicht verkommen und wird kein Risiko eingehen, wenn es darüber unterrichtet ist. Ich möchte, dass der Arzt das Sexualproblem im Gespräch mit den Jungen und Mädchen, die man zu diesem Zweck zu ihm bringt, unter dem Gesichtspunkt ihrer künftigen Elternschaft erörtert, auf die Gefahren eines zwanglosen Geschlechtsverkehrs hinweist und vor der Homosexualität warnt, die doch eine der grössten Gefahren sind, die der heutigen Jugend drohen. Wenn sie sich über die Tatsachen im klaren sind, dann kann man sich auf die jungen Leute verlassen, aber offen gestanden traue ich den Eltern nicht mehr, hauptsächlich deshalb, weil sie voller Furcht sind und ihren eigenen Kindern nicht trauen.

All das erwähne ich gewissermassen als Auftakt zu dem Mädchen-und-Jungen-Problem, dem ich selbst während der nächsten Jahre gegenüberstand. Ich habe drei wirklich reizende Töchter und die jugendlichen Verehrer begannen sich einzustellen. Im Büro sah ich den ganzen Tag über nichts als Leute, Leute, Leute und zu Hause gab es dann nichts als Jungen, Jungen, Jungen. Ich lernte auf diese Weise beide Gruppen verstehen und liebgewinnen. Ich achte und liebe die jüngere Generation und habe Vertrauen zu ihr.

Um diese Zeit zogen wir von Ridgefield Park nach Stamford, im Staat Connecticut. Einer unserer Freunde, Mr. Graham Phelps-Stokes, hatte ein leeres Haus am Long Island Sund und liess uns dort mehrere Jahre mietfrei wohnen. Es war weit geräumiger und netter als das Haus in Ridgefield Park, und ich persönlich fühlte mich dort äusserst wohl. Die Morgenstunden dort werden mir stets in Erinnerung bleiben. Im oberen Flügel des Hauses befand sich ein grosses Zimmer, oberhalb des Dienstmädchenquartiers im unteren Stock. Es hatte Fenster nach drei Seiten hin, und dort lebte und arbeitete ich. Graigie war bei uns, und es gab eine Unmenge Hausarbeit, die Mädchen waren inzwischen grösser geworden und konnten sich schon sehr nützlich machen. Foster und ich fuhren an Wochentagen meistens nach New York, da Graigie sich ja um die Mädchen kümmern konnte. Sie waren damals alle in ihren Zehnerjahren und waren so auffallend hübsch, dass wir es einfach für unmöglich hielten, sie in eine Volksschule zu schicken. Die Bevölkerung von Stamford bestand damals hauptsächlich aus Ausländern. Drei hübsche, blonde Mädel waren den durchschnittlichen Italienerjungen so unwiderstehlich, dass man ihnen überall nachlief. Ich wandte mich hilfesuchend an eine reiche Freundin, und sie zahlte das Schulgeld in der Low Hayward School. Das war eine sehr vornehme Privatschule für Mädchen, und sie besuchten sie täglich, solange wir in Stamford wohnten.

Ich kann mich nicht mehr an all die verschiedenen Jungen erinnern, die damals zu uns kamen. Zwei davon sind heute noch mit uns befreundet und besuchen uns gelegentlich, obwohl sie beide verheiratet sind und eigene Familien haben. Wenn sie hin und wieder mal kommen, dann besteht immer noch ein glückliches, tiefverwurzeltes Verhältnis zwischen uns, das, völlig zwanglos, es uns immer wieder möglich macht, die abgerissenen Fäden alter Freundschaft neu zu knüpfen, auch wenn wir uns inzwischen noch so lange nicht gesehen haben. Die anderen habe ich vergessen; sie kamen und gingen. Besonders erinnere ich mich noch an die Nächte, in denen ich wach blieb und durch meine drei Fenster nach Autolichtern ausspähte, die mir anzeigten, dass wieder einmal ein Junge ein Mädchen nach Hause brachte. Das ärgerte meine Töchter immer schrecklich, aber ich hatte stets das Gefühl, dass das psychologisch gut und richtig war. Mutter wusste jederzeit, wo ihre Mädels waren, wer sie ausgeführt hatte und wann sie nach Hause kamen, und ich habe meine Hartnäckigkeit in dieser Beziehung nie bereut. Allerdings bereute ich oft die Stunden meines verlorenen Nachtschlafes. Die drei Mädel gaben mir niemals einen wirklichen Grund zu Besorgnis oder zu Misstrauen; jetzt, wo sie alle verheiratet sind und ihr eigenes Leben führen, möchte ich die Gelegenheit benutzen, um ihnen zu sagen, wie nett, wie unverdorben, wie vernünftig und wie grundanständig sie waren.

So verflogen die Jahre. Von 1925 bis 1930 waren es Jahre der Anpassung, der Schwierigkeiten, der Freude und des Wachsens. Darüber lässt sich wenig berichten. Es waren eben gewöhnliche Jahre der Arbeit, in denen die Arkanschule gegründet und gefestigt wurde, die Bücher des Tibeters veröffentlicht wurden und in denen sich eine Gruppe von Männern und Frauen um uns scharte, die nicht nur unsere zuverlässigen Freunde waren und uns seither hilfreich zur Seite standen, sondern darüber hinaus dem Dienst an der Menschheit treu ergeben blieben.

Im Sommer verreisten wir selten, da das Haus am Sund lag und einen eigenen Badestrand hatte, und da die Kinder soviel schwimmen und Essmuscheln suchen konnten, wie sie nur wollten. Ich verstehe mich wirklich darauf, eine ausgezeichnete Muschelsuppe (clam chowder) zuzubereiten. Dank der Liebenswürdigkeit eines Freundes besassen wir ein Auto und konnten damit nach Belieben nach New York oder sonstwohin fahren. Fast jeden Sonntag stand unser Haus Freunden und Bekannten offen, und oft hatten wir 20 bis 30 Gäste. Wir mischten sie alle wie Kraut und Rüben durcheinander, ob jung oder alt, ob mit oder ohne sozialen Rang, und ich glaube, sie alle haben sich bei uns wohl gefühlt. Es gab Kuchen und Punsch, Tee und Kaffee, und ganz gleich wer es war, ein jeder musste «mitmachen», Geschirr waschen und das Wohnzimmer aufräumen, wenn der Tag vorbei war.

Wir hatten eine Katze und einen Hund, die einen sehr individuellen Charakter besassen. Der Hund war ein Polizeihund, Enkel von Rin Tin Tin und sehr wertvoll. Er sollte uns eigentlich bewachen und Landstreicher und Bummler verscheuchen, aber er war uns durchaus kein Schutz. Er liebte jeden Menschen und hiess jeden Bummler im Haus willkommen. Er war überzüchtet, viel zu empfindlich und überspannt und musste dauernd Beruhigungsmittel einnehmen, um seine Nerven in Schach zu halten. Es war auch keine Spur von Bösartigkeit an ihm, und wir alle liebten ihn. Niemand liebte die Katze, weil sie nur mich liebte. Es war ein riesiger und wirklich prächtiger Kater, den wir als ganz kleines Kätzchen irgendwo aufgefunden hatten. Er liess sich nur von mir füttern. Er weigerte sich, ins Haus zu kommen, wenn ich nicht unten war, und so baute ihm Foster eine Leiter vom Garten zu meinem Schlafzimmerfenster und schnitt ein Loch durch den Fliegendraht, so dass er in mein Zimmer schlüpfen konnte. Von diesem Augenblick an war er wunschlos glücklich, benutzte nie mehr eine Tür und flitzte einfach die Leiter hinauf und auf mein Bett.

Die Arbeit wuchs in diesen Jahren im gleichen Verhältnis wie die Schule. Mein Mann gründete damals die Zeitschrift «The Beacon»; sie entsprach einem wirklichen Bedürfnis, und das ist auch heute noch der Fall. Gewöhnlich veranstaltete ich sechs oder acht öffentliche Vorlesungen im Jahr, und da ich kein Eintrittsgeld verlangte, brachte ich es mit Leichtigkeit auf 1000 Zuhörer. Mit der Zeit stellten wir jedoch fest, dass eine grosse Zahl von denen, die da unsere Stühle mit Beschlag belegten, blosse Herumstreicher waren, «floaters», wie man sie in New York nennt. Sie gingen während jeder freien Vorlesung ein und aus, ohne sich überhaupt um das Thema zu kümmern, und sie zogen aus dem Vortrag niemals einen wirklichen Nutzen. Wir beschlossen deshalb schliesslich, zu meinen Vorlesungen Eintrittsgeld zu verlangen, auch wenn es nur 25 Cents waren. Die Zuhörerschaft sank sofort auf die Hälfte, und darüber waren wir sehr froh. Die, welche jetzt noch kamen, wollten wenigstens etwas hören und lernen, und es war der Mühe wert, sich mit ihnen zu unterhalten.

Ich habe immer gern Vorträge gehalten, und während der letzten zwanzig Jahre habe ich nicht gewusst, was es heisst, auf dem Podium nervös zu sein. Ich habe Menschen gern und vertraue ihnen, und eine Zuhörerschaft mutet mich einfach wie ein einzelner, netter Mensch an. Ich glaube wirklich, dass öffentliches Reden immer das war, was ich am liebsten tat; leider erlaubt es mir mein jetziger Gesundheitszustand nicht mehr, und es fehlt mir wirklich sehr. Da mein Arzt eher dagegen ist, und mein Mann sich schrecklich grosse Sorgen darüber macht, spreche ich heute nur mehr einmal im Jahr auf der Schulkonferenz.

Zu Beginn dieses Zeitabschnitts schloss ich eine Freundschaft, die mir, mit Ausnahme meiner Ehe mit Foster Bailey, über alles in der Welt ging. Die neue Freundin war die personifizierte Einfachheit, Freundlichkeit und Selbstlosigkeit, und sie brachte mehr Reichtum und Schönheit in mein Leben, als ich mir je hätte träumen lassen. Siebzehn lange Jahre hindurch gingen wir zusammen den geistigen Pfad. Ich widmete ihr all meine Freizeit und war andauernd in ihrem Haus. Wir erfreuten uns an den gleichen Dingen und die gleichen Werte und Ideen interessierten uns. Wir hatten keine Geheimnisse voreinander, und ich wusste genau, was sie von den Menschen und Umständen ihrer Umgebung hielt. Ich schmeichele mir mit dem Gedanken, dass sie in den letzten siebzehn Jahren ihres einsamen Lebens doch nicht ganz allein war. Sie zu verstehen, ihr eine Stütze zu sein und ihr Gelegenheit zu geben, sich bei mir ohne Furcht vor Weitererzählen auszusprechen, war die einzige Art, wie ich ihre grenzenlose Güte mir gegenüber vergelten konnte. Siebzehn Jahre lang, bis zu ihrem Tod im Jahr 1940, kleidete sie mich ein, und ich brauchte mir kein einziges Kleidungsstück selbst zu kaufen. Ich trage noch heute die Kleider, die sie mir gab. All meine Schmucksachen stammen von ihr. Ich brachte wunderschöne Spitzen und Schmucksachen mit, als ich in dieses Land kam, aber ich musste alles verkaufen, um unseren Lebensunterhalt zu bestreiten; und sie sorgte dafür, dass mir einiges davon ersetzt wurde. Sie schickte die Mädchen in die Privatschule und zahlte stets unsere Schiffskarten, wenn wir nach Europa und wieder zurückfuhren. Wir standen einander so nahe, dass sie automatisch Bescheid wusste, wenn ich krank war. Ich weiss noch, als ich vor einigen Jahren in England erkrankte, wie sie mir innerhalb weniger Stunden telegraphisch 500 engl. Pfund überwies, da sie wusste, wie es um mich stand, und dass ich das Geld vielleicht brauchen würde.

Unsere telepathische Verbindung war ausserordentlich stark und hat sogar nach ihrem Tod weiterbestanden. Wenn nach ihrem Dahinscheiden etwas in ihrer Familie passierte, besprach sie das telepathisch mit mir. Obwohl ich davon nichts wissen konnte, erfuhr ich später natürlich, worum es sich handelte, und ich stehe auch heute noch sehr oft mit ihr in Verbindung. Sie besass ein sehr tiefgründiges Wissen von der Ewigen Weisheit, aber sie hatte Furcht vor den Menschen; sie fürchtete, man könne sie missverstehen; sie fürchtete, dass die Leute sie nur um ihres Geldes willen schätzten, und sie fürchtete sich im Grund vor dem Leben selbst. Ich denke, ich habe ihr in dieser Hinsicht helfen können, denn sie achtete mein Urteil und fand, dass es sich häufig mit ihrem eigenen deckte. Ich war gewissermassen ihr Sicherheitsventil. Sie wusste, dass sie mir alles sagen konnte, ohne dass ich es weitererzählte. Selbst als sie im Sterben lag, dachte sie an mich, und wenige Tage vor ihrem Tod erhielt ich einen Brief von ihr, den ich kaum entziffern konnte, in dem sie mir über ihren Zustand berichtete. Der Brief wurde mir von einer dritten Person zugesandt. Eins von den Dingen, auf die ich mich bei meinem Übergang ins Jenseits freue, ist ein Wiedersehen mit ihr, denn sie hat mir versprochen, sich zu meinem Empfang einzustellen. Während ihres irdischen Daseins amüsierten wir uns und lachten über die gleichen Dinge; wir liebten auch die gleichen Farben Ich habe mich oft gefragt, was sich wohl in meiner Vergangenheit getan haben könnte, um in der Gegenwart solch eine Freundin zu verdienen.

Zweimal im Jahr ging sie in ein Geschäft und kaufte mir acht oder neun Kleider. Sie kannte genau meinen Geschmack und die Farben, die mir standen, und zweimal im Jahr ging ich dann nach Empfang dieser wunderschönen Sachen an meinen Schrank, um die gleiche Anzahl vorjähriger Kleider an persönliche Freundinnen zu schicken, von denen ich wusste, dass sie in Not waren. Ich halte nichts davon, dass man für sich selbst Sachen aufstapelt, denn ich weiss, was es heisst, gewisse Kleider oder Mäntel zu brauchen, die man sich nicht leisten kann. Die Armut unter Leuten der besseren Klasse, von denen man eine gewisse äussere Aufmachung erwartet, ist eine weit bitterere Erfahrung, als manche anderen Arten von Armut. Sie nehmen nicht gern Almosen an und können nicht betteln gehen, aber sie lassen sich unter Umständen von jemandem überreden, der ihnen beispielsweise schreibt, wie ich das in diesem Falle zu tun pflegte: «Ich habe gerade eine Menge neuer Kleider geschenkt bekommen, und ich kann unmöglich alles tragen, was ich habe. Ich würde mir unersättlich vorkommen, wenn ich alles für mich behielte; deshalb sende ich ihnen einige davon und es würde mich wirklich freuen, wenn sie diese annähmen». Die Freude, die der Besitz guter und passender Kleidung mit sich bringt, verdanke ich also nicht mir selbst, sondern ganz allein dieser Freundin.

Es wird mir schwer, über Leute, die mir am meisten bedeuten, so zu sprechen, wie ich das wirklich möchte. Das empfinde ich in diesem Fall, es trifft aber vor allem auf Foster Bailey, meinen Mann, zu. Wir haben uns das überlegt und sind zu dem Entschluss gekommen, dass ich das, was ich über ihn sagen möchte, unmöglich in dieser Autobiographie darlegen könnte.

Eine andere interessante Freundschaft entwickelte sich damals, und sie deutet auf bezeichnende Zusammenhänge, die sich wahrscheinlich nicht so sehr in diesem als im nächsten Leben auswirken dürften. In der Stadt New York gibt es einen sogenannten Adelsklub. Eines Tages lud mich ein Mitglied dieses Klubs dorthin ein, um den Grossfürsten Alexander sprechen zu hören. Er war ein Sohn eines früheren Zaren von Russland und Schwager des verstorbenen Zaren Nikolaus. Ich war hauptsächlich aus Neugierde hingegangen und fand einen Raum, der mit der Elite adliger und königlicher Persönlichkeiten überfüllt war, die sich damals in New York zusammengefunden hatten. Alle erhoben sich, als der Grossfürst erschien und sich in einem Sessel auf dem Podium niederliess. Als wir uns wieder gesetzt hatten, blickte er uns alle sehr ernst an und sagte: «Ich hoffe, sie werden vorübergehend vergessen können, dass ich Grossfürst bin, denn ich möchte mit ihnen über ihre Seelen sprechen». Ich richtete mich erstaunt und erfreut auf und sagte am Ende seiner Ansprache zu der neben mir sitzenden Freundin, Baronin -, «Wie gern möchte ich doch den Grossfürsten mit Leuten in diesem Land in Verbindung bringen, die sich nichts daraus machen, ob er Grossfürst ist oder nicht, sondern die ihn um seiner selbst und seiner Botschaft willen schätzen würden». Das war alles, und ich dachte auch nicht weiter daran.

Am nächsten Morgen klingelte in meinem Büro das Telefon, und eine Stimme sagte: «Seine Kaiserliche Hoheit würden sich freuen, wenn Frau Bailey sich um 11 Uhr im Ritz einstellen würde». Frau Bailey fand sich also um 11 im Ritz ein. In der Halle erwartete mich der Sekretär des Grossfürsten. Er setzte sich mit mir hin und sagte, indem er mich feierlich ansah: «Was wollen Sie eigentlich vom Grossfürsten, Frau Bailey?» «Gar nichts», antwortete ich mit erstauntem Blick, «ich habe keine Ahnung, warum ich hier bin». «Aber», sagte Herr Roumanoff, «der Grossfürst sagte mir, sie wollten ihn sehen». Darauf erklärte ich ihm, ich hätte keinerlei Schritte unternommen, um den Grossfürsten zu sehen und hätte keine Ahnung, was er von mir wolle. Ich erzählte ihm, dass ich die Ansprache des Grossfürsten am vorhergehenden Nachmittag mit angehört und nachher einer Freundin gegenüber den Wunsch geäussert hätte, ihn mit gewissen Leuten zusammenzubringen. Darauf führte mich Herr Romanoff nach oben in die Wohnung des Grossfürsten, und nachdem ich meinen Hofknicks gemacht und Platz genommen hatte, fragte er mich, was er für mich tun könne. Ich sagte «Nichts», und fuhr dann fort, ihm zu erklären, dass es in Amerika Leute gebe wie Frau du Pont Ortiz, die ebenso dächten wie er, die in reichen Häusern wohnten, aber selten Vorlesungen besuchten; ich hoffte, er wäre vielleicht gewillt, einige von ihnen kennenzulernen. Darauf versicherte er mir, er werde alles tun, was ich von ihm verlangte, und dann sagte er: «Jetzt wollen wir aber von ernsteren Dingen sprechen». Wir verbrachten ungefähr eine Stunde im Gespräch über geistige Dinge und über das Bedürfnis der Welt nach Liebe. Er hatte gerade damals ein Buch veröffentlicht mit dem Titel «Die Religion der Liebe», und es lag mir sehr daran, diesem Buch einen grösseren Leserkreis zu verschaffen.

Als ich wieder im Büro war, rief ich Alice Ortiz an und bat sie, nach New York zu kommen und im Ambassador Hotel ein Frühstück für den Grossfürsten Alexander zu arrangieren. Sie weigerte sich prompt. Ebenso prompt redete ich ihr zu, bis sie schliesslich einwilligte. Sie kam auch und gab die Frühstücksgesellschaft. Während des Essens wandte sich Herr Roumanoff zu mir und sagte: «Wer sind sie eigentlich, Frau Bailey? Wir können nichts über sie herausfinden». Ich versicherte ihm, dass mich das keineswegs überrasche, denn ich wäre niemand - bloss eine amerikanische Bürgerin englischer Herkunft. Er schüttelte den Kopf und war ganz verwundert; er sagte mir, der Grossfürst habe ihm erklärt, er wolle alles tun, was ich von ihm erwartete.

Das war der Anfang einer wirklichen Freundschaft, die bis zum Tod des Grossfürsten und darüber hinaus anhielt. Er traf sich regelmässig mit Foster und mir zu einem mehrtägigen Aufenthalt in Valmy; wir führten dort lange und interessante Gespräche. Was wir beide im Lauf dieser Freundschaft tief empfanden, war u.a. die Tatsache, dass wir unter der Haut alle gleich sind; ob nun von königlichem Geblüt oder von bescheidenster Herkunft, wir haben alle die gleichen Neigungen und Abneigungen, die gleichen Freuden und Leiden und denselben Drang, geistig vorwärtszukommen. Der Grossfürst war ein überzeugter Spiritist, und wir hatten in der Folge allerlei Unterhaltung dadurch, dass wir im grossen Empfangszimmer meiner Freundin Alice kleine Séancen abhielten.

Eines Nachmittags rief Herr Roumanoff meinen Mann an und fragte, ob wir an dem Abend nichts vorhätten, und wenn nicht, ob wir bereit wären, den Grossfürsten an zwei Plätze zu bringen, wo er sprechen sollte. Wir sagten gern zu und brachten ihn an seinen Bestimmungsort; nach seiner Ansprache retteten wir ihn vor Autogrammjägern. Auf der Rückfahrt zum Hotel wandte sich der Grossfürst plötzlich zu mir und sagte: «Frau Bailey, würde es ihnen etwas bedeuten, wenn ich ihnen sagte, dass auch ich den Tibeter kenne?» «Unbedingt», sagte ich, «es würde mir sogar sehr viel bedeuten». «Also gut», fuhr der Grossfürst fort, «sie verstehen wohl das Dreieck, sie, Foster und ich». Das war, glaube ich, das letzte Mal, dass wir ihn zu Gesicht bekamen. Er begab sich bald darauf nach dem Süden Frankreichs, und wir gingen nach England.

Ein paar Jahre später sass ich eines Morgens so gegen 6.30 Uhr lesend im Bett, als zu meinem Erstaunen der Grossfürst in dem dunkelblauen Hausgewand, das er so oft trug, ins Zimmer trat. Er sah mich an, lächelte, winkte mit der Hand und verschwand wieder. Ich ging zu Foster und sagte ihm, der Grossfürst sei gestorben. So war es denn auch. Am nächsten Tag las ich seinen Nachruf in der Zeitung. Bevor er Amerika verliess, hatte er mir sein Photo geschenkt, natürlich mit Widmung, und nach ungefähr einem Jahr verschwand es. Es war einfach nicht mehr zu finden, und da er nicht mehr am Leben war, bedauerte ich das besonders, ich war sicher, dass irgendein Autogrammjäger es mir gestohlen hatte. Als ich einige Jahre später in New York die dreiundvierzigste Strasse hinunterging, sah ich den Grossfürsten plötzlich auf mich zukommen. Er lächelte mir im Vorbeigehen zu, und als ich oben in meinem Büro ankam, da fand ich die verlorene Photografie auf meinem Schreibtisch liegen. Offenbar bestand auf geistiger Ebene ein enges Band zwischen dem Grossfürsten, Foster Bailey und mir. In einem späteren Leben werden wir erfahren, warum wir in diesem Leben zusammenkamen und Freundschaft sowie gegenseitiges Verstehen entwickelten.

Ein Leben darf nicht als Einzelvorgang, sondern es muss als eine Episode innerhalb einer Reihe von Leben angesehen werden. Was sich heute auswirkt, die Freunde und Familienmitglieder, mit denen wir verbunden sind sowie die Qualität, der Charakter und das Temperament, die wir heute aufweisen, all das ist lediglich die Gesamtsumme unserer Vergangenheit. Was wir im nächsten Leben sein werden ist das Ergebnis dessen, was wir in diesem Leben gewesen sind und getan haben.

Dies waren sehr ertragreiche Jahre. Die Schule war in ständigem Wachsen, und ich gewann innerlich ein Gefühl der Zuversicht und erkannte, dass ich das Werk gefunden hatte, von dem K. H. im Jahr 1895 zu mir gesprochen hatte. Die Lehren von der Wiedergeburt und vom Gesetz der Ursache und Wirkung hatten die Probleme gelöst, die mein Denken früher beunruhigt hatten. Die Hierarchie war mir bekannt. Man hatte mir den Vorzug gewährt, mit K. H. in Verbindung zu treten, wenn ich wollte, weil man sich jetzt darauf verlassen durfte, dass ich meine persönlichen Angelegenheiten aus seinem Ashram heraushalten würde; und meine Nützlichkeit in seinem Ashram und damit auch in der Welt hatte sich vergrössert. Die Bücher des Tibeters fanden immer mehr Anerkennung in der Welt. Ich hatte auch selber einige Bücher geschrieben, die guten Anklang fanden, und hatte sie hauptsächlich zum Beweis dessen geschrieben, dass man sogenannte psychische Arbeit leisten, wie ich für den Tibeter, und doch noch seinen eigenen Verstand behalten und ein intelligentes Menschenwesen sein kann. Durch die Bücher und durch die wachsende Mitgliederzahl in der Schule kamen Foster und ich mit immer mehr Leuten auf der ganzen Welt in Verbindung. Wir erhielten einen Strom von Briefen mit Anfragen, Gesuchen um Unterstützung oder mit Vorschlägen zur Gründung einer Gruppe in diesem oder jenem Land.

Ich habe seit jeher der Theorie beigestimmt, dass die tiefsten und im eigentlichsten Sinn esoterischen Wahrheiten der breiten Masse unbesorgt und mit lauter Stimme verkündet werden können und dass daraus unmöglich ein Schaden erwachsen könne, solange ein innerer geistiger Wahrnehmungsapparat noch fehlt. Dadurch würden Schweigegelübde ihre Bedeutung verlieren. Es gibt keine Geheimnisse. Es gibt nur die Darstellung der Wahrheit und deren verständnisvolles Erfassen. In der Gedankenwelt der Allgemeinheit besteht mancherlei Unklarheit über den Unterschied zwischen Esoterik und Magie. Magie ist eine Betätigungsart auf der physischen Ebene, wodurch Substanz und Materie, Energie und Kraft in Verbindung gebracht werden, um Erscheinungsformen zu erschaffen, durch welche das Leben zum Ausdruck kommen kann. Diese Betätigung ist gefährlich, weil sie es mit Elementarkräften zu tun hat, und selbst diejenigen, die reinen Herzens sind, brauchen Schutz dabei. Esoterik ist in Wirklichkeit die Wissenschaft von der Seele. Sie betrifft das lebendige, geistige, vitale Prinzip, das in jeder Erscheinungsform zu finden ist. Sie bewirkt eine Einheit sowohl in Zeit als auch im Raum. Sie motiviert und verwirklicht den grossen Plan vom Standpunkt des Aspiranten aus. Sie ist die Wissenschaft vom Pfad, unterweist den Menschen in den Methoden des kommenden Übermenschen und befähigt ihn damit, den Pfad der höheren Evolution zu beschreiten.

Das Pensum der Schule erweiterte sich allmählich. Wir haben uns von Anfang an auf kein starres Arbeitsprogramm festgelegt, um uns wechselnden Bedürfnissen jederzeit anpassen zu können; mit der Zeit gewannen wir einen Stab von geschulten Frauen und Männern, welche die Arbeit der Schüler überwachen konnten. Vor fünfzehn Jahren (1928) zogen wir in unsere gegenwärtigen Büros, und heute benutzen wir sowohl den 31. als auch den 32. Stock als Hauptgeschäftsstelle der Arkanschule, des Lucis Trust, der «Guter-Wille»-Bewegung und des Lucis Verlages. Nach kleinen Anfängen, mit ein paar Schülern, beschäftigen wir uns heute mit einer Anzahl von geistigen Projekten, die alle mit dem Dienst an der Menschheit zu tun haben, die ohne Gewinnzweck arbeiten, sich über die ganze Welt erstrecken, und die alle nur durch Beiträge der Studenten der Arkanschule ermöglicht werden.